RS Vfgh 2016/12/13 G572/2015

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Veröffentlicht am 13.12.2016
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Index

20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs1
ABGB §785 Abs3

Leitsatz

Kein Verstoß einer erbrechtlichen Regelung des ABGB betreffend die (unbefristete) Anrechnung von Schenkungen auf den Pflichtteil gegen das Bestimmtheitsgebot und den Gleichheitsgrundsatz; sachlich gerechtfertigte, dem Grundgedanken der "familia suspecta" und dem Ziel eines vermögensmäßigen Ausgleichs unter den Pflichtteilsberechtigten Rechnung tragende Bestimmung; keine Unsachlichkeit infolge Abhängigkeit der Anrechnung von der Reihenfolge des Ablebens von (potentiell) Erb- und Pflichtteilsberechtigten; kein Widerspruch zum Prinzip der Teilung nach Stämmen (Parentelen); Abweisung des Parteiantrags

Rechtssatz

Abweisung des Parteiantrags auf Aufhebung des §785 Abs3 letzter Satz ABGB idF BGBl 280/1978.

Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG.

Da die Regelung sowohl der Verkürzungsabsicht innerhalb des engsten Familienkreises ("familia suspecta") entgegenwirken soll als auch auf den Ausgleich innerhalb der pflichtteilsberechtigten Personen gerichtet ist, muss jede pflichtteilsberechtigte Person (auch früher als in den letzten zwei Jahren vor dem Tod des Erblassers) erhaltene Schenkungen gegen sich gelten lassen, ebenso wie umgekehrt jede pflichtteilsberechtigte Person von der Anrechnung einer Schenkung an einen anderen Pflichtteilsberechtigten Vorteile erwirken kann.

Unter Berücksichtigung von Entstehungsgeschichte und Zweck der Regelung erweist sich der Begriff der "pflichtteilsberechtigten Personen" in §785 Abs3 letzter Satz ABGB nicht als in verfassungswidriger Weise unbestimmt. Der Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen kann aus den Vorschriften des §762 und §763 ABGB abgeleitet werden.

Nach der Rechtsprechung des OGH sind nur Schenkungen an jene Personen von der unbefristeten Schenkungsanrechnung des §785 Abs3 ABGB erfasst, die im Schenkungszeitpunkt abstrakt und auch tatsächlich im Zeitpunkt des Todes - konkret - pflichtteilsberechtigt sind.

Auf Grund der im ABGB enthaltenen Determinanten ist die angefochtene Regelung mit den herkömmlichen Interpretationsmethoden einer Auslegung zugänglich. Dies zeigt die Rechtsprechung des OGH. Der im Antrag hervorgehobene Umstand, dass in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Lehrmeinungen, die zum Teil auch auf unterschiedlichen Vorstellungen über die Zweckmäßigkeit der Auslegung der gesetzlichen Regelung beruhen, vertreten werden, macht die angefochtene Regelung nicht unbestimmt.

Kein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot des Gleichheitsgrundsatzes.

§785 Abs3 letzter Satz ABGB sieht vor, dass Schenkungen an nicht pflichtteilsberechtigte Personen, die früher als zwei Jahre vor dem Tod des Erblassers gemacht wurden, bei der Anrechnung auf den Pflichtteil unberücksichtigt bleiben. Daraus folgt, dass Schenkungen an pflichtteilsberechtigte Personen grundsätzlich unbefristet zu berücksichtigen sind.

Dadurch, dass nur ein konkret Pflichtteilsberechtigter eine Anrechnung verlangen kann, wird vermieden, dass Pflichtteilsberechtigte bloß zur Zahlung verpflichtet werden (gegebenenfalls auch zur Herausgabe einer geschenkten Sache), selbst jedoch nicht die Anrechnung einer Zahlung begehren können. Das bedeutet im Ergebnis, dass der Grundgedanke der "familia suspecta" eingeschränkt und dem Ziel eines Ausgleichs unter den Pflichtteilsberechtigten ein Vorrang eingeräumt wird.

Der Gesetzgeber hat mit dieser im ABGB einfachgesetzlich verankerten Regelung einerseits die Interessen des Erblassers berücksichtigt, andererseits sowohl dem Grundgedanken der "familia suspecta" als auch dem Gedanken des vermögensmäßigen Ausgleichs unter den Pflichtteilsberechtigten Rechnung getragen. Hinsichtlich des Ausmaßes, in dem dem einen oder dem anderen Gedanken ein Vorrang eingeräumt wird, verfügt der Gesetzgeber über einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum. Auch in Bezug auf die Frage, welche Voraussetzungen im Schenkungszeitpunkt und welche Voraussetzungen im Zeitpunkt des Todes des Erblassers vorliegen müssen, ist ein Spielraum des Gesetzgebers gegeben, solange er, insgesamt gesehen, sachliche Anknüpfungspunkte für seine Regelungen wählt und nicht Widersprüche zu erbrechtlichen Grundsätzen erzeugt, die sachlich nicht gerechtfertigt sind.

Unsachlich ist es insbesondere nicht, wenn die Anrechnung einer Schenkung von der Reihenfolge des Ablebens von (potenziell) Erb- und Pflichtteilsberechtigten abhängt. Es liegt im Wesen des Erbrechts (und ist in diesem Sinn keine "Zufälligkeit", an die der Gesetzgeber nicht anknüpfen dürfte), dass sich die konkrete Erbfolge und damit auch verschiedene erbrechtliche Rechtsfolgen nach der Reihenfolge des Ablebens bestimmen.

Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers widerspricht die angefochtene Bestimmung auch nicht dem erbrechtlichen Prinzip der Teilung nach Stämmen (Parentelen), wonach alle Angehörigen eines Stammes zusammen das erben, was ihrem Vorfahren zugefallen wäre. Damit werden alle Verwandten ersten Grades eines Erblassers gleich behandelt. Dass nach der angefochtenen Bestimmung eine Schenkung an einen Verwandten zweiten Grades (zB Enkelkind) dann unberücksichtigt bleibt, wenn der erbberechtige Verwandte ersten Grades (Vater oder Mutter des Geschenknehmers) noch lebt, widerspricht nicht dem Prinzip der Teilung nach Stämmen.

Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers vermag der VfGH nicht zu erkennen, inwieweit eine Differenzierung hinsichtlich der Anrechnung von Schenkungen vor dem zweiten Jahr vor dem Tod des Erblassers eine unsachliche Ungleichbehandlung von pflichtteilsberechtigten Personen einerseits und nicht pflichtteilsberechtigten Empfängern von Schenkungen durch den Erblasser andererseits zur Folge hat.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Zivilrecht, Erbrecht, Schenkung, Determinierungsgebot, Rechtsstaatsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2016:G572.2015

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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