Entscheidungsdatum
23.02.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W237 1438236-4/4E
W237 1438235-4/4E
W237 1438237-4/4E
W237 2007272-4/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Martin WERNER über die Beschwerden von 1.) XXXX, geb. XXXX, 2.) XXXX, geb. XXXX, 3.) mj. XXXX, geb. XXXX, und 4.) mj. XXXX, geb. XXXX, alle StA. Russische Föderation, alle vertreten durch die XXXX, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) 17.01.2018, Zl. 821696406-171318553, 2.) 17.01.2018, Zl. 821696308-171318545, 3.) 17.01.2018, Zl. 821696504-171318537, und
4.) 17.01.2018, Zl. 1003006810-171318456, zu Recht:
A)
I. Die Anträge auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung werden zurückgewiesen.
II. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der jeweils angefochtenen Bescheide werden gemäß § 68 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl l. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013 (im Folgenden: AVG), als unbegründet abgewiesen.
III. Im Übrigen werden die Beschwerden gemäß § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: AsylG 2005), iVm § 9 BFA- Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: BFA-VG), und § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: FPG), sowie § 52 Abs. 9 iVm § 46 und § 55 Abs. 1a FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweit- und minderjährige Drittbeschwerdeführerin reisten im November 2012 unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 18.11.2012 Anträge auf internationalen Schutz.
1.1. In ihren Befragungen zu diesen Anträgen führten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Wesentlichen Probleme aufgrund ihrer Eheschließung, ihrer Volksgruppenzugehörigkeit sowie ihres Religionsbekenntnisses ins Treffen. Der Erstbeschwerdeführer sei ins Blickfeld radikaler Islamisten geraten, die ihm die Ehe mit einer Christin vorgeworfen hätten. Diese Personen hätten ihn sowohl in Moskau als auch in seiner Heimatregion Kabardino-Balkarien verfolgt. In Moskau habe der Erstbeschwerdeführer zudem Probleme wegen seiner Zugehörigkeit zur nordkaukasischen Ethnie der Tscherkessen bekommen: So sei er neben der Abnahme seines Führerscheins von einem Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB zu Geldzahlungen erpresst worden; in diesem Zusammenhang habe man ihn auch verprügelt. Die Zweitbeschwerdeführerin sei wiederum in Kabardino-Balkarien Diskriminierungen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt gewesen.
1.2. Mit Bescheiden vom 24.09.2013 wies das Bundesasylamt die Anträge des Erstbeschwerdeführers sowie der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin auf Gewährung von internationalem Schutz vom 18.11.2012 sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der damals geltenden Fassung) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. ab; unter einem wurden sie gemäß § 10 Abs. 1 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten begründend führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus, dass das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin nicht glaubhaft sei.
1.3. Der Viertbeschwerdeführer wurde am XXXX in Österreich geboren und stellte über seine Eltern als gesetzliche Vertreter ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 09.04.2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ebenso vollinhaltlich ab und erließ gegenüber dem Vierbeschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung.
1.4. Sowohl gegen diesen Bescheid als auch gegen jene vom 24.09.2013 erhoben die Beschwerdeführer jeweils Beschwerde, die das Bundesverwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.06.2014 - mit Erkenntnis vom 04.08.2014 gemäß § 3 und § 8 AsylG 2005 (in der damals geltenden Fassung) als unbegründet abwies, wobei die Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit jeweils einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 75 Abs. 20 leg.cit. zurückverwiesen wurden.
Diese Entscheidung begründete das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass die Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin über weite Strecken unplausibel und nicht nachvollziehbar seien. Die vorgebrachten psychischen Beeinträchtigungen des Erstbeschwerdeführers seien in der Russischen Föderation behandelbar. Da es auch keine sonstigen Gründe gebe, die gegen eine Rückverbringung der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat sprächen, sei dadurch keine Verletzung ihrer Rechte nach Art. 3 EMRK zu erkennen. Die gesunden und arbeitsfähigen volljährigen Beschwerdeführer würden über mehrjährige Ausbildungen - und im Falle des Erstbeschwerdeführers auch über Berufserfahrung - verfügen und könnten, wie auch vor ihrer Ausreise, ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder durch Erwerbsarbeit und ihre Landwirtschaft sichern. Mangels familiärer Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet und sozialer Integration in Österreich sowie aufgrund der erst kurzen Dauer ihres Aufenthalts stehe Art. 8 EMRK einer allfälligen Rückkehrentscheidung nicht entgegen.
1.5. Die beschwerdeführenden Parteien verließen in weiterer Folge im September 2014 das Bundesgebiet und brachten in Deutschland Anträge auf internationalen Schutz ein. Am 05.02.2015 wurden sie im Rahmen des Dublin-Verfahrens von Deutschland nach Österreich rücküberstellt.
1.6. Im fortgesetzten Verfahren wurden den Beschwerdeführern mit Bescheiden des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 19.05.2015 gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 (in der damals geltenden Fassung) Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der damaligen Fassung) wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der damaligen Fassung) erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. wurde festgestellt, dass die Abschiebungen der genannten Beschwerdeführer in die Russische Föderation gemäß § 46 leg.cit. zulässig seien. Weiters sprach das Bundesamt aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg.cit die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. In der Begründung dieser Entscheidung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet lediglich aufgrund der Betreibung des Asylverfahrens legalisiert habe. Angesichts der relativ kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich seien überdies keine Aspekte einer außergewöhnlichen und schützenswerten Integration hervorgekommen. Der einzige vorgebrachte integrative Ansatz, der Kindergartenbesuch der Drittbeschwerdeführerin, könne den Verbleib der Beschwerdeführer in Österreich nicht rechtfertigen.
Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 18.06.2015 als unbegründet ab. Begründend hielt es fest, dass sich die Beschwerdeführer erst seit November 2012 im Bundesgebiet aufhielten und die Dauer des Asylverfahrens mit zweieinhalb Jahren nicht übermäßig lang sei. Zudem hätten sich die Beschwerdeführer ein halbes Jahr in Deutschland aufgehalten. Außerdem habe sich das gesamte Fluchtvorbringen als völlig unglaubwürdig herausgestellt, die Beschwerdeführer hätten ihren Aufenthalt somit auf einem unwahren Vorbringen aufgebaut. Ihre strafgerichtliche Unbescholtenheit vermöge weder ihr persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen. Die Beschwerdeführer seien auch allesamt nicht übermäßig integriert und hätten sich bei Setzen ihrer Integrationsschritte ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Zudem lägen mit den Eltern des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, die beide den Großteil ihres Lebens in der Russischen Föderation gelebt hätten, noch Bindungen zu ihrem Herkunftsstaat vor. Die Rückkehrentscheidungen bedeuteten daher keine Verletzung ihres Rechts auf Privat- und Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK.
2. Am 11.05.2016 stellten sämtliche Beschwerdeführer neuerlich Anträge auf internationalen Schutz.
2.1. Der Erstbeschwerdeführer gab in diesem Zusammenhang im Wesentlichen zu Protokoll, sein Bruder sei vor zwei Monaten vom FSB in Naltschik ermordet worden; diese Information habe der Erstbeschwerdeführer von seinem Vater erhalten. Er könne auf keinen Fall in seine Heimat zurückkehren, weil ihn dort dasselbe Schicksal wie seinen Bruder ereilen würde. Auch er werde beschuldigt, einer kriminellen Bande anzugehören und einen Militärputsch vorbereitet zu haben. Deswegen habe er seine Heimat verlassen müssen. Bezüglich der Ermordung seines Bruders könne er Beweise vorlegen. Eine Woche, nachdem sein Vater über den Tod des Bruders informiert worden sei, sei in ihrem Haus eine Hausdurchsuchung durchgeführt worden. Anschließend sei seine Schwester vom FSB abgeführt worden, von dieser fehle seither jede Spur. Im Falle einer Rückkehr befürchte der Erstbeschwerdeführer, getötet zu werden. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte ebenso vor, sie könne nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil der Bruder ihres Mannes durch den FSB umgebracht worden sei und ihrem Mann dasselbe drohe. Weiters fehle auch von der Schwester ihres Mannes seit einer Hausdurchsuchung jede Spur.
2.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies auch diese Anträge auf internationalen Schutz mit Bescheiden vom 28.02.2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der damals geltenden Fassung) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. ab und erteilte gemäß § 57 leg.cit. keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (in der damaligen Fassung) wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der damaligen Fassung) erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. wurde festgestellt, dass die Abschiebungen der genannten Beschwerdeführer in die Russische Föderation gemäß § 46 leg.cit. zulässig seien. Beschwerden gegen diese Entscheidungen wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt. Zusätzlich erließ das Bundesamt gegenüber dem Erstbeschwerdeführer ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Hinsichtlich der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin sowie des Viertbeschwerdeführers sprach das Bundesamt aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg.cit die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
2.3. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 01.08.2017 vollinhaltlich ab. Dies mit der wesentlichen Begründung, dass die Aussagen des Erstbeschwerdeführers aufgrund von Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten unglaubwürdig seien; außerdem seien sie auch mit den Angaben seiner Ehefrau nicht vollständig kohärent. Die vorgelegten Fotos, auf denen angeblich der ermordete Bruder des Beschwerdeführers zu sehen sei, seien nicht dazu geeignet, das Vorbringen zu untermauern. Überhaupt sei seine Glaubwürdigkeit schon deshalb in Frage gestellt, weil seine Aussagen im Zuge des ersten Asylverfahrens bereits als unglaubhaft gewertet worden seien. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin seien prinzipiell arbeitsfähig und es bestünden Anhaltspunkte anzunehmen, sie könnten im Herkunftsstaat eine ausreichende Existenzgrundlage für sich und ihre Kinder nicht erwirtschaften. Das Vorliegen existenzbedrohender Krankheiten sei nicht hervorgekommen. Ihre Rückkehr in die russische Föderation begegne vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK keinen Bedenken, weil die Beschwerdeführer nicht selbsterhaltungsfähig seien, sich mit fünfmonatiger Unterbrechung erst seit vier Jahren im Bundesgebiet befänden und diesen Aufenthalt nur durch die Stellung zweier unbegründeter Anträge auf internationalen Schutz erwirkt hätten; auffallend sei auch das wiederholte strafgerichtliche Fehlverhalten des Erstbeschwerdeführers. Die im Verfahren vorgelegten Unterstützungserklärungen schlügen daher nicht maßgeblich zu Gunsten der Beschwerdeführer aus. Die Drittbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer befänden sich in einem anpassungsfähigen Alter.
3. Am 24.11.2017 stellten die Beschwerdeführer jeweils ihre dritten Anträge auf internationalen Schutz.
3.1. Diese begründend brachte der Erstbeschwerdeführer in der folgenden polizeilichen Erstbefragung sowie der Einvernahme am 04.01.2018 vor, sich vollinhaltlich auf die im vorangegangenen Verfahren vorgebrachten Fluchtgründe zu stützen. Er habe im Sommer 2017 über Skype von seinem Cousin Kopien russisch-behördlicher Schreiben erhalten, wonach ihm vorgeworfen werde, sich über das Internet für die Unabhängigkeit Kabardino-Balkariens von der Russischen Föderation eingesetzt zu haben; tatsächlich habe er dies in den Jahren 2015 und 2016 getan. Außerdem habe er Fotos über die Verwendung chemischer Waffen in Syrien, die ihm von seinem Bruder geschickt worden seien, über das Internet verbreitet. Konkret handle es sich bei den ihm von seinem Cousin übermittelten Dokumenten um das Protokoll einer Hausdurchsuchung im alten Haus des Erstbeschwerdeführers, in dem nach seiner Flucht sein Vater und seine Schwester gelebt hätten, um eine an den Erstbeschwerdeführer gerichtete Ladung des russischen Innenministeriums sowie um einen Bescheid über die Verurteilung des Erstbeschwerdeführers wegen Extremismus infolge seines Einsatzes für die Unabhängigkeit Kabardino-Balkariens im Internet. Diese neuen Unterlagen würden unter Beweis stellen, dass der Erstbeschwerdeführer "offiziell gesucht werde". Die Zweitbeschwerdeführerin machte gleichlautende Angaben und hielt fest, dass ihre in den vorangegangenen Asylverfahren erstatteten Fluchtvorbringen nach wie vor aufrecht seien.
3.2. Mit Schreiben vom 04.12.2017 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführern Berichte über die Lage in der Russischen Föderation. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden in der Einvernahme am 04.01.2018 zu einer Stellungnahme zu diesen Länderberichten befragt.
3.3. Im weiteren Verfahren legten die Beschwerdeführer ein Konvolut an Unterlagen betreffend ihr Leben in Österreich (Unterstützungsschreiben, Stellungnahmen, Einstellungszusagen, Mitwirkungsbestätigungen und Schulzeugnisse), Arztbriefe sowie angeblich den Erstbeschwerdeführer betreffende Ladungen russischer Sicherheitsbehörden in Kopie vor.
3.4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheiden vom 17.01.2018 die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 68 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. I 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013 (im Folgenden: AVG), zurück (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: AsylG 2005), nicht zu, erließ gegenüber allen Beschwerdeführern im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: BFA-VG), jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (im Folgenden: FPG), und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt II.); schließlich hielt die Behörde fest, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt III.).
Die Zurückweisung der Anträge der Beschwerdeführer begründete die belangte Behörde damit, dass entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege: Die Beschwerdeführer bezögen sich in ihren Angaben zu ihren dritten Anträgen auf internationalen Schutz lediglich auf das Vorbringen, das sie in ihrem vorangegangenen Verfahren erstattet hätten und bereits damals als unglaubwürdig beurteilt worden sei. Die vorgelegte Vorladung sei auch kein neues Beweismittel, sondern dem Erstbeschwerdeführer bereits im Vorverfahren bekannt gewesen; die Beweismittel seien daher nicht geeignet, eine neue inhaltliche Entscheidung zu erwirken. Auch hinsichtlich der im Vorverfahren getroffenen Feststellungen der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation hätten sich keine Änderungen ergeben.
Rechtlich führte das Bundesamt aus, dass weder in der maßgeblichen Sachlage noch im Begehren und auch nicht in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließe. Im Ergebnis liege somit kein neuer Sachverhalt, welcher im gegenständlichen Fall eine anders lautende Entscheidung in der Sache rechtfertigen würde, vor. Die Rechtskraft des Erstverfahrens stehe den neuerlichen Anträgen entgegen, weshalb die Asylbehörde zu ihrer Zurückweisung verpflichtet sei.
Hinsichtlich des Privat- und Familienlebens sei festzuhalten, dass die Beschwerdeführer seit ihrer illegalen Einreise nach Österreich nie ein nicht auf das Asylrecht begründetes Aufenthaltsrecht gehabt und realistischerweise zu keinem Zeitpunkt davon hätten ausgehen können, ein anderes Aufenthaltsrecht in Österreich zu bekommen. Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihres Aufenthalts sei den Beschwerdeführern bewusst gewesen, dass ihnen kein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zukommen werde. Das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer sei in Österreich auch nicht fest verankert. Weder seien eine auffallende Integration - etwa im Wege der Mitgliedschaft in ehrenamtlichen Vereinen oder dergleichen - noch besondere Kenntnisse der deutschen Sprache ersichtlich. Außerdem sei der Erstbeschwerdeführer wiederholt im Bundesgebiet straffällig geworden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin hätten zudem den überwiegenden Teil ihres Lebens in ihrem Herkunftsstaat verbracht. Die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer stelle daher keinen Eingriff in ihre Rechte nach Art. 8 EMRK dar.
3.5. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer am 13.02.2018 fristgerecht Beschwerden, mit denen die Bescheide zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und Rechtswidrigkeit des Inhalts angefochten werden. Ferner beantragen die Beschwerdeführer, den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Im Wesentlichen führen sie aus, dass mit den Angaben des Erstbeschwerdeführers keine res iudicata vorliege, zumal dem Vorbringen jedenfalls ein glaubhafter Kern zu entnehmen sei: Durch die neu erlangten Dokumente könne der Beschwerdeführer eine staatliche Verfolgung in der Russischen Föderation nachweisen. Das vorgelegte Protokoll belege eine Hausdurchsuchung seitens der Regierung im Haus des Erstbeschwerdeführers. Von dieser Untersuchung habe der Beschwerdeführer zwar gewusst, sie allerdings nicht mittels Protokolle beweisen können. Diese erhielt er von seinem Cousin, dessen Name er aus Angst nicht nennen wolle. Das genannte Protokoll habe er deshalb nicht früher erhalten, weil die Angehörigen Angst gehabt hätten, von der Regierung gefasst zu werden. Die Dokumente habe er - trotz Kenntnis über deren Existenz - somit erst nach dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.08.2017 erhalten. Hätten die Beschwerdeführer bislang "nur" aufgrund der Ermordung des Bruders des Erstbeschwerdeführers ihr Fluchtvorbringen vorgetragen, so könnten sie dies nunmehr mittels der übersendeten Protokolle beweisen.
Die Beschwerdeführer verfügten auch eindeutig über ein schützenswertes Privat- und Familienleben in Österreich. So sei die Zweitbeschwerdeführerin derzeit schwanger, der errechnete Geburtstermin sei der XXXX. Es sei ein Kaiserschnitt ins Auge gefasst, zumal sie unter Unterleibsschmerzen und Myopie (Kurzsichtigkeit) leide. Der Erstbeschwerdeführer habe Bandscheibenprobleme und leide unter Herzstechen, Kopfschmerzen und Panikattacken. Die Drittbeschwerdeführerin besuche die dritte Klasse einer Volksschule und sei im Kinderchor tätig. Das gesamte familiäre Leben der seit 2012 im Bundesgebiet aufhältigen Beschwerdeführer finde in Österreich statt; ihr Interesse an einem Verbleib habe sich während des nunmehrigen Asylverfahrens noch entscheidungsrelevant verstärkt. Die Beschwerdeführer hätten auch mehrere Unterstützungserklärungen sowie eine Einstellungszusage betreffend die Zweitbeschwerdeführerin vorgelegt; diese schlossen sie der Beschwerde in Kopie an. Eine Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK müsse zum Ergebnis führen, dass den Beschwerdeführern eine Aufenthaltsberechtigung (plus) zu erteilen sei.
Die belangte Behörde habe das Ermittlungsverfahren nicht in der gebotenen Tiefe geführt. So hätte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl basierend auf dem Vorbringen der Beschwerdeführer weitergehende Ermittlungen zur Schutzfähigkeit der russischen Sicherheitsbehörden und zur allgemeinen Situation in Russland durchführen müssen. Die Behörde habe ihre Schlussfolgerungen zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer aus größtenteils irrelevanten und überwiegend veralteten Länderberichten gezogen. In der Beschwerde werden in diesem Zusammenhang mehrere Berichte zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage im Nordkaukasus, zu Kollektivbestrafungen von Verwandten tschetschenischer Rebellen sowie zu islamistischen Kämpfern aus südlichen russischen Republiken zitiert.
Im vorliegenden Fall sei in sämtlichen Bescheiden in der Rechtsmittelbelehrung jeweils einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung zugesprochen worden. Der Beschwerde komme damit die aufschiebende Wirkung zu, weil die Rechtsmittelbelehrungen dies - sei es auch contra legem - für die Beschwerdeführer ausdrücklich einräumten. Ein eigener Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung sei vor diesem Hintergrund gar nicht notwendig, werde daher "nur eventualiter und aus advokatorischer Vorsicht" gestellt, weil eine Abschiebung eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer nach Art. 8 EMRK bedeuten würde.
3.6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte die Verfahrensakten samt der Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht am 16.02.2018 vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage sämtlicher Anträge der Beschwerdeführer beim Bundesasylamt und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der Einvernahmen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, der bislang ergangenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, der Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide vom 17.01.2018, der im Verfahren vorgelegten Schriftsätze sowie der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakte, das Zentrale Melderegister, das Fremden- und Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zu den bisherigen Verfahren:
Die von den Beschwerdeführern zu unterschiedlichen Zeitpunkten erstmals im Bundesgebiet gestellten Anträge auf internationalen Schutz wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 04.08.2014 rechtskräftig abgewiesen. Gegenüber den Beschwerdeführern ergingen sodann mit Bescheiden des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 19.05.2015 Rückkehrentscheidungen; die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.06.2015 abgewiesen.
Am 11.05.2016 brachten die Beschwerdeführer jeweils einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz ein. Diese Anträge wies das Bundesverwaltungsgericht rechtskräftig mit Erkenntnis vom 01.08.2017 ab und erließ neuerlich die Beschwerdeführer betreffende Rückkehrentscheidungen.
Am 24.11.2017 stellten die Beschwerdeführer neuerlich die nunmehr - im Wege der Entscheidung über die Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide der belangten Behörde vom 17.01.2018 - zu beurteilenden Anträge auf internationalen Schutz.
Der Ablauf der Verfahrensgänge im Detail wird festgestellt, wie er unter Pkt. I. der vorliegenden Entscheidung wiedergegeben ist.
1.2. Zu den Beschwerdeführern:
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation; ihre Namen und Geburtsdaten sind aus dem Spruchkopf der vorliegenden Entscheidung ersichtlich. Beim Erstbeschwerdeführer handelt es sich um den Ehegatten der im Herkunftsstaat geehelichten Zweitbeschwerdeführerin, die Drittbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer sind die gemeinsamen minderjährigen Kinder des Ehepaars. Im November 2012 reisten der Erstbeschwerdeführer sowie die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin aus Kabardino-Balkarien aus und gelangten im selben Monat auf illegalem Wege ins Bundesgebiet, wo sie ihre (ersten) Anträge auf internationalen Schutz stellten. Der Viertbeschwerdeführer wurde im Bundesgebiet geboren. Zwischen September 2014 und Februar 2015 hielten sich die Beschwerdeführer in Deutschland auf. Alle Beschwerdeführer leben als Familienverband im gemeinsamen Haushalt.
1.2.1. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der kabardino-balkarischen Stadt Naltschik geboren und gehört der Ethnie der Tscherkessen an. Er lebte vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation zunächst in Moskau und schließlich in St. Petersburg. In der Russischen Föderation schloss der Erstbeschwerdeführer die Grundschule in Naltschik ab und erwarb im Rahmen zweier Hochschulausbildungen zunächst ein Diplom als Computerprogrammierer und anschließend - im Rahmen eines Fernstudiums - ein Diplom der Wirtschaftswissenschaften; im Jahr 2007 gründete er in Moskau eine Firma für Industriedesign und gestaltete für Unternehmen Ausstellungsplätze bei Messen.
Nach dem Besuch von Deutschkursen auf A1- und A2-Niveau versteht der Erstbeschwerdeführer die deutsche Sprache. Im Jahr 2017 verrichtete er für seine Wohngemeinde gemeinnützige Tätigkeiten und im Rahmen von Nachbarschaftshilfe half er bei Haus- und Gartenarbeiten; er erlangte in Österreich den B-Führerschein.
Am XXXX, XXXX und XXXX verurteilte das Bezirksgericht XXXX den Beschwerdeführer jeweils zu bedingten Freiheitsstrafen im Ausmaß weniger Monate wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls gemäß §§ 15, 127 StGB; die Probezeiten der ersten beiden Verurteilungen wurden zuletzt auf fünf Jahre verlängert, die Probezeit hinsichtlich der letztmaligen bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Monaten wurde mit drei Jahren festgelegt.
Der Erstbeschwerdeführer leidet unter einem Bandscheibenvorfall und unregelmäßigen, stressbedingten Panikattacken. Im Jahr 2015 wurde eine bei ihm vorliegende schizophrene Psychose festgestellt, die medikamentös behandelt wurde. Eine akute Suizidalität besteht nicht. Der Erstbeschwerdeführer ist mit dem Hepatitis C-Virus infiziert, spricht allerdings auf die Therapie gut an; ein aktuelles Krankheitsbild liegt nicht vor. Ansonsten ist der Erstbeschwerdeführer gesund und arbeitsfähig.
In der Russischen Föderation befinden sich mit seinem Vater, seiner Schwester sowie mehreren weitschichtigeren Verwandten noch Familienmitglieder des Erstbeschwerdeführers; diese leben zum Teil in Naltschik, zum Teil in anderen Dörfern Kabardino-Balkariens. In Österreich leben keine Verwandten des Erstbeschwerdeführers.
1.2.2. Die Zweitbeschwerdeführerin wuchs ebenfalls in Naltschik auf und besuchte dort elf Jahre die Schule. Sie ehelichte den Erstbeschwerdeführer im Jahr 2004 und zog mit ihm nach Moskau, wo sie ein paar Jahre lebte und im Büro eines Bekleidungsgeschäfts arbeitete. Als die Zweitbeschwerdeführerin im Jahr 2009 mit der Drittbeschwerdeführerin schwanger war, reiste sie nach Naltschik zurück, wo sie - mit finanzieller Unterstützung ihres Mannes bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2012 lebte. Mit dem Erstbeschwerdeführer hat sie zwei Kinder; derzeit ist sie mit dem dritten Kind im vierten Monat schwanger, wobei ein Kaiserschnitt ins Auge gefasst ist.
Ebenso wie der Erstbeschwerdeführer versteht die Zweitbeschwerdeführerin nach dem Besuch von Deutschkursen auf A1- und A2-Niveau die deutsche Sprache. Sie ist im Rahmen der Nachbarschaftshilfe in ihrer Wohngemeinde aktiv, hilft bei Reinigungsarbeiten sowie Pfarrfesten und unterstützt eine Bekannte nach deren Operation im Haushalt. Der Inhaber einer Pension in XXXX sagte der Zweitbeschwerdeführerin zu, dass sie im Falle der Ausstellung einer Arbeitsbewilligung im Betrieb als Reinigungskraft im Teilzeitausmaß von 20 Stunden pro Woche tätig sein könne.
Die Zweitbeschwerdeführerin ist hochgradig kurzsichtig und klagt über Unterleibsschmerzen. Ansonsten ist sie gesund und arbeitsfähig. In der Russischen Föderation leben noch die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin sowie eine Schwester.
1.2.3. Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin wurde in der Russischen Föderation geboren und gelangte im Alter von drei Jahren nach Österreich, wo sie seither aufwächst. Sie besucht die Volksschule der Wohngemeinde XXXX, nimmt dort als ordentliche Schülerin am Regelunterricht teil und ist Mitglied im Schulchor. Sie beherrscht - ihrem Alter entsprechend - die deutsche Sprache in Wort und Schrift und kann sich in Russisch unterhalten. Die Drittbeschwerdeführerin leidet unter keinen maßgeblichen Krankheiten.
1.2.4. Der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurde in Österreich geboren und lebt seit seiner Geburt im Bundesgebiet. Er ist physisch gesund, hat jedoch eine verzögerte Sprachentwicklung, weshalb ihm eine logopädische und psycholgische Behandlung ärztlich empfohlen wurde.
1.2.5. Sämtliche Beschwerdeführer sind in ihrer Wohnsitzgemeinde sozial gut integriert und erfahren von ihrem Umfeld einen starken Rückhalt für ihren Verbleib in Österreich.
1.3. Die allgemeine Situation im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer hat sich in Bezug auf die bereits im vorangegangenen Asylverfahren behandelten Aspekte nicht geändert. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation Drohungen oder Gewalthandlungen von staatlicher oder privater Seite zu erwarten hätten. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass sie in eine ihre Existenz bedrohende Notlage gerieten.
Konkret werden folgende Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,
http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017
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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017
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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,
https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017
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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,
http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017
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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,
http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet