RS Vfgh 2016/12/2 G15/2016

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Veröffentlicht am 02.12.2016
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Index

22/02 Zivilprozessordnung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
StGG Art5
ZPO §57, §60 Abs1, Abs2, §62 Abs1

Leitsatz

Abweisung eines Gerichtsantrages auf Aufhebung von Bestimmungen der ZPO betreffend die Abwendung der Verpflichtung zum Erlag einer Prozesskostensicherheit durch Leistung eines Paupertätseides; nur finanziell leistungskräftige ausländische Kläger von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung betroffen; keine Wahlmöglichkeit zwischen Eidesleistung und Erlag der aktorischen Kaution; Unbedenklichkeit der Regelungen angesichts der - darin zum Ausdruck kommenden - Interessenabwägung des Gesetzgebers zwischen den Interessen des ausländischen Klägers hinsichtlich eines effektiven Zugangs zu Gericht und dem Interesse des Beklagten hinsichtlich der Leistung einer Prozesskostensicherheit

Rechtssatz

Abweisung des - zulässigen - Antrages des Handelsgerichtes Wien auf Aufhebung von Wortfolgen in §60 Abs1 und Abs2 sowie in §62 Abs1 ZPO in der Stammfassung RGBl 113/1895.

Beim Eid nach §60 Abs1 ZPO handelt es sich nicht um eine bloße Formalangelegenheit derart, dass der ausländische Kläger lediglich behaupten müsse, er sei zum Sicherheitserlag unfähig. Aus dem systematischen Zusammenhang der Regelungen, insbesondere mit §62 ZPO, ergibt sich, dass das Gericht sowohl bei der erstmaligen Festsetzung der Prozesskostensicherheit als auch bei jeder Entscheidung, die eine Änderung bezüglich dieser Sicherheit mit sich bringen soll, die Umstände des Falles entsprechend berücksichtigen muss.

Das Gericht hat im Rahmen seines Ermessens zu entscheiden, was dem ausländischen Kläger zumutbar ist. Dies setzt aber voraus, dass der Kläger nicht nur die bloße Behauptung, er sei zum Erlag der Prozesskostensicherheit unfähig, zu beeiden hat, sondern dass er seiner Eidesleistung auch die dem Gericht für seine Ermessensentscheidung notwendig scheinenden Angaben zugrunde legen muss. Diese Angaben können sich ohne weiteres auch auf jene Umstände beziehen, die einen Schluss auf die Zumutbarkeit des Erlages der Sicherheit zulassen. Der VfGH erachtet es als geboten, dass das Gericht im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit des Sicherheitserlages auch zu prüfen hat, ob die beabsichtigte Klagsführung rechtsmissbräuchlich ist. Sollte dies der Fall sein, scheidet eine Befreiung von der Sicherheitsleistung und die Leistung des Paupertätseides aus.

Den Bedenken des Handelsgerichtes Wien liegt die nach Auffassung des VfGH unzutreffende Auffassung zugrunde, dass die Regelung des §60 Abs2 ZPO ausschließlich im Zusammenhang mit der Absicherung des Prozesskostenersatzes des Beklagten steht. Es ist sicherlich richtig, dass die Möglichkeit der Anordnung des Erlags einer Sicherheit für (voraussichtliche) Prozesskosten gemäß §60 Abs2 ZPO dem Schutz des vor einem inländischen Gericht Beklagten vor missbräuchlicher und/oder kostenverursachender Rechtsanmaßung durch einen ausländischen Kläger und vor allfälligen Schwierigkeiten bei der Rechtsverfolgung im Ausland dient. Dem steht allerdings - was das antragstellende Gericht übersieht - das Interesse des ausländischen Klägers an der Klagsführung gegenüber. Ohne die Regelung des §60 Abs2 ZPO über den sogenannten Paupertätseid hätte ein ausländischer Kläger, der nicht über ausreichendes Vermögen verfügt, keinen entsprechenden Zugang zu Gericht. Wenn auch in diesem Fall die Fortsetzung des Verfahrens vom Erlag einer Sicherheitsleistung abhängig wäre, hätte dies die Unmöglichkeit der (gerichtlichen) Rechtsdurchsetzung für den Kläger zur Folge (vgl §60 Abs3 ZPO). Dies wäre im Hinblick auf den Gleichheitssatz und das Recht des Klägers auf Zugang zum Gericht gemäß Art6 EMRK verfassungswidrig; nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte läge nämlich ein Verstoß gegen Art6 EMRK vor, wenn der Zugang aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde.

(Auch) keine Verletzung des Eigentumsgrundrechtes: Das Funktionieren einer geordneten Rechtspflege - auch im Bereich des Zivilprozesses - liegt im öffentlichen Interesse; hievon ist auch ein effektiver Zugang zu Gericht umfasst. Die Möglichkeit der Befreiung von der Prozesskostensicherheit durch Ablegung eines Paupertätseides beruht auf einer Interessenabwägung des Gesetzgebers zwischen den Interessen des ausländischen Klägers hinsichtlich eines effektiven Zugangs zu Gericht und dem Interesse des Beklagten hinsichtlich der Leistung einer Prozesskostensicherheit. Diese Interessenabwägung vermag der VfGH aus den bereits oben dargelegten Argumenten betreffend die sachliche Rechtfertigung der angefochtenen Bestimmungen nicht als unverhältnismäßig zu erkennen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Zivilprozess, Prozesskosten, Kostenrisiko, Sicherheitsleistung, VfGH / Prüfungsgegenstand, Auslegung eines Gesetzes

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2016:G15.2016

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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