Entscheidungsdatum
19.02.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W203 2159286-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX .1990, StA. Syrien, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, Steinergasse 3/12, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2017, Zl. 1091265305 - 151559467/BMI-BFA_KNT_RD, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, in der geltenden Fassung, der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein syrischer Staatsbürger, stellte am 15.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am Tag der Antragsstellung wurde der BF durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er Moslem - genauer: Sunnit - sei und der Volksgruppe der Kurden angehöre. Er sei am XXXX .1990 in XXXX , Syrien, geboren. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Familie bestünde aus seinem Vater, seiner Mutter und drei Brüdern. Ein Bruder lebe in Deutschland. Der BF habe Anfang August 2015 den Entschluss gefasst, aus seinem Heimatland auszureisen. Am 08.08.2015 habe er mit dem PKW illegal - von XXXX aus - Syrien verlassen. Sein Reisepass befinde sich bei seinen Eltern in Syrien, da ihn Bekannte dorthin zurückgebracht hätten. Der BF wolle unbedingt nach Deutschland weiterreisen, da sein Bruder dort seit 2010 lebe. Befragt nach seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass in Syrien Krieg herrsche und in XXXX bereits viele Leute umgebracht worden seien. Er sei aus Angst um sein Leben geflüchtet. Seine Eltern seien für die Flucht zu alt und seine Brüder hätten sich vorerst versteckt und würden auch flüchten wollen.
3. Am 03.03.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei bestätigte er die in der Erstbefragung gemachten Angaben zu seiner Person sowie zu seiner Fluchtroute. Er gab an, dass der Dolmetscher bei der Erstbefragung zwar kurdisch gesprochen habe, er ihn aber nicht zu 100 % verstanden habe. Es könnte zu Unstimmigkeiten gekommen sein, das wisse er aber nicht, es sei aber eine Rückübersetzung erfolgt. Er könne keine Dokumente vorlegen, da ihm auf der Flucht sein Rucksack gestohlen worden wäre, in dem sich sein Personalausweis befunden habe. Der BF habe keine Schule besucht, er habe als Schlosser auf dem Bau gearbeitet. Er habe in Syrien keine Verwandten mehr, diese würden sich alle - bis auf den Vater, der letztes Jahr gestorben sei - seit ca. April 2015 in der Türkei befinden. Er habe in einem Dorf bei XXXX namens XXXX gelebt. Seine Familie hätte dort eine Landwirtschaft betrieben. In dieser habe er mitgearbeitet. Es sei der Familie weder schlecht noch ganz gut gegangen. Er habe Syrien mit der ganzen Familie gemeinsam aufgrund des Krieges verlassen. Viele aus seiner Familie seien gestorben, er wolle selbst nicht getötet werden und auch keine Toten mehr sehen. Sie seien vor dem IS geflüchtet. Er sei illegal ausgereist. Er sei an keinem Kontrollpunkt kontrolliert worden. Er habe keinen Kontakt zu IS-Kämpfern gehabt, habe diese aber gesehen, ohne von ihnen persönlich bedroht oder geschädigt worden zu sein. Die IS-Kämpfer seien ca. 15 Tage in der Umgebung gewesen und er habe erfahren, dass die umliegenden Dörfer erobert worden seien. Er habe die Kämpfer gesehen, als diese in ihr Dorf gekommen seien. Aufgrund dieser Tatsache sei der BF mit seiner Familie geflüchtet, da die IS-Kämpfer auf das Dorf geschossen und Bomben geworfen hätten. Es seien zwei Cousins väterlicherseits und eine Cousine mütterlicherseits getötet worden. Diese hätten im Dorf des BF gewohnt, wären aber bei der Arbeit in einem anderen Dorf getötet worden. Als die IS-Kämpfer einen Teil des Dorfes erobert hätten, sei die Familie geflüchtet. Das syrische Militär sei nicht vor Ort gewesen. Dem BF sei gesagt worden, er solle gegen den IS kämpfen, er habe aber nicht töten bzw. selbst getötet werden wollen. Er sei von der YPG nur aufgefordert, aber nicht gezwungen worden, zu kämpfen. Die YPG habe ihn dazu aufgefordert. Er sei in Syrien nicht persönlich bedroht oder verfolgt worden. Er habe bereits in der Erstbefragung angegeben, dass seine Brüder gemeinsam mit ihm geflüchtet seien, dies sei von der Dolmetscherin falsch verstanden worden. Diese habe einen anderen Dialekt gesprochen. Bei einer Rückkehr nach Syrien würde ihm nichts passieren, aber er habe dort niemanden mehr. Wenn der Krieg zu Ende sei, könne man ihn nach Syrien zurückschicken. Er habe in Syrien keinen Militärdienst leisten müssen, da seine Familie ihn nicht zu diesem geschickt hätte, da bereits einige seiner Familie in den Bergen mit den Guerillas gekämpft hätten. Es sei niemand seiner Familie in Syrien im Bürgerkrieg gegen den IS oder gegen das Regime im Kampf eingesetzt worden. Zwei Cousins väterlicherseits seien bei der YPG gewesen. Der BF habe sich meist versteckt und es sei so nicht versucht worden, ihn für das syrische Regime zu rekrutieren. Er habe sonst keine Probleme mit den Behörden in seinem Heimatland gehabt und dies sei auch nicht aufgrund seiner Religion oder Volksgruppenzugehörigkeit der Fall gewesen. Er habe niemals an Kampfhandlungen in Syrien teilgenommen und sei auch niemals in Haft gewesen. Der BF sei nicht politisch aktiv gewesen. Er bezog wie folgt mündlich Stellung zu den Länderfeststellungen: Es seien sehr viele Menschen getötet worden und er wünsche sich, dass der Krieg endlich zu Ende gehe.
4. Mit Bescheid vom 26.04.2017 - zugestellt am 04.05.2017- wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der BF, der sich in einem guten gesundheitlichen Zustand befinde, Syrien aufgrund der Bürgerkriegslage verlassen habe. Es sei nicht glaubhaft, dass dieser in Syrien einer individuellen und konkreten Bedrohung oder Verfolgung seitens des IS und der YPG ausgesetzt sei. Auch staatlicherseits habe keine individuelle und konkrete Bedrohung festgestellt werden können. Der BF sei auch nicht aufgrund seiner Religions- oder Volksguppenzugehörigkeit einer Bedrohung ausgesetzt gewesen. Da der BF keine originalen, unbedenklichen und nationalen Identitätsdokumente vorgelegt habe, stünden seine Identität und sein tatsächliches Alter nicht fest. Der Name XXXX , sowie das Geburtsdatum XXXX .1990 dienten lediglich der Individualisierung und stellten die Verfahrensidentität dar. In der Erstbefragung habe der BF zu seinen Fluchtgründen befragt angegeben, dass in Syrien Krieg herrsche und viele Leute in XXXX umgebracht worden seien und er aus Angst um sein Leben geflüchtet sei. In der Einvernahme vor der belangten Behörde habe er angegeben, dass er Syrien aufgrund des Krieges verlassen habe und dass viele aus seiner Familie gestorben seien und er selbst vor dem IS geflüchtet sei. Er habe keine individuelle konkrete Bedrohung angegeben. Er habe angegeben, dass die IS-Kämpfer ihn weder persönlich bedroht noch sonst wie geschädigt hätten. Es ergäbe sich das Bild, dass der BF das Land verlassen habe, bevor es zu einem Kontakt mit den IS-Kämpfern gekommen sei. Er habe angegeben, durch die YPG aufgefordert worden zu sein, mitzukämpfen, aber es habe ihn niemand gezwungen, an den Kämpfen teilzunehmen. In den aktuellen Länderinformationen zu Syrien sei festgehalten, dass das Syrische Regime nur dort Zwangsrekrutierungen durchführe, wo das syrische Militär vorherrschend sei. Der BF habe sich vor dem Verlassen seines Herkunftslandes in einem von YPG und zum Teil vom IS besetzten Gebiet aufgehalten, so dass eine Zwangsrekrutierung ausgeschlossen werden könne. Er habe selbst angegeben, dass "das syrische Militär nicht dort war". Befragt dazu, was bei einer Rückkehr nach Syrien passieren würde, habe der BF angegeben, dass "nichts passieren würde, dass er aber niemanden mehr in Syrien habe". Der BF habe somit keinen Fluchtgrund im Sinne der Genfer Konvention geltend gemacht. Es könne keine konkrete, individuell gegen ihn selbst gerichtete Verfolgung oder Furcht vor Verfolgung festgestellt werden.
5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der BF fristgerecht am 23.05.2017 - eingelangt am 24.05.2017 - Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass er aufgrund der drohenden Zwangsrekrutierung durch die YPG, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten in Syrien, geflohen sei. Der BF habe weder dem Regime noch der YPG als Soldat dienen wollen und fürchte, bei einer Rückkehr dazu gezwungen zu werden. Außerdem sei er als Kurde gefährdet, von radikal islamistischen Gruppen wie dem IS verfolgt zu werden. Der BF habe sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen. Er sei nicht mit der gebotenen Tiefe und damit näher zu einer möglichen Rekrutierung durch die YPG und zu seiner Lage in Syrien als Kurde befragt worden und die belangte Behörde habe ihre eigenen Berichte nur unvollständig ausgewertet. Es reiche aus, wenn die Angst vor einer drohenden Verfolgung objektiv nachvollziehbar sei, eine Verfolgung müsse noch nicht vor der Ausreise konkret erlitten worden sein. Von einschlägigen Länderberichten bestätigt sei, dass es seit 2014 in den von der PYD kontrollierten Gebieten eine gesetzliche Verpflichtung zum Wehrdienst gäbe und jede Familie dazu verpflichtet sei, Familienmitglieder im Alter von 18 bis 30 Jahren als "Freiwillige" für einen sechsmonatigen Wehrdienst aufzubieten. Die belangte Behörde werte ihre selbst angeführten Berichte nur unvollständig aus, diese würden sich zum Großteil mit dem Vorbringen des BF decken, jedoch lege die belangte Behörde nur diejenigen der Entscheidung zugrunde, die dem BF zum Nachteil gereichen würden. Insbesondere habe die belangte Behörde es verabsäumt, die spezielle Situation in den Gebieten unter kurdischer Kontrolle näher auszuwerten, auch die Situation der Kurden als ethnische Minderheit in Syrien werde nicht ausreichend gewürdigt. Angehörige der Volksgruppe der Kurden würden eine besonders vulnerable Gruppe darstellen. Der BF habe detailliert und lebensnahe berichtet, wie und wann die IS-Kämpfer nach XXXX gekommen seien und die Region erobert hätten, und dass er geflüchtet sei, als sie einen Teil seines Heimatortes unter ihre Kontrolle gebracht hätten, wobei einige seiner Verwandten ums Leben gekommen seien. Der BF habe auch angegeben, von der YPG zum Kampf aufgefordert worden zu sein. In der Staatendokumentation der belangten Behörde sei festgehalten, dass es durch die YPG zu Zwangsrekrutierungen komme. Der BF sei zu einer Verfolgung durch die YPG nicht näher befragt worden. Weiters seien keine Feststellungen zur Wehrpflicht des BF getroffen worden, sonst hätte die belangte Behörde feststellen müssen, dass der BF als junger Mann gefährdet sei, eingezogen zu werden. Weiters habe sich die Lage der Kurden seit dem Krieg massiv verschlechtert und sie seien in besonderem Ausmaß Ziel islamistischer Gruppierungen wie der Al-Quaida, der Al-Nusra-Front oder des IS. Die syrische Regierung sei nicht in der Lage und nicht gewillt, die kurdische Bevölkerung vor dieser Verfolgung zu schützen.
6. Mit Schreiben vom 26.05.2017, eingelangt am 29.05.2017, legte die belangte Behörde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - den gegenständlichen Verfahrensakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person des BF
Die Identität des BF steht nicht fest, da dieser im Verfahren keine Identitätsdokumente vorlegte. Der im Verfahren verwendete Name und das Geburtsdatum dienen nur der Individualisierung und stellen eine Verfahrensidentität dar.
Der BF befindet sich im wehrdienstfähigen Alter und verfügt über eine gute gesundheitliche Verfassung.
Bei einer Rückkehr des BF ist vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte davon auszugehen, dass ihm Zwangsrekrutierung durch kurdische Milizen sowie Verfolgung wegen Unterstellung einer regimekritischen Haltung durch syrische Behörden auf Grund seiner Absicht, den Militärdienst in der syrischen Armee zu verweigern, drohen. Er ist gefährdet, festgenommen, allenfalls zwangsrekrutiert und dadurch zu völkerrechtswidrigen Handlungen gezwungen, misshandelt oder getötet zu werden.
Darüber hinaus stellt die Zugehörigkeit des BF zur kurdischen Volksgruppe in Verbindung mit seiner Ausreise, seinem Auslandsaufenthalt und seiner Asylantragsstellung einen weiteren Risikofaktor für eine Verfolgung in Syrien dar.
Es kann aus den oben genannten Gründen davon ausgegangen werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine für eine Asylgewährung hinreichend intensive Verfolgung durch die syrischen Behörden sowie die YPG zu befürchten hätte.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Syrien
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Seit Jahren versuchen immer mehr Männer die Rekrutierung zu vermeiden, indem sie beispielsweise das Land verlassen oder lokalen bewaffneten Gruppen beitreten, die das Regime unterstützen. Jenen, die den Militärdienst verweigern, oder auch ihren Familienangehörigen, können Konsequenzen drohen. Es ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß die Rekrutierung durch die syrische Armee in verschiedenen Gebieten Syriens, die unter der Kontrolle verschiedener Akteure stehen, tatsächlich durchgesetzt wird, und wie dies geschieht. In der syrischen Armee herrscht zunehmende Willkür und die Situation kann sich von einer Person zur anderen unterscheiden (FIS 23.8.2016).
Die Rekrutierung von männlichen Syrern findet nach wie unvermindert statt (DRC/DIS 8.2017). Für männliche syrischen Staatsbürger und Palästinenser, welche in Syrien leben, ist ein Wehrdienst von 18 oder 21 Monaten ab dem Alter von 18 Jahren verpflichtend, außerdem gibt es einen freiwilligen Militärdienst. Frauen können ebenfalls freiwillig einen Militärdienst ableisten (CIA 5.12.2017; vgl. FIS 23.8.2016; vgl. BFA 8.2017). Diejenigen männlichen palästinensischen Flüchtlinge, im Alter von 18 bis 42 Jahren, welche vor 1956 bei der General Administration for Palestine Arab Refugees (GAPAR) registriert waren, und deren Nachkommen müssen den verpflichtenden Wehrdienst bei der Palästinensischen Befreiungsarmee (PLA), einer Einheit der syrischen Streitkräfte, ableisten. Für diese Palästinenser gelten die gleichen Voraussetzungen für den Wehrdienst wie für Syrer (BFA 8.2017).
Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Militärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit, oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsatz verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. "Rekrut" ist der niedrigste Rang, und die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (BFA 8.2017).
Normalerweise werden Einberufungsbefehle schriftlich mit der Post zugestellt, zur Zeit wird jedoch eher auf persönlichem Wege zum verpflichtenden Militärdienst rekrutiert, um ein Untertauchen der potentiellen Rekruten möglichst zu verhindern. Zu diesem Zweck werden Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros zum Haus der Wehrpflichtigen geschickt. Wenn der Gesuchte zu Hause ist, wird er direkt mitgenommen. Wenn er nicht zu Hause ist, wird der Familie mitgeteilt, dass er sich bei der nächsten Kaserne zu melden habe. Es gibt immer wieder Razzien, wie zum Beispiel Anfang Mai 2017, als bei einem Fußballspiel in Tartus alle Männer beim Verlassen des Stadions versammelt und zum Dienst verpflichtet wurden. Einige Zeit zuvor gab es einen weiteren Vorfall, bei dem vor einem Einkaufszentrum in Damaskus alle wehrfähigen Männer eingesammelt und rekrutiert wurden. Auch ein "Herauspflücken" bei einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet. Die Altersgrenze ist auf beiden Enden des Altersspektrums nur theoretisch und jeder Mann in einem im weitesten Sinne wehrfähigen Alter, kann rekrutiert werden (BFA 8.2017; vgl. FIS 23.8.2016; vgl. Syria Direct 7.12.2017). Berichten zufolge besteht aber auch für - teils relativ junge - Minderjährige die Gefahr, in Zusammenhang mit der Wehrpflicht an Checkpoints aufgehalten zu werden und dabei Repressalien ausgesetzt zu sein (UNHCR 30.11.2016). Wenn eine persönliche Benachrichtigung nicht möglich ist, können Männer, die das wehrfähige Alter erreichen, auch durch Durchsagen im staatlichen Fernsehen, Radio oder der Zeitung zum Wehrdienst aufgerufen werden (DIS 26.2.2015).
Die syrische Armee hat durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (FIS 23.8.2016; vgl. ISW 8.3.2017). Viele weigern sich, der Armee beizutreten. Die regulären Rekrutierungsmethoden werden in Syrien noch immer angewendet, weil das Regime zeigen will, dass sich nichts verändert hat, und das Land nicht in totaler Anarchie versinkt. Es gibt auch Männer im kampffähigen Alter, die frei in Syrien leben. Dem Regime liegt nicht daran, alle wehrtauglichen Personen in die Flucht zu treiben. Es werden nämlich auch künftig motivierte Kämpfer benötigt (FIS 23.8.2016).
Bei der Einreise nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder andere Einreisepunkte in Gebiete, die vom syrischen Regime kontrolliert werden, wird bei Männern im wehrfähigen Alter überprüft, ob diese ihren Militärdienst bereits abgeleistet haben. Selbst wenn sie ihren Militärdienst bereits absolviert haben, kommt es vor, dass Männer im wehrfähigen Alter erneut zwangsrekrutiert werden (IRB 19.1.2016; vgl. Zeit 10.12.2017).
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, und auch nicht aus anderen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017; vgl. PAR 15.11.2017)
Befreiung und Aufschub
Es gibt verschiedene Gründe, um vom Militärdienst befreit zu werden. Der einzige Sohn einer Familie, Studenten oder Versorger der Familie können vom Wehrdienst befreit werden oder diesen aufschieben. Außerdem sind Männer mit Doppelstaatsbürgerschaft, die den Wehrdienst bereits in einem anderen Land abgeleistet haben, üblicherweise vom Wehrdienst befreit (FIS 23.8.2016; vgl. DIS 26.2.2015). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, die Situation in der Praxis ist jedoch anders. Präsident al-Assad versucht den Druck in Bezug auf den Wehrdienst zu erhöhen, und es gibt nun weniger Befreiungen und Aufschübe beim Wehrdienst. Generell werden die Regelungen nun strenger durchgesetzt, außerdem gibt es Gerüchte, dass Personen trotz einer Befreiung oder eines Aufschubs rekrutiert werden. Was die Regelungen zur Befreiung oder zum Aufschub des Wehrdienstes betrifft, so hat man als einziger Sohn der Familie noch die besten Chancen. Das Risiko der Willkür ist jedoch immer gegeben (BFA 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Unbestätigte Berichte legen nahe, dass der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit über den Wegfall von Aufschubgründen informiert ist, und diese auch digital überprüft werden. Zuvor mussten Studenten den Status ihres Studiums selbst dem Militär melden, in den letzten zwei Jahren wird der Status von Studenten aktiv überprüft. Generell werden Universitäten nun strenger überwacht und von diesen wird nun verlangt, dass sie das Militär über die Anwesenheit bzw. Abwesenheiten der Studenten informieren. Kürzlich gab es eine Änderung bezüglich des Aufschubs aufgrund eines Lehramts-Studiums. Zuvor war es möglich, einen Aufschub des Wehrdienstes zu erwirken, wenn man ein Lehramts-Masterstudium begann, unabhängig davon welches Bachelor-Studium man zuvor absolviert hatte. Dieser Aufschubgrund funktioniert nun nur noch, wenn man auch den Bachelorabschluss im Lehramtsstudium gemacht hat (BFA 8.2017).
Es gibt Beispiele, dass Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann, sondern schlicht Willkür darstellt. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt, im Zuge des aktuellen Konfliktes - manchmal sogar Jahre danach - trotzdem eingezogen zu werden (BFA 8.2017).
Es gibt ein Gesetz, das syrischen Männern, die mehr als fünf Jahre außerhalb des Landes gelebt haben, gegen Zahlung eines Bußgeldes die Befreiung vom Militärdienst ermöglicht. Diese Gebühr wurde von 5.000 USD auf 8.000 USD erhöht (BFA 8.2017).
Christliche und muslimische religiöse Führer können weiterhin den Kriegsdienst verweigern, wobei muslimische Führer eine Abgabe bezahlen müssen, um vom Kriegsdienst befreit zu werden (USDOS 15.8.2017). Zunehmend zieht die Regierung, wie berichtet wird, zuvor "geschützte" Personen wie Studenten, Beamte und Häftlinge zum Militärdienst ein (BFA 8.2017; vgl. UNHCR 3.11.2017). Von Staatsangestellten wird erwartet, dass sie dem Staat zur Verfügung stehen. Um sich ein "Pool" von potentiell zur Verfügung Stehenden zu sichern, wurde ein Dekret bezüglich Staatsangestellte und Wehrdienst erlassen: Laut Legislativdekret Nr. 33 von 2014 wird das Dienstverhältnis von Staatsangestellten beendet, wenn sie sich der Einberufung zum Wehr- oder Reservedienst entziehen (BFA 8.2017). Hierzu gab es bereits Ende 2016 ein Dekret, welches jedoch nicht umfassend durchgesetzt wurde. Im November 2017 gab es eine erneute Direktive des Premierministers Imad Khamis, laut der "die Anstellung von jenen beendet werden soll, die den verpflichtenden Wehrdienst oder den Reservedienst vermeiden". Dieser Direktive folgten bereits Entlassungen, wobei nicht bekannt ist, in welchem Ausmaß sie stattfinden (Syria Direct 7.12.2017). Gerade auch in alawitischen Gebieten gibt es eine Verbindung zwischen Staatsangestellten und der Notwendigkeit der Erfüllung bürgerlicher Pflichten (BFA 8.2017).
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Besonders aus dem Jahr 2012 gibt es Berichte von desertierten syrischen Soldaten, welche gezwungen wurden, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Falls sie sich weigerten, wären sie Gefahr gelaufen, erschossen zu werden (AI 6.2012).
Wehrdienstverweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft, die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort. In Kriegszeiten wird Wehrdienstverweigerung laut Gesetz, je nach den Umständen, mit Gefängnisstrafen von bis zu 5 Jahren bestraft. Nach Verbüßen der Strafe muss der Wehrdienstverweigerer weiterhin den regulären Wehrdienst ableisten. Bei einer Wehrdienstverweigerung hat man die Möglichkeit sich zu verstecken und das Haus nicht mehr zu verlassen, das Land zu verlassen, sich durch Bestechung freizukaufen oder einer anderen Gruppierung beizutreten. Bezüglich Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die Meinungen der Quellen auseinander. Während die einen eine Foltergarantie und Todesurteil sehen, sagen andere, dass Verweigerer sofort eingezogen werden (BFA 8.2017). Die Konsequenzen hängen jedoch vom Profil und den Beziehungen der Person ab. Wenn es eine Verbindung zu einer oppositionellen Gruppe gibt, wären die Konsequenzen ernster (DIS 26.2.2015).
Wenn jemand den Wehrdienst verweigert und geflohen ist, gibt es die Möglichkeit seinen Status zu "regularisieren", wobei möglicherweise auch ein signifikanter Betrag zu entrichten ist (gerüchteweise bis zu 8.000 USD). Eine solche "Regularisierung" schützt allerdings nicht automatisch vor Repressalien oder einer zukünftigen Rekrutierung. Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen "terroristische" Bedrohungen zu schützen (BFA 8.2017).
Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (so genannte externe Desertion), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt (BFA 8.2017).
In vielen Fällen erwartet Deserteure der Tod. Möglicherweise werden sie inhaftiert, befragt und gefoltert, wobei die Behandlung eines Deserteurs auch davon abhängt wer er ist, welcher Konfession er angehört, wie wohlhabend er ist etc. Die große Sorge vieler ist hierbei auch, dass dies nicht nur den Tod des Deserteurs oder die Vergeltung gegen ihn, sondern auch Maßnahmen gegen seine Familie nach sich ziehen kann. Die gängige Vorgehensweise ist, Deserteure nicht zurück an die Front zu schicken, sondern sie zu töten. Berichten zufolge werden sie an Ort und Stelle erschossen. Theoretisch ist ein Militärgerichtsverfahren vorgesehen und Deserteure könnten auch inhaftiert und dann strafrechtlich verfolgt werden. Außergerichtliche Tötungen passieren dennoch (BFA 8.2017; vgl. FIS 23.8.2017). Für ‚desertierte', vormals bei der Armee arbeitende Zivilisten gelten dieselben Konsequenzen wie für einen Deserteur. Solche Personen werden als Verräter angesehen, weil sie über Informationen über die Armee verfügen (FIS 23.8.2016).
Im Gegensatz zum Beginn des Konfliktes haben sich mittlerweile die Gründe für Desertion geändert: Nun desertieren Soldaten, weil sie kampfmüde sind und dem andauernden Krieg entkommen wollen (BFA 8.2017).
Auch Familien von Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern haben mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie kann von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder (auch weibliche) können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Manchmal wird ein Bruder oder der Vater eines Deserteurs ersatzweise zur Armee rekrutiert (FIS 23.8.2016; vgl. BFA 8.2017).
In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle des Regimes gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bzgl. Wehrdienst getroffen. Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt, sondern stattdessen bei der Polizei eingesetzt werden. Berichten zufolge wurden solche Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen, was jedoch schwer zu beweisen ist (BFA 8.2017).
Quellen:
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FIS - Finnish Immigration Service (23.8.2016): Syria: Military Service, National Defence Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition,
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Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion (2014 - December 2015) [SYR105361.E],
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http://www.sana.sy/?p=656572, Zugriff 7.12.2017
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Syria Direct (7.12.2017): Syrian public sector employees fired in latest government conscription effort, http://syriadirect.org/news/syrian-public-sector-employees-fired-in-latest-government-conscription-effort/, Zugriff 13.12.2017
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SLJ - Syrian Law Journal via Twitter (10.11.2017): Kurznachricht vom 10.11.2017 08:37,
https://twitter.com/syrian_law/status/929025146429624320, Zugriff 7.12.2017
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UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (30.11.2016): Ergänzende aktuelle Länderinformationenen; Syrien: Militärdienst, https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1481012908_coi-military-recruitment-syria.pdf, Zugriff 12.12.2017
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UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (3.11.2017):
International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic; Update V, https://www.ecoi.net/file_upload/90_1509950296_2017-11-03-unhcr-syria-protection-considerations-v.pdf, Zugriff 12.12.2017
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USDOS - US Department of State (15.8.2017): 2015 Report in International Religious Freedom - Syria, https://www.ecoi.net/local_link/345237/489032_de.html, Zugriff 12.12.2017
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Zeit Online (10.12.2017): Der Weg zurück nach Syrien, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-12/syrien-fluechtlinge-rueckkehr/komplettansicht, Zugriff 11.12.2017
Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)
Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) sind der bewaffnete Flügel der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) (FIS 23.8.2016). Bis 2014 war der Militärdienst bei der YPG freiwillig. Seit 2014 gibt es jedoch in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst. Jede Familie ist dazu verpflichtet, ein Familienmitglied im Alter von 18 bis 30 Jahren als "Freiwilligen" für einen sechsmonatigen Wehrdienst bei der YPG aufzubieten. Wird dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, kommt es zu Zwangsrekrutierungen, sowohl von Erwachsenen als auch von Minderjährigen, oder zu rechtlichen Konsequenzen (KurdWatch 30.6.2016; vgl. SEM 21.12.2015). In Artikel 2 und 3 des Wehrpflichtgesetzes wird zunächst der Personenkreis definiert, auf den sich das Gesetz bezieht. So heißt es in Artikel 2: "Die Pflicht zur Selbstverteidigung ist eine gesellschaftliche und moralische Pflicht der gesamten Bevölkerung. Aufgrund dessen obliegt es jeder in der Region ansässigen Familie, einen Angehörigen für die Ausübung der Pflicht zur Selbstverteidigung zu stellen."
Artikel 3 führt weiter aus: "Die Bestimmungen dieses Gesetzes gelten für alle männlichen Personen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren. Frauen können sich freiwillig zur Selbstverteidigung verpflichten."
Der Wehrdienst beträgt gemäß Artikel 4 sechs Monate, die in der Regel innerhalb von höchstens einem Jahr abzuleisten sind. Laut Artikel 5 sind Personen, deren Familien "einen Märtyrer aus den Reihen der Volksverteidigungseinheiten, des Asayis [Sicherheitsdienstes] oder der kurdischen Volksbefreiungsbewegung zu beklagen haben" sowie Einzelkinder von der Wehrpflicht befreit. Ferner sind Menschen freigestellt, die die Wehrpflicht aus gesundheitlichen Gründen nicht ausüben können, und darüber ein ärztliches Attest vorweisen können (KurdWatch 5.2015).
Das Grundproblem dieses Gesetzes besteht zum einen darin, dass es nicht von einer dazu legitimierten staatlichen Instanz beschlossen wurde, sondern von einem von der PYD eingesetzten Gremium. Beim bewaffneten Arm der PYD, den YPG, handelt es sich nicht um eine quasistaatliche Armee, sondern um eine Parteimiliz. Zum anderen sieht das Gesetz keine Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vor (KurdWatch 5.2015).
Die YPG unternimmt umfangreiche Rekrutierungskampagnen - auch aufgrund der Schlacht um Raqqa. Die YPG verkündete kürzlich eine Amnestie für Wehrdienstverweigerer, laut welcher diese die zusätzliche Dienstzeit von üblicherweise 3 Monaten, die als Bestrafung definiert ist, nicht ableisten müssen, sondern nur die reguläre Wehrdienstdauer. Berichten zufolge kommt es in den kurdischen Gebieten zu Zwangsrekrutierungen von Männern und Jungen (BFA 8.2017). Mehrfach ist es zu Fällen gekommen, in denen Männer von der YPG rekrutiert werden, die älter als 30 Jahre waren. Dabei handelte es sich um Personen, die PYD-kritisch politisch aktiv waren, und die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Rekrutierung abgestraft werden sollten (ES EZKS 3.11.2017).
Während einer Fact Finding Mission der Staatendokumentation des BFA gaben zwei Quellen an, dass es keine Beweise für Zwangsrekrutierungen von Frauen durch die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) gibt, es jedoch einzelne Fälle der Zwangsrekrutierung von Frauen in kleineren lokalen kurdischen Milizen, die gegen den IS kämpfen, geben kann (BFA 8.2017). Laut Eva Savelsberg vom Europäischen Zentrum für Kurdische Studien sind jedoch auch Frauen und Mädchen von Zwangsrekrutierungen betroffen:
KurdWatch und das Europäische Zentrum für Kurdische Studien haben mehrere Fälle recherchiert, in denen minderjährige Mädchen rekrutiert bzw. zwangsrekrutiert wurden. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen kurdische Frauen, die der YPG zunächst freiwillig beitraten, daran gehindert wurden, die YPG wieder zu verlassen (ES EZKS 3.11.2017).
Organisationen wie Human Rights Watch, den Vereinten Nationen und KurdWatch zufolge rekrutiert die YPG sogar Kinder, einige nicht älter als zwölf Jahre, um sie im Kampf einzusetzen. Nurman Ibrahim Khalifa etwa wurde von der YPG entführt, als sie dreizehn Jahre alt war, und in ein PKK-kontrolliertes Lager in Irakisch-Kurdistan verschleppt. Während ihres Zwangsaufenthaltes dort wurde sie Zeugin, wie eine achtzehnjährige Frau nach mehreren Fluchtversuchen aus dem Lager öffentlich von einer PKK-Funktionärin hingerichtet wurde. Der tote Körper der Frau wurde in den nahe gelegenen Fluss geworfen. Derartige Brutalität ist eher die Regel als die Ausnahme; Zwangsrekrutierungen sind seit ihrer Einführung zu einem der Hauptgründe junger, kurdischer Männer geworden, aus den kurdischen Regionen zu fliehen. Dies trifft nicht auf junge Araber zu: Im Gegensatz zu Kurden sind sie nicht von Zwangsrekrutierungen betroffen. Wenn Araber in den kurdischen Gebieten rekrutiert werden, dann vom syrischen Regime (ES BFA 8.2017).
Die syrische Regierung zog sich 2012 weitgehend aus der Jazira Region im Nordosten Syriens zurück, hat ihre Kontrolle jedoch in zwei urbanen Zentren der Region, Hassakah und Teilen von Qamishli, aufrechterhalten. Die PYD kontrolliert den Großteil der Jazira, abgesehen von diesen beiden urbanen Zentren. Die Regierung hat in der Jazira jedoch noch immer essentielle Machtstrukturen inne, weshalb in dieser Region ein duales Sicherheitsarrangement herrscht. Die administrativen Strukturen der Regierung und der PYD überschneiden sich, zumindest in Bezug auf Überwachung und die Militarisierung der lokalen Bevölkerung. So kann es jungen Männern in der Jazira-Region passieren, dass sie von beiden Seiten zum verpflichtenden Wehrdienst einberufen werden, weil keine der beiden Gruppierungen die offiziellen Militärdienstdokumente der jeweils anderen anerkennt (BFA 8.2017).
Quellen:
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BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak,
https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 12.12.2017
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ES BFA - Eva Savelsberg: Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 bis 2017) in BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 12.12.2017
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ES EZKS - Eva Savelsberg vom Europäischen Zentrum für Kurdische Studien (3.11.2017): Informationen per E-Mail
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FIS - Finnish Immigration Service (23.8.2016): Syria: Military Service, National Defence Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition,
https://coi.easo.europa.eu/administration/finland/PLib/Report_Military-Service_-Final.pdf, Zugriff 11.12.2017
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KurdWatch (5.2015): Zwangsrekrutierungen und der Einsatz von Kindersoldaten durch die Partei der Demokratischen Union in Syrien, http://www.kurdwatch.org/pdf/KurdWatch_A010_de_Zwangsrekrutierung.pdf, Zugriff 12.12.2017
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KurdWatch (30.6.2016): New Document: Memo on forced recruitment in the Kobani Canton,
http://www.kurdwatch.org/newsletter/pdf/KurdWatch_D040_de_ar.pdf?e3883, Zugriff 12.12.2017
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SEM - Staatssekretariat für Migration (21.12.2016): Focus Syrien - Aktuelle Lage in Syrien,
https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/asien-nahost/syr/SYR-lage-referat-d.pdf, Zugriff 12.12.2017
Rekrutierung durch andere nicht-staatliche Gruppierungen
Was die nicht-staatlichen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung nicht klar definiert. Die Frage ist, ob man sich dem Druck durch die Milizen und die Gesellschaft entziehen kann. Zwangsrekrutierung per se durch Milizen in Syrien ist nicht dokumentiert, aber Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten ein Problem. So herrscht z.B. in Idlib, wo es zahlreiche Gruppierungen gibt, großer Druck sich einer bewaffneten Gruppierung anzuschließen, wobei auch die Bezahlung eine Motivation darstellen kann (BFA 8.2017).
Oppositionsgruppen haben ihre eigenen Vorgehensweisen bei der Rekrutierung, und die Situation kann von der jeweils verantwortlichen Person bzw. Gruppierung abhängen (FIS 23.8.2016; vgl. DRC/DIS 8.2017). Die Informationslage zu den Rekrutierungspraktiken einer Gruppierung ist nicht immer eindeutig. Dies zeigen beispielsweise divergierende Aussagen mehrerer Experten zu Rekrutierungsmethoden der Gruppierung Jabhat al-Nusra (Nusra-Front). Laut einer Quelle wenden jihadistische Gruppierungen, wie Jabhat al-Nusra, Gewalt bei der Rekrutierung an und eine Weigerung, der Gruppe beizutreten, hieße, sich auf die Seite der Regierung zu stellen. Andere Quellen sind der Ansicht, dass eine Gruppe wie diese nur auf Rekruten zurückgreift, denen sie vertraut, die sie kennt und deren Familien sie kennt, oder auch, dass die Nusra-Front bei der Rekrutierung stark auf Propaganda setzt. Einer weiteren Quelle zufolge seien solche Berichte schwer zu bestätigen, auch aufgrund der Propaganda, die von der Gruppe selbst oder gegnerischen Gruppen verbreitet wird. Gruppen, die zur Freien Syrischen Armee (FSA) gehören, würden eher auf freiwilliger Basis rekrutieren, im Angesicht von Angriffen der Regierung hätten bewaffnete Gruppen, darunter auch die FSA, jedoch jeden gezwungen ihnen beizutreten (DRC/DIS 8.2017).
Quellen:
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BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak,
https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 12.12.2017
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DRC/DIS - Danish Refugee Council/ The Danish Immigration Service (8.2017): Syria, Recruitment Practices in Government-controlled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria,
https://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/7AF66D4A-5407-4B98-9750-7B16318EF188/0/SyrienFFMrapportaugust2017.pdf, Zugriff 12.12.2017
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FIS - Finnish Immigration Service (23.8.2016): Syria: Military Service, National Defence Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition,
https://coi.easo.europa.eu/administration/finland/PLib/Report_Military-Service_-Final.pdf, Zugriff 11.12.2017