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22/02 ZivilprozessordnungNorm
B-VG Art140 Abs1 Z1 litdLeitsatz
Keine Verfassungswidrigkeit der - vom Obersten Gerichtshof in seiner Rechtsprechung angenommenen - Bindungswirkung zivilgerichtlicher Urteile nach Streitverkündung; Möglichkeit von Nebenintervenienten zur Geltendmachung ihrer Rechte im Vorprozess; kein Verstoß gegen den Grundsatz der WaffengleichheitRechtssatz
Abweisung des - zulässigen - Parteiantrags auf Aufhebung des §21 Abs1 und Abs2 ZPO, in eventu des §21 ZPO zur Gänze.
Die Antragstellerin bezieht sich in ihrem Antrag auf die Judikatur zur Bindungswirkung von Vorprozessen (insbesondere im Hinblick auf die Tatsachenfeststellungen) nach einer Streitverkündung gemäß §21 ZPO.
Eine Bindungswirkung zivilgerichtlicher Urteile nach erfolgter Streitverkündung für einfache Nebenintervenienten und Personen, die sich am Rechtsstreit trotz erfolgter Streitverkündung nicht beteiligt haben, ist in der geltenden österreichischen Rechtsordnung (im Gegensatz zu Deutschland und der Schweiz) nicht ausdrücklich angeordnet, sondern wurde vom verstärkten Senat des OGH aus einem Vorbehalt zum Übereinkommen von Lugano, BGBl 448/1996, abgeleitet.
Die Antragstellerin wendet sich der Sache nach nicht gegen die Rechtsprechung des OGH, sondern gegen die gesetzlichen Vorschriften, aus denen sich in der Auslegung derselben durch den OGH Bindungswirkung ergibt. Der Bundesregierung ist zuzugestehen, dass Vollzugsfehler des Gerichtes nicht Prüfungsgegenstand eines Verfahrens nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG sind. Dem VfGH obliegt aber in diesem Zusammenhang die Kontrolle, ob die Rechtsfolge der Streitverkündung, nämlich die Bindungswirkung des Vorprozesses, verfassungskonform ist. Da die Rechtsprechung von einer unechten Regelungslücke ausgeht, welche in der Regelung des §21 ZPO besteht und vom OGH im Wege der Rechtsanalogie geschlossen wird, beschränkt die Antragstellerin ihren Antrag zu Recht auf §21 ZPO.
Art6 EMRK steht einer Bindungswirkung nach Streitverkündung - wie sie der OGH in einer Rechtsanalogie als dem §21 Abs1 ZPO zugrunde liegend annimmt (OGH 08.04.1997, 1 Ob 2123/96d) - nicht entgegen. Nach Art6 EMRK muss der Betroffene seine Rechte effektiv vertreten können. Tritt ein Dritter nach erfolgter Streitverkündung dem Rechtsstreit als Nebenintervenient bei, kann dieser seine Rechte in diesem Verfahren geltend machen. Die Bindungswirkung in solchen Fällen wird vom OGH dahingehend eingeschränkt, dass sich die Bindungswirkung nicht auf jene Personen erstreckt, denen der Streit nicht verkündet wurde und die damit nicht am Rechtsstreit teilnehmen konnten. Eine Bindungswirkung für Dritte, denen der Streit nicht verkündet wurde bzw die nicht am Prozess beteiligt waren, wäre nach der Rechtsprechung des VfGH nicht mit Art6 EMRK vereinbar (s VfSlg 12504/1990). Der OGH verneint eine Bindungswirkung in Fällen, in denen der Nebenintervenient von der Hauptpartei gehindert wurde, seine Rechte zu wahren (zB wenn die Hauptpartei Vorbringen außer Streit gestellt hat [OGH 20.12.2011, 4 Ob 137/11t]). Soweit der Nebenintervenient die Möglichkeit hat, auf Grund einer Nebenintervention am Prozess unter Bedingungen der Waffengleichheit teilzunehmen, ist eine entsprechende Bindungswirkung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Im Übrigen lässt das Gesetz Spielraum für eine verfassungskonforme Interpretation.
Bei diesem Verständnis des §21 ZPO bestehen die von der Antragstellerin geltend gemachten Bedenken nicht. Nebenintervenienten wie die Antragstellerin können ihre Bedenken (insbesondere bei Befangenheit eines Sachverständigen) angesichts rechtzeitiger Streitverkündung und ausreichender Einwendungsmöglichkeiten bereits im Vorprozess geltend machen.
Schlagworte
Zivilprozess, Bindung (der Gerichte), rechtliches Gehör, Auslegung eines Gesetzes, Auslegung verfassungskonforme, VfGH / Parteiantrag, VfGH / PrüfungsgegenstandEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2016:G331.2015Zuletzt aktualisiert am
01.03.2018