TE Bvwg Erkenntnis 2018/3/1 W119 2141854-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.03.2018
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Entscheidungsdatum

01.03.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W119 2141854-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. 11. 2016, Zl. 1071461801 - 150587335, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 4. 10. 2017 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF und §§ 52, 55 FPG idgF als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 30. 5. 2015 in Österreich einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

Bei seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am gleichen Tag gab er an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei. Er spreche primär Dari und auch Paschtu und stamme aus Kandahar, wo er vier Jahre die Grundschule besucht habe. Er habe keine Berufsausbildung und habe zuletzt als Verkäufer gearbeitet. In Kandahar lebten seine Eltern, seine beiden Brüder und seine drei Schwestern. Sein Vater habe dort ein eigenes Handelsgeschäft. Eine seiner Tanten lebe in Dänemark. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass in seiner Nachbarschaft eine paschtunische Familie lebe und er mit der Tochter aus dieser Familie "befreundet" gewesen sei. Sie hätten einander öfter getroffen. "Dabei wurden wir von ihrem Vater erwischt". Dieser habe ihn dann mitnehmen und den Taliban übergeben wollen. Bei einer Rückkehr würde er den Taliban übergeben, welche ihn dann mit Sicherheit umbringen würden. Der Beschwerdeführer legte eine afghanische Geburtsurkunde vor.

Eine multifaktorielle Altersschätzung vom 25. 7. 2015 ergab das im Spruch genannte Geburtsdatum des Beschwerdeführers.

Dem Beschwerdeführer wurde bei einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) am 10. 9. 2015 das Ergebnis der multifaktoriellen Altersschätzung zur Kenntnis gebracht. Dazu gab er an, dass er laut seiner Tazkira XXXX Jahre alt sei.

Am 22. 3. 2016 wurde er erneut vor dem Bundesamt einvernommen. Dabei gab er an, dass er in Österreich weder Familienangehörige noch Verwandte habe. Er habe hier einige Freunde, mit denen er Fußball spiele. Er besuche einen Deutschkurs und sei nicht Mitglied in einem Verein. In Afghanistan habe er noch mehrere Onkel und Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei schiitischen Glaubens.

Als Fluchtgrund gab er an, dass er mit der in der Nachbarschaft lebenden Tochter eines Paschtunen, der den Taliban angehöre, eine sexuelle Beziehung gehabt habe. Diese sei entstanden, als sie sich immer wieder tagsüber bei seiner Familie aufgehalten habe, während ihre Mutter ihren Vater und Bruder im Gefängnis besucht habe. Auch sei er bei ihr zuhause gewesen. Einmal sei er Abends von ihr weggegangen und dabei von ihrem Vater und ihrem älteren Bruder gesehen worden, die zwischenzeitlich freigelassen worden und nach einem mehrwöchigen medizinischen Aufenthalt in Pakistan zurückgekehrt seien. Ungefähr zwei Wochen später sei das Mädchen zu ihm nach Hause gekommen und habe ihm mitgeteilt, dass sie sich ständig übergeben müsse. Zwei oder drei Tage später habe deren Vater ihn im elterlichen Haus aufsuchen wollen, jedoch nicht angetroffen, weil er noch im Geschäft seines Vaters gearbeitet habe. Seine Mutter habe ihn angerufen und gefragt, was vorgefallen sei und er habe ihr dann von der Beziehung erzählt. Daraufhin habe sie ihm gesagt, dass er zu einer Tante flüchten solle. Sein Vater habe in der Folge seine Reise nach Herat organisiert. Später habe er erfahren, dass der Vater des Mädchens und zwei andere Männer seinen Vater mitgenommen und geschlagen hätten, um zu erfahren, wo sich sein Sohn versteckt habe. Von Herat aus sei er nach Absprache mit seinem Vater in den Iran gebracht worden. Er habe Afghanistan aus Angst vor dem Vater des Mädchens verlassen. Dieser hätte ihn sicherlich umgebracht. Die Taliban seien Sunniten und Paschtunen und er sei Schiit. Sein Vater habe dem Vater des Mädchens eine Heirat vorgeschlagen. Dieser habe ihm jedoch gesagt, dass sein Sohn eine schlimme Tat begangen habe und er ihn umbringen werde. Da die Familie des Mädchens ein Foto von ihm gehabt habe, habe sein Vater nicht gewollt, dass er in Afghanistan bleibe. Die Taliban hätten überall Leute und würden ihn daher überall in Afghanistan finden. Befragt, aus welchem Grund er für die Taliban so wichtig wäre, dass sie im ganzen Land nach ihm suchen würden, gab er an, dass er die Regeln des Islam verletzt habe. Auch würden die Behörden ihn verhaften. Deshalb sei er auch nicht zur Polizei gegangen.

Auf den Vorhalt, dass er nach Österreich gekommen sei, um hier ein wirtschaftlich besseres Leben zu führen, erwiderte er, dass dies nicht zutreffe. Wirtschaftlich sei es ihm gut gegangen. In diesem Zusammenhang gab der Beschwerdeführer an anderer Stelle in der Einvernahme an, dass sie im Geschäft seines Vaters unter anderem Öl, Batterien, Filter und Benzin verkauft hätten.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 20. 11. 2016, Zahl: 1071461801 - 150587335, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt.

Begründend führte das Bundesamt zu Spruchpunkt I. aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers weder plausibel noch schlüssig nachvollziehbar seien. "Wahrheitsunterstellt scheint es sich hierbei vielmehr um reine Vermutungen Ihrerseits zu handeln. Zudem konnten Sie nicht plausibel beantworten, warum Ihnen tatsächlich nichts geschehen ist, wenn dies jemand (angeblich Angehöriger der Taliban) so wollen würde." Es sei ebenfalls nur eine Vermutung des Beschwerdeführers, dass man ihn in anderen Teilen Afghanistans gefunden hätte. Dies könne für Kabul ausgeschlossen werden. Denn der Beschwerdeführer sei keine exponierte Person. Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass den Berichten zur allgemeinen Lage in Afghanistan nicht zu entnehmen sei, dass ein Rückkehrer in eine Situation kommen könnte, die einer Bedrohungssituation gleichzuhalten wäre. Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig. Es könne daher nicht angenommen werden, dass er sich in Afghanistan keine neue Existenz aufbauen könnte. "Die Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs ist in Afghanistan ebenfalls gegeben." Zudem könne er auf die Unterstützung seiner Familienangehörigen in Afghanistan zurückgreifen. Die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer wurde im Wesentlichen mit seinem relativ kurzen Aufenthalt im Bundesgebiet und dem Umstand, dass er den größten Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht hat, begründet.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde gerügt, dass im Bescheid konkrete Feststellungen zur Lage von Personen, die vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hätten bzw. interethnische Beziehungen eingegangen seien, fehlten. Auch ziehe das Bundesamt Schlussfolgerungen zur aktuellen Situation in Afghanistan aus unvollständigen, teilweise veralteten Länderberichten, welche für die Begründung der abweisenden Entscheidung unzureichend seien.

Es wurde auf das Risikoprofil in den aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender hinsichtlich der Angehörigen religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet werde, dass sie gegen die Scharia verstoßen hätten, verwiesen. Da der Beschwerdeführer durch vorehelichen Geschlechtsverkehr gegen die Scharia verstoßen habe, entspreche er diesem Profil und es hätte ihm internationaler Schutz gewährt werden müssen. Es wurden zahlreiche Berichte zur Sicherheitslage in Afghanistan, und insbesondere in Kabul, aus dem Jahr 2016 vorgelegt und aus Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Jahr 2015 hinsichtlich der Sicherheitslage zitiert. Weiters wurde aus einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 13. 9. 2015 zur Situation von Rückkehrern in Afghanistan und zur sozioökonomischen und medizinischen Lage, zitiert.

Zudem wurde aus folgenden Anfragebeantwortungen zu Afghanistan zitiert:

"Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?), Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes [a-8230], 27. Dezember 2012"

"1) Wiederherstellung der Familienehre durch Ermordung des vorehelichen Sexualpartners bei der Volksgruppe der Tadschiken; 2) Schutz durch Sicherheitsdienste [a-7871], 9. Februar 2012"

"Konsequenzen von vorehelichem Geschlechtsverkehr für Männer [a-8093-3 (8096)], 10. August 2012"

Die angeführten Berichte (Anfragebeantwortungen) zeigten, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr eine ernste Verletzung der Familienehre darstelle, welche sowohl in familiären Kreisen als auch strafrechtlich geahndet werde. Da die Familie des Mädchens Paschtunen und Taliban seien "und sich den Tadschiken gegenüber erhaben fühlen", sei eine Heirat ausgeschlossen gewesen. Hätte das Bundesamt diese Berichte berücksichtigt, hätte es zum Schluss kommen müssen, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers im Einklang mit den aktuellen Länderberichten zu Afghanistan stehe und ihm im Falle einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe.

Der Beweiswürdigung des Bundesamtes, dass der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen habe können, warum ihm nichts geschehen sei, wenn der Vater des Mädchens ein Angehöriger der Taliban sei, wurde entgegengetreten, dass der Beschwerdeführer - wie von ihm angegeben - zufälligerweise nicht zuhause gewesen sei als der Vater des Mädchens ihn dort aufsuchen habe wollen. Seine Mutter habe ihn kontaktiert und zu seiner Tante geschickt, wodurch er fliehen habe können. Daher sei die Beweiswürdigung des Bundesamtes nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer habe ein detailliertes und nachvollziehbares Fluchtvorbringen, welches Deckung in den Länderberichten finde. Das Bundesamt lasse auch außer Acht, dass dem Vater des Mädchens als Anhänger der Taliban ein strukturiertes Netzwerk in ganz Afghanistan zur Verfügung stehe, das es ihm ermöglichen würde, den Beschwerdeführer zu finden. Die Behörde würdige die Bedrohung, welche von der Familie des Mädchens ausgehe, ungenügend. Der Vater des Beschwerdeführers sei bereits von Zuhause entführt und misshandelt worden, um an Informationen über den Aufenthaltsort seines Sohnes zu gelangen. Außerdem sei der Vater des Mädchens an ein Foto des Beschwerdeführers gekommen und könne dieses im Netzwerk der Taliban verbreiten, um ihn bei einer Rückkehr aufzuspüren. Die Taliban verfügten über operationelle Kapazitäten, Personen im ganzen Land zu verfolgen. Daher stehe dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Weiters drohe ihm aufgrund der prekären allgemeinen Sicherheitslage eine Verletzung seiner Rechte nach Art 2 und 3 EMRK. Er würde zudem in eine aussichtslose Lage geraten, weil er keine Berufsausbildung habe und nur Verwandte in seinem "Heimatdorf" lebten, in das er nicht zurückkehren könne.

Der Beschwerdeführer sei um seine Integration in Österreich sehr bemüht. Er besuche zwei Mal wöchentlich einen Deutschkurs und helfe im Quartier bei diversen Hausarbeiten mit. Eine Rückkehrentscheidung hätte dauerhaft für unzulässig erklärt werden müssen.

Mit der Beschwerde wurden eine Vollmacht des im Spruch genannten Vertreters und eine undatierte Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs auf Niveau A 1.1 vorgelegt.

Am 4. 10. 2017 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an der das Bundesamt als weitere Partei des Verfahrens entschuldigt nicht teilnahm. Der Beschwerdeführer gab an, dass er gesund sei und keine Hinderungsgründe für die mündliche Verhandlung vorlägen. Er stamme aus der XXXX Kandahar, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Dort habe er vier Jahre die Schule besucht. Anschließend habe er im Geschäft seines Vaters gearbeitet. In diesem seien XXXX verkauft worden. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Anschließend beantwortete der Beschwerdeführer Fragen der Richterin und des Sachverständigen zu seiner näheren Wohnumgebung in der XXXX Kandahar und zu seinem Wissen über diese Stadt. Seine Eltern hätten ein Haus mit drei Zimmern und er habe drei Schwestern und zwei Brüder. Seine beiden Brüder seien noch klein und lebten bei den Eltern. Zum Fluchtgrund befragt, wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen seine Angaben aus der Einvernahme vom 22. 3. 2016 vor dem Bundesamt über die sexuelle Beziehung zu einem Mädchen aus der Nachbarschaft, die einer paschtunischen Familie angehöre und von ihm offenbar schwanger geworden sei. In der Gasse, in der er gelebt habe, hätten vier tadschikische und ca. 15 paschtunische Familien gelebt. Der Vater des Mädchens sei, nachdem er und zwei andere Männer seinen Vater zusammengeschlagen hätten, in das Haus seiner Familie hineingegangen und habe sein Foto gefunden. Dieses habe er mitgenommen und gedroht, den Beschwerdeführer überall zu finden.

Er habe die Nachbarstochter zuhause kennengelernt, weil sie, immer wenn ihre Mutter den Vater und Bruder im Gefängnis besucht habe, zu ihnen gekommen sei, um nicht alleine zu sein. Der Vater und Bruder des Mädchens seien im Gefängnis gewesen, weil sie Erzählungen zufolge mit den Taliban zusammengearbeitet hätten. Der Beschwerdeführer habe zuletzt vor ca. zwei bis zweieinhalb Monaten mit seinem Vater gesprochen. Dieser lebe weiterhin in Kandahar. Befragt, was sein Vater über die Nachbarstochter erzählt habe, gab er an, dass sein Vater ihm nichts über sie erzählt habe. Er sei wütend auf ihn. Es gebe keine Beziehung mehr zwischen den beiden Familien. Die paschtunische Familie betrachte seine Familie eher als Feinde.

Befragt, ob er sich nicht nach dem Mädchen erkundigt habe, sie wäre schließlich die Mutter seines Kindes, gab der Beschwerdeführer an, dass er seine Mutter nach ihr gefragt habe. Seine Mutter habe jedoch nicht mit ihm darüber sprechen wollen, weil er etwas getan habe, was verboten sei. Das Haus seiner Eltern sei ca. 10 Meter vom Haus der Familie des Mädchens entfernt. Das Verhältnis seiner Eltern zur Familie des Mädchens sei nicht gut. Sein Vater arbeite von der Früh bis zum Abend und seine Brüder besuchten die Schule. Seine Schwestern seien unverheiratet und lebten ebenfalls bei den Eltern. Er könne jedoch nichts Genaueres zum Verhältnis der beiden Familien sagen, weil er nicht dort sei. Befragt, ob seine Familie versucht habe, das Problem durch eine Eheschließung zu lösen, gab er an, dass sein Vater angeboten habe, "im Gespräch mit den Älteren eine Lösung für dieses Problem zu finden. Sie hätten den Vorschlag jedoch nicht angenommen und seinen Vater zusammengeschlagen. Aufgrund der unterschiedlichen Glaubensrichtungen, Sunniten und Schiiten, sowie ethnischen Zugehörigkeiten, Paschtunen und Tadschiken, habe die Familie des Mädchens gesagt, dass es keinen Ausweg gebe.

Befragt, wie die Einvernahme vor dem Bundesamt gewesen sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er angegeben habe, sein Vater sei beim Eingang des Hauses zusammengeschlagen worden. Im Einvernahmeprotokoll sei jedoch festgehalten, dass sein Vater mitgenommen und zusammengeschlagen worden sei. Auch gebe es noch ein paar Kleinigkeiten im Protokoll, an die er sich nicht mehr erinnern könne. Er habe von diesen Fehlern erst bei der Vorbereitung auf die Verhandlung erfahren.

Der Sachverständige gab anschließend eine gutachterliche Stellungnahme ab, in der er die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Herkunft in Afghanistan bestätigte. Seine gutachterliche Stellungnahme zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und zur Sippenhaft wird im Anschluss an die den Feststellungen zur Situation in Afghanistan wiedergegeben.

Er habe keine Verwandten in Österreich, lebe hier jedoch seit mehr als sechs Monaten mit einer österreichischen Staatsangehörigen in einer Beziehung. Seit ungefähr eineinhalb Monaten seien sie verlobt. Sie hätten keinen gemeinsamen Wohnsitz, hätten jedoch die Absicht, einen solchen zu begründen. Er sei von seiner Partnerin finanziell nicht abhängig. Derzeit sei er nicht erwerbstätig. Er habe in Afghanistan bei seinem Vater im Geschäft gearbeitet. In Österreich habe er eine Lehre machen wollen, seine Deutschkenntnisse hätten jedoch dafür nicht ausgereicht. Er habe zu dieser Zeit nicht viel Geld gehabt, um die Deutschkurse zu finanzieren. Derzeit besuche er einen Deutschkurs. Auch habe er in der Autoindustrie in XXXX eine Arbeit gefunden. Mangels "Arbeitsgenehmigung" habe er nicht eingestellt werden können. Er besuche, abgesehen von einem Deutschkurs, keinen anderen Kurs und sei nicht Mitglied in einem Verein. Eine ehrenamtliche oder gemeinnützige Tätigkeit übe er nicht aus.

In der Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer und seiner Vertreterin die vorläufigen Sachverhaltsannahmen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Situation in Afghanistan in Auszügen übersetzt und zur Gänze übergeben und ihnen eine Frist von zwei Wochen zur Stellungnahme zu diesen sowie zur gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen gewährt.

Der Beschwerdeführer legte bei der Verhandlung zwei Deutschkursbesuchsbestätigungen auf Niveau A1 aus Mai und August 2017 und eine Bestätigung, dass er von Oktober 2015 bis Juli 2017 einmal wöchentlich Reinigungsarbeiten in einem Quartier der Caritas verrichtet habe, vor.

Am 18. 10. 2017 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme der Vertreterin des Beschwerdeführers ein. In dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Lage in Afghanistan, auch in Kabul, äußerst prekär sei. Die Taliban und andere regierungsfeindliche Gruppierungen seien weiterhin in der Lage, Gebiete zu erobern und zu halten. Dazu wurde auf eine Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums betreffend das ganze Land vom Oktober 2017 und auf einen Bericht von Amnesty International:

"Forced back to danger: Asylum seekers returned from Europe to Afghanistan [ASA 11/6866/2017]" vom Oktober 2017, in dem die Rechtsprechung zur innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan kritisiert wird, sowie auf Medienberichte zu diesem Bericht verwiesen. Zur Sicherheitslage wurde weiters unter anderem auf einen Bericht des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie: "Migration, Flucht und Sicherheit in Afghanistan: Perspektiven für Internationales Engagement 2017" verwiesen, dem zufolge die afghanischen Sicherheitskräfte kaum mehr als die Hälfte des nationalen Territoriums kontrollierten. Verwiesen wurde zudem im Wesentlichen auf die Anmerkungen von UNHCR vom Dezember 2016 zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des Deutschen Bundesministeriums des Innern und auf einen Artikel von Friederike Stahlmann aus dem Jahr 2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" in dem die Autorin zum Schluss kommt, dass selbst für alleinstehende, junge und gesunde Männer die Überlebensfähigkeit im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in Frage zu stellen sei. Einem Gutachten im Verfahren W127 2130973 zufolge könnten sich Rückkehrer außerhalb der Großstädte nicht niederlassen, weil sie kaum von der einheimischen Bevölkerung akzeptiert würden und Personen ohne geeignete Fachausbildung in Kabul kein menschenwürdiges Leben aufbauen.

Kritisiert wurde die jüngste Rechtsprechung des VwGH, in der er - abweichend vom Wortlaut des Art 8 Abs. 1 StatusRL und seiner früheren eigenen Judikatur (Begriff der Zumutbarkeit bzw. unionsrechtlich "Vernünftigkeit") - die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative ohne nähere Begründung auf die Frage beschränke, ob im in Frage kommenden Gebiet eine Verletzung des Art 3 EMRK drohe bzw. die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative zur Gänze unterlasse und (im Rahmen des subsidiären Schutzes) eine drohende Verletzung des Art 3 EMRK schlicht auf den gesamten Herkunftsstaat beziehe. In der Gleichsetzung der "Vernünftigkeit"/"Zumutbarkeit" einer innerstaatlichen Fluchtalternative mit der hohen Schwelle einer Art 3 EMRK-Verletzung vermöge die nationale Rechtslage den unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere Art 8 Abs. 1 StatusRL, wonach zusätzlich zum Fehlen eines ernsthaften Schadens am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative auch ,vernünftigerweise erwartet werden [können muss], dass [der Antragsteller] sich dort niederlässt', nicht zu entsprechen. Eine richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts müsse zum Ergebnis gelangen, dass die Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative über die Prüfung einer drohenden Art 3 EMRK (Art 4 GRC) Verletzung hinausgehe, und zwar insofern als vernünftigerweise erwartet werden können müsse, dass der Antragsteller sich dort niederlasse. Kandahar, die Heimatprovinz des Beschwerdeführers, zähle zu den volatilsten Regionen Afghanistans. Ein Großteil der Provinz stehe unter der Kontrolle der Taliban.

Zur gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde ausgeführt, dass nicht klar sei, wie der länderkundige Sachverständige zu der "Feststellung" gelange, die Familie der "Freundin" des Beschwerdeführers würde tatsächlich nach den Stammestraditionen der Paschtunen leben. Der Vater und der Bruder des Mädchens hätten sich im Gefängnis befunden, weil sie der Zusammenarbeit mit den Taliban verdächtigt worden seien. Unklar erscheine in diesem Zusammenhang die Ausführung des Sachverständigen, dass in der Familie und in der weiteren Verwandtschaft demnach ein hohes Aggressionspotenzial herrsche und inwiefern dies auf die außereheliche Beziehung Einfluss gehabt habe. Dies sei eine Mutmaßung des Sachverständigen. Der Beschwerdeführer habe in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erklärt, wie es zu den Kontakten zwischen ihm und dem Mädchen gekommen sei, insbesondere warum dies trotz Fehlens eines Verwandtschaftsverhältnisses möglich gewesen sei. "Demnach durfte das Mädchen die Nachbarsfamilie besuchen in der Zeit in der die Mutter beim Vater sowie Bruder im Gefängnis war. Das Mädchen verbrachte die Zeit im Haus des BF daher vorwiegend um nicht alleine zu Hause zu sein und um die Schwestern des BF zu besuchen:" Daraus und weil er Batterien für diese Familie aufgeladen habe, lasse sich der Schluss ziehen, dass die Familien vor der außerehelichen Beziehung scheinbar ein gutes Verhältnis gehabt hätten.

Insgesamt gehe aus dem Kern des Gutachtens hervor, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers unglaubwürdig sei, weil die Familie des Mädchens sich nicht an der Familie des Beschwerdeführers gerächt habe. Zudem sei auch eine Bestrafung des Mädchens in solchen Fällen üblich. Wie den "Länderfeststellungen der Beschwerde" zu entnehmen sei, könnten sich die Rachehandlungen der entehrten Familie auch gegen Familienangehörige des Täters richten, dies müsse jedoch nicht zwingend der Fall sein. Es könne "zum gegebenen Zeitpunkt" weder festgestellt werden, ob weitere Rachehandlungen womöglich stattgefunden hätten, noch ob die Familien zu einer einvernehmlichen Lösung außerhalb jeglicher Racheakte gelangt seien. Das weitere Geschehen, insbesondere ob das Mädchen noch am Leben sei und wo es sich derzeit befinde, entziehe sich schlichtweg dem Wissen des Beschwerdeführers. Da er mit seinem Verhalten klar gegen religiöse und soziale Normen verstoßen und somit die Ehre beider Familien verletzt sowie seine eigene Familie in Gefahr gebracht habe, sei es "mehr als nachvollziehbar", dass er, wenn er in Kontakt mit seiner Familie stehe, diesen Vorfall nicht ständig von neuem aufrollen wolle, bzw. die Eltern sich weigerten, Auskünfte über die Situation des Mädchens zu erteilen. Der Beschwerdeführer habe "seine Freundin" das letzte Mal gesehen als sie ihm mitgeteilt habe, dass sie womöglich schwanger sei. Seine Familie wolle mit ihm nicht über das Mädchen sowie über das Vorgefallene sprechen. Dies habe er bei der Verhandlung auch klar zum Ausdruck gebracht. Es könne daher schlichtweg nicht festgestellt werden, ob das Mädchen aufgrund der vorehelichen Beziehung bestraft worden sei. Für die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers spreche, dass er einwandfreie Angaben zu seiner Herkunftsregion machen habe können. Das Gutachten des Sachverständigen sei daher nicht schlüssig und basiere auf bloßen Vermutungen.

Dem Beschwerdeführer drohe wegen der vorehelichen sexuellen Beziehung staatliche sowie private Verfolgung wegen der Zugehörigkeit "zur sozialen Gruppe der Personen, die in Afghanistan gegen religiöse und soziale traditionelle Normen verstoßen haben."

Darüber hinaus werde ihm aufgrund seiner vorehelichen sexuellen Beziehung eine liberale Einstellung unterstellt und es drohe ihm deswegen Verfolgung durch religiöse Extremisten. Er habe keine innerstaatliche Fluchtalternative, weil der afghanische Staat und die Familie des Mädchens ihn aufgrund des "ethnischen Netzwerkes" im gesamten Staatsgebiet ausfindig machen könnten. Dazu wurde aus einer ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: "Konsequenzen von vorehelichem Geschlechtsverkehr für Männer [a-8093 (8096)]", vom 10. August 2012, zitiert.

Der Beschwerdeführer habe außerhalb seiner Herkunftsregion in Kandahar kein tragfähiges familiäres Netzwerk. Er habe lediglich die Grundschule besucht und keine fachliche Berufsausbildung. Aufgrund der extrem hohen Arbeitslosigkeit, der begrenzten Ressourcen und mangels familiärer Anknüpfungspunkte würde bei ihm ein reales Risiko bestehen, bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten. Aus den Anmerkungen des UNHCR vom Dezember 2016 gehe hervor, dass im Regelfall eine Neuansiedlung in einem Gebiet ohne starkes soziales Netzwerk nicht zumutbar sei, weil der Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten, Wohnraum und auch der Schutz über Beziehungen und soziale Kontakte, funktioniere.

Bei einer Gesamtbetrachtung in der die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan sowie die Kumulierung von objektiv bestehenden Gefährdungsfaktoren zu berücksichtigen seien, sei dem Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von internationalem Schutz stattzugeben. Ihm sei zumindest der Staus eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der tadschikischen Volksgruppe an und bekennt sich zum schiitisch muslimischen Glauben. Er stammt aus der XXXX Kandahar und hielt sich vor seiner Ausreise in Herat bei einem Freund seines Vaters auf.

Am 30. 5. 2015 beantragte er in Österreich die Gewährung von internationalem Schutz.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine außereheliche sexuelle Beziehung zu der Tochter eines Nachbarn geführt hat.

Es kann daher nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr ausgesetzt sein würde.

Er hat in Afghanistan vier Jahre die Schule besucht und danach im Geschäft seines Vaters, in dem XXXX verkauft werden, gearbeitet. Sein Vater betreibt weiterhin dieses Geschäft.

Die Eltern, die drei Schwestern und die beiden Brüder des Beschwerdeführers leben im familieneigenen Haus in der XXXX Kandahar. Zudem leben mehrere seiner Onkel und Tanten in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer leidet an keiner schweren körperlichen oder psychischen Erkrankung und es besteht auch kein längerfristiger Pflege- oder Rehabilitationsbedarf.

Dem Beschwerdeführer hätte im Fall einer Rückkehr in die Provinz Kandahar aufgrund der dort auftretenden Sicherheitsprobleme mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben zu rechnen.

Dem Beschwerdeführer ist es zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren und sich in Kabul niederzulassen. Der Beschwerdeführer hat bislang zwar nicht in Kabul gelebt. Der Beschwerdeführer, der vor seiner Ausreise mit finanzieller Unterstützung seines Onkels väterlicherseits die Ausreise nach Österreich antreten konnte, kann ebenfalls mit finanzieller Hilfe seines Onkels beziehungsweise seiner Familie rechnen. Mit dieser Unterstützung ist ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul möglich. Seine Existenz könnte er dort - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, in Kabul eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat zunächst auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. In weiterer Folge ist - wie dargelegt - von einer finanziellen Unterstützung des Beschwerdeführers durch seinen Vater sowie seinen Onkel väterlicherseits auszugehen.

Er hat in Österreich keine Familienangehörigen oder Verwandten. Seit ungefähr neun Monaten führt er eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen, wohnt mit ihr jedoch nicht im gemeinsamen Haushalt. Er hat kein Sprachdiplom vorgelegt und hat keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Er ist nicht erwerbstätig und übt auch keine ehrenamtliche Tätigkeit in Österreich aus.

Zur Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.), und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.1.2004).

Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.1.2017) - nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017).

Parlament und Parlamentswahlen

Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wähler/innen. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik (AA 9.2016). Im Jänner 2017 verlautbarte das Büro von CEO Abdullah Abdullah, dass Parlaments- und Bezirksratswahlen im nächsten Jahr abgehalten werden (Pajhwok 19.1.2017).

Die afghanische Nationalversammlung besteht aus dem Unterhaus, Wolesi Jirga, und dem Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt. Das Unterhaus hat 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kutschi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 13.4.2016 vgl. auch: CRS 12.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für einen Sikh- oder Hindu-Repräsentanten reserviert (USDOS 13.4.2016).

Die Rolle des Zweikammern-Parlaments bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht (AA 9.2016).

Parteien

Der Terminus Partei umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die afghanische Parteienlandschaft ist mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf fehlende strukturelle Elemente (wie z.B. ein Parteienfinanzierungsgesetz) zurückzuführen, sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange - werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016).

Im Jahr 2009 wurde ein neues Parteiengesetz eingeführt, welches von allen Parteien verlangte sich neu zu registrieren und zum Ziel hatte ihre Zahl zu reduzieren. Anstatt wie zuvor die Unterschrift von 700 Mitgliedern, müssen sie nun 10.000 Unterschriften aus allen Provinzen erbringen. Diese Bedingung reduzierte tatsächlich die Zahl der offiziell registrierten Parteien von mehr als 100 auf 63, trug aber scheinbar nur wenig zur Konsolidierung des Parteiensystems bei (USIP 3.2015).

Unter der neuen Verfassung haben sich seit 2001 zuvor islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu politischen Parteien gewandelt. Sie repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu Institutionen entwickelt. Keine von ihnen ist eine weltanschauliche Organisation oder Mobilmacher von Wähler/innen, wie es Parteien in reiferen Demokratien sind (USIP 3.2015). Eine Diskriminierung oder Strafverfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten nach Rückkehr aus dem Ausland ist nicht anzunehmen. Auch einige Führungsfiguren der RNE sind aus dem Exil zurückgekehrt, um Ämter bis hin zum Ministerrang zu übernehmen. Präsident Ashraf Ghani verbrachte selbst die Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren weitgehend im pakistanischen und US-amerikanischen Exil (AA 9.2016).

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Im afghanischen Friedens- und Versöhnungsprozess gibt es weiterhin keine greifbaren Fortschritte. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Die Reintegration versöhnungswilliger Aufständischer bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden (AA 9.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG)

Nach zweijährigen Verhandlungen (Die Zeit 22.9.2016), unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das der Hezb-e Islami Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtet sich die Gruppe alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommen zwischen der Hezb-e Islami und der Regierung, erklärte erstere in einer Stellungnahme eine Waffenruhe (The Express Tribune 30.9.2016). Das Abkommen beinhaltet unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, int. Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Sobald internationale Sanktionen aufgehoben sind, wird von Hekmatyar erwartet, nach 20 Jahren aus dem Exil nach Afghanistan zurückkehren. Im Jahr 2003 war Hekmatyar von den USA zum "internationalen Terroristen" erklärt worden (NYT 29.9.2016). Schlussendlich wurden im Februar 2017 die Sanktionen gegen Hekmatyar von den Vereinten Nationen aufgehoben (BBC News 4.2.2017).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.1.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.2.2017).

INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).

1.12.2015 - 15.2.2016 16.2.2016 - 19.5.2016 20.5.2016 - 15.8.2016 16.8.2016 - 17.11.2016 1.12.2015 - 17.11.2016

Sicherheits-relevante Vorfälle 4.014 6.122 5.996 6.261 22.393

Bewaffnete Zusammenstöße 2.248 3.918 3.753 4.069 13.988

Vorfälle mit IED¿s 770 1.065 1.037 1.126 3.998

gezielte Tötungen 154 163 268 183 768

Selbstmord-attentate 20 15 17 19 71

(UN GASC 13.12.2016; UN GASC 7.9.2016; UNGASC10.6.2016; UN GASC 7.3.2016; Darstellung durch die Staatendokumentation des BFA).

Mit Stand September 2016, schätzen Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10% der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (USDOD 12.2016). Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (SIGAR 30.1.2017).

Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften (USDOD 12.2016). Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen - ausgeführt durch die Polizei und das Militär - landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (VOA 5.1.2017).

Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.8. - 17.11.2016) (UN GASC 13.12.2016; vgl. auch: SCR 30.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln, und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (USDOD 12.2016).

Kontrolle von Distrikten und Regionen

Den Aufständischen misslangen acht Versuche, die Provinzhauptstadt einzunehmen; den Rebellen war es möglich, Territorium einzunehmen. High-profile Angriffe hielten an. Im vierten Quartal 2016 waren 2,5 Millionen Menschen unter direktem Einfluss der Taliban, während es im 3. Quartal noch 2,9 Millionen waren (SIGAR 30.1.2017).

Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal, sind 57,2% der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw. -einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2% gegenüber dem dritten Quartal: zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen, mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit 5 von 6 Distrikten, und Helmand mit 8 von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.1.2017).

Rebellengruppen

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium (USDOD 12.2016).

Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistischen Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk, und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan - gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden (USDOD 12.2016).

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).

Taliban und ihre Offensive

Die afghanischen Sicherheitskräfte behielten die Kontrolle über große Ballungsräume und reagierten rasch auf jegliche Gebietsgewinne der Taliban (USDOD 12.2016). Die Taliban erhöhten das Operationstempo im Herbst 2016, indem sie Druck auf die Provinzhauptstädte von Helmand, Uruzgan, Farah und Kunduz ausübten, sowie die Regierungskontrolle in Schlüsseldistrikten beeinträchtigten und versuchten, Versorgungsrouten zu unterbrechen (UN GASC 13.12.2016). Die Taliban verweigern einen politischen Dialog mit der Regierung (SCR 12.2016).

Die Taliban haben die Ziele ihrer Offensive "Operation Omari" im Jahr 2016 verfehlt (USDOD 12.2016). Ihr Ziel waren großangelegte Offensiven gegen Regierungsstützpunkte, unterstützt durch Selbstmordattentate und Angriffe von Aufständischen, um die vom Westen unterstütze Regierung zu vertreiben (Reuters 12.4.2016). Gebietsgewinne der Taliban waren nicht dauerhaft, nachdem die ANDSF immer wieder die Distriktzentren und Bevölkerungsgegenden innerhalb eines Tages zurückerobern konnte. Die Taliban haben ihre lokalen und temporären Erfolge ausgenutzt, indem sie diese als große strategische Veränderungen in sozialen Medien und in anderen öffentlichen Informationskampagnen verlautbarten (USDOD12.2016). Zusätzlich zum bewaffneten Konflikt zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban kämpften die Taliban gegen den ISIL-KP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan) (UN GASC 13.12.2016).

Der derzeitig Talibanführer Mullah Haibatullah Akhundzada hat im Jänner 2017 16 Schattengouverneure in Afghanistan ersetzt, um seinen Einfluss über den Aufstand zu stärken. Aufgrund interner Unstimmigkeiten und Überläufern zu feindlichen Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, waren die afghanischen Taliban geschwächt. hochrangige Quellen der Taliban waren der Meinung, die neu ernannten Gouverneure würden den Talibanführer stärken, dennoch gab es keine Veränderung in Helmand. Die südliche Provinz - größtenteils unter Talibankontrolle - liefert der Gruppe den Großteil der finanziellen Unterstützung durch Opium. Behauptet wird, Akhundzada hätte nicht den gleichen Einfluss über Helmand, wie einst Mansour (Reuters 27.1.2017).

Im Mai 2016 wurde der Talibanführer Mullah Akhtar Mohammad Mansour durch eine US-Drohne in der Provinz Balochistan in Pakistan getötet (BBC News 22.5.2016; vgl. auch: The National 13.1.2017). Zum Nachfolger wurde Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt - ein ehemaliger islamischer Rechtsgelehrter - der bis zu diesem Zeitpunkt als einer der Stellvertreter diente (Reuters 25.5.2016; vgl. auch:

The National 13.1.2017). Dieser ernannte als Stellvertreter Sirajuddin Haqqani, den Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (The National 13.1.2017) und Mullah Yaqoub, Sohn des Talibangründers Mullah Omar (DW 25.5.2016).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk ist eine sunnitische Rebellengruppe, die durch Jalaluddin Haqqani gegründet wurde. Sirajuddin Haqqani, Sohn des Jalaluddin, führt das Tagesgeschäft, gemeinsam mit seinen engsten Verwandten (NCTC o.D.). Sirajuddin Haqqani, wurde zum Stellvertreter des Talibanführers Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt (The National 13.1.2017).

Das Netzwerk ist ein Verbündeter der Taliban - dennoch ist es kein Teil der Kernbewegung (CRS 26.5.2016). Das Netzwerk ist mit anderen terroristischen Organisationen in der Region, inklusive al-Qaida und den Taliban, verbündet (Khaama Press 16.10.2014). Die Stärke des Haqqani-Netzwerks wird auf 3.000 Kämpfer geschätzt (CRS 12.1.2017). Das Netzwerk ist hauptsächlich in Nordwaziristan (Pakistan) zu verorten und führt grenzübergreifende Operationen nach Ostafghanistan und Kabul durch (NCTC o.D.).

Das Haqqani-Netzwerk ist fähig - speziell in der Stadt Kabul - Operationen durchzuführen; finanziert sich durch legale und illegale Geschäfte in den Gegenden Afghanistans, in denen es eine Präsenz hat, aber auch in Pakistan und im Persischen Golf. Das Netzwerk führt vermehrt Entführungen aus - wahrscheinlich um sich zu finanzieren und seine Wichtigkeit zu stärken (CRS 12.1.2017).

Kommandanten des Haqqani Netzwerk sagten zu Journalist/innen, das Netzwerk sei bereit eine politische Vereinbarung mit der afghanischen Regierung zu treffen, sofern sich die Taliban dazu entschließen würden, eine solche Vereinbarung einzugehen (CRS 12.1.2017).

Al-Qaida

Laut US-amerikanischen Beamten war die Präsenz von al-Qaida in den Jahren 2001 bis 2015 minimal (weniger als 100 Kämpfer); al-Qaida fungierte als Unterstützer für Rebellengruppen (CRS 12.1.2017). Im Jahr 2015 entdeckten und zerstörten die afghanischen Sicherheitskräfte gemeinsam mit US-Spezialkräften ein Kamp der al-Quaida in der Provinz Kandahar (CRS 12.1.2017; vgl. auch: FP 2.11.2015); dabei wurden 160 Kämpfer getötet (FP 2.11.2015). Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass al-Qaida die Präsenz in Afghanistan vergrößert hat. US-amerikanische Kommandanten bezifferten die Zahl der Kämpfer in Afghanistan mit 100-300, während die afghanischen Behörden die Zahl der Kämpfer auf 300-500 schätzten (CRS 12.1.2017). Im Dezember 2015 wurde berichtet, dass al-Qaida sich primär auf den Osten und Nordosten konzertierte und nicht wie ursprünglich von US-amerikanischer Seite angenommen, nur auf Nordostafghanistan (LWJ 16.4.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG)

Siehe Kapitel - Politische Lage - Friedens- und Versöhnungsprozesse

IS/ISIS/ISIL/ISKP/ISIL-K/Daesh - Islamischer Staat

Seit dem Jahr 2014 hat die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eine kleine Präsenz in Afghanistan etabliert (RAND 28.11.2016). Die Führer des IS nennen diese Provinz Wilayat Khorasan - in Anlehnung an die historische Region, die Teile des Irans, Zentralasien, Afghanistan und Pakistan beinhaltete (RAND 28.11.2016; vgl. auch:

MEI 5.2016). Anfangs wuchs der IS schnell (MEI 5.2016). Der IS trat im Jahr 2014 in zwei getrennten Regionen in Afghanistan auf: in den östlichsten Regionen Nangarhars, an der AfPak-Grenze und im Distrikt Kajaki in der Provinz Helmand (USIP 3.11.2016).

Trotz Bemühungen, seine Macht und seinen Einfluss in der Region zu vergrößern, kontrolliert der IS nahezu kein Territorium außer kleineren Gegenden wie z.B. die Distrikte Deh Bala, Achin und Naziyan in der östlichen Provinz Nangarhar (RAND 28.11.2016; vgl. auch: USIP 3.11.2016). Zwar kämpfte der IS hart in Afghanistan, um Fuß zu fassen. Die Gruppe wird von den Ansässigen jedoch Großteils als fremde Kraft gesehen (MEI 5.2016). Nur eine Handvoll Angriffe führte der IS in der Region durch. Es gelang ihm nicht, sich die Unterstützung der Ansässigen zu sichern; auch hatte er mit schwacher Führung zu kämpfen (RAND 28.11.2016). Der IS hatte mit Verlusten zu kämpfen (MEI 5.2016). Unterstützt von internationalen Militärkräften, führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch - dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).

Auch wenn die Gruppierung weiterhin interne Streitigkeiten der Taliban ausnützt, um die Präsenz zu halten, ist sie mit einem harten Kampf konfrontiert, um permanenter Bestandteil komplexer afghanischer Stammes- und Militärstrukturen zu werden. Anhaltender Druck durch US-amerikanische Luftangriffe haben weiterhin die Möglichkeiten des IS in Afghanistan untergraben; auch wird der IS weiterhin davon abgehalten, seinen eigenen Bereich in Afghanistan einzunehmen (MEI 5.2016). Laut US-amerikanischem Außenministerium hat der IS keinen sicherheitsrelevanten Einfluss außerhalb von isolierten Provinzen in Ostafghanistan (SIGAR 30.1.2017).

Unterstützt von internationalen Militärkräften, führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch - dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).

Presseberichten zufolge betrachtet die afghanische Bevölkerung die Talibanpraktiken als moderat im Gegensatz zu den brutalen Praktiken des IS. Kämpfer der Taliban und des IS gerieten, aufgrund politischer oder anderer Differenzen, aber auch aufgrund der Kontrolle von Territorium, aneinander (CRS 12.1.2017).

Drogenanbau und Gegenmaßnahmen

Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen auch weiterhin den Aufstand und kriminelle Netzwerke (USDOD 12.2016). Laut einem Bericht des afghanischen Drogenbekämpfungsministeriums, vergrößerte sich die Anbaufläche für Opium um 10% im Jahr 2016 auf etwa 201.000 Hektar. Speziell in Nordafghanistan und in der Provinz Badghis, verstärkte sich der Anbau: Blaumohn wächst in 21 der 34 Provinzen, im Vergleich zum Jahr 2015, wo nur 20 Provinzen betroffen waren. Seit dem Jahr 2008 wurde zum ersten Mal von Opiumanbau in der Provinz Jawzjan berichtet. Helmand bleibt mit 80.273 Hektar (40%) auch weiterhin Hauptanbauprovinz, gefolgt von Badghis, Kandahar und der Provinz Uruzgan. Die potentielle Opiumproduktion im Jahr 2016 macht insgesamt 4.800 Tonnen aus - eine Steigerung von 43% (3.300 Tonnen) im Gegensatz zum Jahr 2015. Die hohe Produktionsrate kann einer Steigerung des Opiumertrags pro Hektar und eingeschränkter Beseitigungsbemühungen, aufgrund von finanziellen und sicherheitsrelevanten Ressourcen, zugeschrieben werden. Hauptsächlich erhöhten sich die Erträge aufgrund von vorteilhaften Bedingungen, wie z.B. des Wetters und nicht vorhandener Pflanzenkrankheiten (UN GASC 17.12.2016).

Zivile Opfer

Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) dokumentiert weiterhin regierungsfeindliche Elemente, die illegale und willkürliche Angriffe gegen Zivilist/innen ausführen (UNAMA 10.2016). Zwischen 1.1. und 31.12.2016 registrierte UNAMA 11.418 zivile Opfer (3.498 Tote und 7.920 Verletzte) - dies deutet einen Rückgang von 2% bei Getöteten und eine Erhöhung um 6% bei Verletzten im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Jahres 2015 an. Bodenkonfrontation waren weiterhin die Hauptursache für zivile Opfer, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attentaten, sowie unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung (IED), und gezielter und willkürlicher Tötungen (UNAMA 6.2.2017).

UNAMA verzeichnete 3.512 minderjährige Opfer (923 Kinder starben und 2.589 wurden verletzt) - eine Erhöhung von 24% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres; die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn. Hauptursache waren Munitionsrückstände, deren Opfer meist Kinder waren. Im Jahr 2016 wurden 1.218 weibliche Opfer registriert (341 Tote und 877 Verletzte), dies deutet einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vorjahr an (UNAMA 6.2.2017).

Hauptsächlich waren die südlichen Regionen von dem bewaffneten Konflikt betroffen: 2.989 zivilen Opfern (1.056 Tote und 1.933 Verletzte) - eine Erhöhung von 17% gegenüber dem Jahr 2015. In den zentralen Regionen wurde die zweithöchste Rate an zivilen Opfern registriert: 2.348 zivile Opfer (534 Tote und 1.814 Verletzte) - eine Erhöhung von 34% gegenüber dem Vorjahreswert, aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Angriffe auf die Stadt Kabul. Die östlichen und nordöstlichen Regionen verzeichneten einen Rückgang bei zivilen Opfern: 1.595 zivile Opfer (433 Tote und 1.162 Verletzte) im Osten und 1.270 zivile Opfer (382 Tote und 888 Verletzte) in den nordöstlichen Regionen. Im Norden des Landes wurden 1.362 zivile Opfer registriert (384 Tote und 978 Verletzte), sowie in den südöstlichen Regionen 903 zivile Opfer (340 Tote und 563 Verletzte). Im Westen wurden 836 zivile Opfer (344 Tote und 492 Verletzte) und 115 zivile Opfer (25 Tote und 90 Verletzte) im zentralen Hochgebirge registriert (UNAMA 6.2.2017).

Laut UNAMA waren 61% aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreiben (hauptsächlich Taliban), 24% regierungsfreundlichen Kräften (20% den afghanischen Sicherheitskräften, 2% bewaffneten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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