TE OGH 2017/12/20 10Ob67/17a

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Veröffentlicht am 20.12.2017
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Schramm, Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann und Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Kindes S*, geboren am * 2015, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 3, 11, 1030 Wien, Karl-Borromäus-Platz 3), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 25. August 2017, GZ 43 R 337/17b-62, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 2. Mai 2017, GZ 7 Pu 191/15x-50, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss lautet:

„Der Antrag des Kindes auf Gewährung eines monatlichen Unterhaltsvorschusses von 400 EUR ab 1. 2. 2017 wird abgewiesen.“

Text

Begründung:

Das Kind ist Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina und lebt mit der obsorgeberechtigten Mutter, die Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina und Kroatien ist, in Wien. Der Vater ist Staatsangehöriger von Kroatien mit Aufenthalt und selbständiger Erwerbstätigkeit in Slowenien. Er ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 10. 12. 2015 (ON 14) zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrags von 400 EUR ab 1. 7. 2015 verpflichtet.

Das Kind beantragte am 28. 2. 2017 die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG.

Das Erstgericht gewährte dem Kind für den Zeitraum vom 1. 2. 2017 bis 31. 1. 2022 nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG monatliche Unterhaltsvorschüsse von 400 EUR.

Das Rekursgericht gab dem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs des Bundes nicht Folge. Da Unterhaltsvorschussleistungen von der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen seien und in der VO (EU) 1231/2010 ein allgemeines Diskriminierungsverbot für Drittstaatsangehörige fehle, könne sich das drittstaatsangehörige Kind für die begehrte Gewährung von Unterhaltsvorschüssen grundsätzlich nicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV stützen. Der Oberste Gerichtshof habe aber zu 10 Ob 1/13i ausgesprochen, dass mit der VO (EU) 1231/2010 die Anwendung der VO (EG) 883/2004 und der VO (EG) 987/2009 auch auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt worden sei, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die beiden (oben genannten) Verordnungen fielen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen, wenn sie einen rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hätten und sich in einer Lage befänden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betreffe. Darüber hinaus seien Drittstaatsangehörige auch nach der VO (EU) 1231/2010 EU-Bürger nicht generell gleichstellt, sondern nur in Bezug auf grenzüberschreitende Bewegungen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, wodurch ein Bezug zu zumindest zwei Mitgliedstaaten hergestellt werde. Bereits zu 10 Ob 60/03a und 1 Ob 171/05m habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass der erforderliche Gemeinschaftsbezug auch darin liegen könne, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufwiesen. Diese Umstände seien in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- und Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses sowie der vormaligen Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen zu sehen. Im vorliegenden Fall bestehe sogar ein Bezug zu drei EU-Mitgliedstaaten: Zu Österreich, dem Wohnort des Kindes und seiner Mutter, zu Kroatien, dessen Staatsbürgerschaft sowohl die Mutter als auch der Vater besäßen, und zu Slowenien, wo der Vater arbeite.

Rechtliche Beurteilung

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu.

Der – vom Kind beantwortete – Revisionsrekurs des Bundes ist zulässig und berechtigt.

1. Gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 UVG haben Anspruch auf Vorschüsse auf den gesetzlichen Unterhalt minderjährige Kinder, die einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Diese Voraussetzungen erfüllt das Kind als Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina unstrittig nicht.

2. Mit 1. 5. 2010 wurden die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I der VO (EG) 883/2004 sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Union (EuGH) als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen (RIS-Justiz RS0125933). Seit 1. 5. 2010 sind Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext daher nicht mehr auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen (RIS-Justiz RS0125933 [T4]).

3. Die Erstreckung des Geltungsbereichs der VO (EG) 883/2004 auf Drittstaatsangehörige erfolgte mit der am 1. 1. 2011 in Kraft getretenen VO (EU) 1231/2010. Erfasst werden sollten gemäß Art 1 VO (EU) 1231/2010 Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die VO (EG) 883/2004 oder unter die VO (EG) 987/2009 fallen, so wie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen, wenn sie den rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft.

4. Angehörige eines Drittstaats können ihr Begehren auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen aber schon deshalb nicht mit Erfolg aus der VO (EU) 1231/2010 ableiten, weil Unterhaltsvorschüsse vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausgenommen sind (10 Ob 1/13i; 10 Ob 51/12s; 10 Ob 19/16s).

5. Damit ist der sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sowie der VO (EU) 1231/2010 für den Antrag des Kindes auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse nicht eröffnet. Die Frage, ob Drittstaatsangehörige nach der VO (EU) 1231/2010 EU-Bürgern (nur) in Bezug auf grenzüberschreitende Bewegungen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, wodurch ein Bezug zu zumindest zwei Mitgliedstaaten hergestellt wird, gleichgestellt sind, stellt sich schon deshalb nicht. Der – nach Ansicht des Rekursgerichts die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen rechtfertigende – Bezug zu den drei EU-Mitgliedstaaten Österreich (Wohnsitzstaat des Kindes und der Mutter), Kroatien (dessen Staatsangehörigkeit Mutter und Vater besitzen) und Slowenien (wo der Vater wohnt und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgeht) ist ohne Relevanz.

6. Der Umstand, dass Unterhaltsvorschüsse seit 1. 5. 2010 nicht mehr unter die Koordinierungsvorschriften der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 fallen, bedeutet zwar nicht, dass die Grundsätze des Unionsrechts auf diese Leistung nicht mehr anzuwenden sind. Dazu hat der Oberste Gerichtshof aber bereits ausgesprochen, dass bei Unterhaltsvorschüssen aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Art 18 AEUV, der ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft innerhalb des Unionsrechts enthält, das Gleichbehandlungsgebot gegenüber Unionsbürgern unverändert zur Anwendung gelangt (10 Ob 1/13i; 10 Ob 19/16s). Daraus folgt aber lediglich, dass Kinder mit der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats der Europäischen Union bei gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich nicht von österreichischen Unterhaltsvorschüssen ausgeschlossen werden dürfen (RIS-Justiz RS0125925).

7. Da Unterhaltsvorschussleistungen vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen sind und diese Herausnahme auch auf die VO (EU) 1231/2010 durchschlägt, bilden die beiden Verordnungen keine taugliche Anspruchsgrundlage für die begehrten Unterhaltsvorschüsse. Darüber hinaus kann sich das drittstaatsangehörige Kind für sein Begehren auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch nicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV stützen (RIS-Justiz RS0128665).

8. Dem berechtigten Revisionsrekurs des Bundes ist damit Folge zu geben. Der Antrag des Kindes auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss ist abzuweisen.

Schlagworte

Unterhaltsrecht;Europarecht

Textnummer

E120676

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:E120676

Im RIS seit

07.03.2018

Zuletzt aktualisiert am

16.05.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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