RS Vfgh 2016/12/2 G497/2015 ua

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Veröffentlicht am 02.12.2016
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Index

24/03 Sonstiges

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita, litd
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
VerbandsverantwortlichkeitsG §3
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien

Leitsatz

Kein Verstoß der Bestimmungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Verbandes für Straftaten seiner Entscheidungsträger bzw Mitarbeiter gegen das Sachlichkeitsgebot und das Recht auf ein faires Verfahren; Verbandsverantwortlichkeit als strafrechtliche Kategorie eigener Art nicht am Schuldprinzip zu messen; keine Unsachlichkeit der Regelung angesichts des bestehenden Konnexes zwischen der juristischen Person und der natürlichen Person; keine Verletzung der Verfahrensgarantien der EMRK

Rechtssatz

Unzulässigkeit des Parteiantrags auf Aufhebung des VerbandsverantwortlichkeitsG - VbVG zur Gänze; Zulässigkeit des (ersten) Eventualantrags auf Aufhebung des (gesamten) §3 VbVG.

Präjudizialität nur des §3 VbVG, der die materiellen Voraussetzungen umschreibt, unter denen ein Verband strafrechtlich belangt werden kann; kein untrennbarer Zusammenhang sämtlicher Bestimmungen des VbVG.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wurde die antragstellende Gesellschaft als Verband (neben verbandszugehörigen Personen - Abs4) gemäß §3 VbVG für verantwortlich erklärt, die - vom Erstgericht als Mitarbeitertat (Abs3) und nicht als Entscheidungsträgertat (Abs2) qualifizierte - Straftat eines Prokuristen unter Verletzung von Verbandspflichten (Abs1 Z1) begangen und die Begehung durch ihre Entscheidungsträger auf Grund näher umschriebener Sorgfaltsverstöße ermöglicht oder zumindest wesentlich erleichtert zu haben. §3 VbVG ist vor diesem Hintergrund (zur Gänze) präjudiziell, zumal im Rechtsmittelverfahren eine Zurechnung der Tat zum Verband nach §3 Abs2 VbVG zu prüfen sein wird.

Zulässigkeit des Antrags des Landesgerichtes Wels auf Aufhebung des §3 Abs2 VbVG.

Vertretbare Annahme, dass das Gericht bei seiner Entscheidung über den Einstellungsantrag der GmbH & Co KG gemäß §108 StPO die Frage zu klären hat, ob der gegen Entscheidungsträger iSd §2 Abs1 Z1 VbVG bestehende Verdacht strafbaren Verhaltens auch eine Verantwortlichkeit des beschuldigten Verbandes begründe und deshalb §3 Abs2 (iVm einem der beiden Tatbestände oder beiden Tatbeständen des Abs1) VbVG anzuwenden sei.

Mit der allfälligen Aufhebung des §3 Abs2 VbVG wäre die behauptete Verfassungswidrigkeit beseitigt.

Abweisung der Anträge.

Als von natürlichen Personen verschiedene Träger von Rechten und Pflichten sind juristische Personen rechtliche Konstruktionen, die - in gleicher Weise wie natürliche Personen - durch Teilnahme am Rechts- und Wirtschaftsleben bestimmte Zwecke verfolgen. Mit der Verbandsverantwortlichkeit hat der Gesetzgeber eine (neue) strafrechtliche Kategorie eigener Art geschaffen, die nicht am Maßstab des - von den beiden Antragstellern ins Treffen geführten - Schuldprinzips gemessen werden kann. Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz hat im Individualstrafrecht in Bezug auf natürliche Personen Geltung, nicht jedoch in Ansehung von rechtlichen Gebilden wie juristischen Personen. Ein verfassungsrechtliches Gebot, das den Gesetzgeber iZm der Sanktionierung von Verbänden an das Schuldprinzip bindet, lässt sich weder aus den genannten Garantien noch aus sonstigen verfassungsrechtlichen Vorgaben ableiten.

Allerdings sind iZm Taten von Entscheidungsträgern und Mitarbeitern jene allgemeinen Kriterien, die der VfGH bezüglich Regelungen, die eine Haftung Dritter vorsehen, aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitet hat - nämlich, dass gesetzliche Regelungen unsachlich sind, wenn sie einen Rechtsträger dazu verhalten, "für etwas einzustehen, womit ihn nichts verbindet", also "für Umstände, die außerhalb seiner Interessen- und Einflußsphäre liegen" - grundsätzlich auch für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden beachtlich.

Vor diesem Hintergrund ist daher die Verantwortlichkeit einer juristischen Person für (rechtswidriges und schuldhaftes) Verhalten einer natürlichen Person aus verfassungsrechtlicher Sicht dann nicht zu beanstanden, wenn ein hinreichender Konnex zwischen der juristischen Person und jenen natürlichen Personen besteht, deren Verhalten ihr zugerechnet wird.

Diesen verfassungsrechtlich gebotenen Kriterien entsprechen aber die Regelungen des §3 VbVG.

Die Verbandsverantwortlichkeit hängt nämlich in beiden Fallkonstellationen des §3 VbVG - sowohl nach Abs2 (Entscheidungsträgertat) als auch nach Abs3 (Mitarbeitertat) - vom Vorliegen eines der beiden (oder auch beider) in Z1 und Z2 des Abs1 festgelegten Merkmale (Tatbegehung zugunsten des Verbandes oder Verletzung von Verbandspflichten) ab, womit ein hinreichender Zusammenhang zwischen dem Verband und der Straftat hergestellt wird. Darüber hinaus verlangen die Regelungen für beide Fallgruppen, dass ein Entscheidungsträger entweder die Tat selbst begangen oder die Begehung der Tat eines Mitarbeiters durch näher umschriebene Sorgfaltsverstöße zumindest erheblich erleichtert hat. Damit konkretisiert §3 VbVG aber - in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise - sowohl den sachlichen Zusammenhang zwischen der Anlasstat und der Sphäre des Verbandes als auch die sachlichen Zurechnungsmerkmale zwischen der Anlasstat und den Verbandsorganen.

In dieser Ausgestaltung der Verbandsverantwortlichkeit liegt weder eine Zurechnung "fremder" Schuld noch eine Erfolgshaftung oder eine Schuldvermutung zu Lasten des Verbandes. Vielmehr ergibt sich die Verbandsverantwortlichkeit aus dem Zusammenhang von Verband und Führungsebene und dem Umstand, dass der Verband stets nur durch Zurechnung des Handelns der Entscheidungsträger als eines seiner Organe handeln kann.

Angesichts der Einordnung des VbVG in das Justizstrafrecht, des sowohl präventiven als auch repressiven Charakters der Sanktion und der möglichen Höhe der im VbVG vorgesehenen Geldbuße sind mit Blick auf die Judikatur des EGMR jene Grundsätze des Art6 EMRK, die Verfahrensgarantien betreffen (Fairnessgebot), auch auf Verbände anzuwenden.

Diese Gewährleistungen hat der Gesetzgeber hinlänglich berücksichtigt: Es gelten grundsätzlich die allgemeinen Vorschriften über das Strafverfahren, soweit sie nicht ausschließlich auf natürliche Personen anwendbar sind; Entscheidungsträger und einer Straftat verdächtige Mitarbeiter sind als Beschuldigte zu laden und zu vernehmen, sie haben Äußerungs- und Verteidigungsrechte und es bestehen richterliche Informationspflichten.

Auch das Sanktionensystem ist angemessen und verhältnismäßig, weil Maßnahmen wie das Absehen von der Verfolgung (§18 VbVG), der Rücktritt von der Verfolgung (Diversion - §19 VbVG) sowie spezifische Milderungsgründe (§5 Abs3 VbVG) eine einzelfallgerechte staatliche Reaktion ermöglichen.

Entscheidungstexte

  • G497/2015 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 02.12.2016 G497/2015 ua

Schlagworte

Strafrecht, Verbandsverantwortlichkeit, Schuld, fair trial, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Prüfungsmaßstab

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2016:G497.2015

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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