Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AVG §52;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler, die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Mayr, Hofrätin Mag. Hainz-Sator sowie Hofrat Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Tiefenböck, über die Revision der R GmbH in S, vertreten durch Mag. Leopold Zechner, Rechtsanwalt in 8600 Bruck an der Mur, Mittergasse 6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom 13. Dezember 2016, LVwG 43.21-1259/2016-13, betreffend Vorschreibung einer nachträglichen Auflage nach der Gewerbeordnung 1994 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:
Bezirkshauptmannschaft Bruck-Mürzzuschlag; mitbeteiligte Partei:
Mag. W H in S, vertreten durch Dr. Sonja Jutta Sturm-Wedenig und Dr. Christian Puchner, Rechtsanwälte in 8700 Leoben, Franz Josef Straße 4), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1. Vorgeschichte
1 Die Revisionswerberin betreibt an einem näher bezeichneten Standort in S eine Gastgewerbebetriebsanlage.
2 Am 13. Juli 2010 wurde im Hinblick auf einen von der Revisionswerberin für den Innenhof dieser Betriebsanlage beantragten Gastgarten ein lärmschutztechnisches Gutachten erstattet, dem eine in der Wohnung des unmittelbaren Nachbarn W H (mitbeteiligte Partei) vorgenommene Messung der örtlichen Verhältnisse am 8. Juli 2010 in der Zeit von 20.00 Uhr bis 21.30 Uhr zugrunde lag. Ausgehend von den Eckdaten des beantragten Gastgartens wurden vom Sachverständigen mittels Computerprogramm errechnet, dass der gemessene durchschnittliche energieäquivalente Dauerschallpegel von 44 dB im Schlafzimmer der mitbeteiligten Partei durch den Gastgartenbetrieb um 5,5 dB auf 49,5 dB angehoben werde. Dem darauf gestützten medizinischen Gutachten vom 20. September 2010 zufolge komme es durch den Gastgarten zu einer massiven Lärmbelästigung und müsse somit eine Gesundheitsgefährdung bei den Anrainern angenommen werden.
3 Am 19. August 2010 erstattete die Revisionswerberin (formal auf § 353 Gewerbeordnung 1994 - GewO 1994 gestützt, der Sache nach offenbar im Hinblick auf die an diesem Tag in Kraft getretene Änderung der Rechtslage hinsichtlich der Genehmigungsfreistellung von Gastgärten durch § 76a GewO 1994 in der Fassung BGBl. I Nr. 66/2010) eine Anzeige betreffend den Betrieb eines Gastgartens am gegenständlichen Standort. Eine Untersagung des Betriebs des Gastgartens nach § 76a Abs. 4 GewO 1994 ist nicht erfolgt.
4 Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2011 beantragte die mitbeteiligte Partei unter Berufung auf § 76a Abs. 5 GewO 1994 die bescheidmäßige Schließung des Gastgartens, in eventu die Vorschreibung von Auflagen und Einschränkung der Betriebszeiten. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Mur vom 20. Jänner 2012 wurde der Antrag auf Schließung des Gastgartens mangels Antragslegitimation zurückgewiesen (Spruchpunkt I.) und der Antrag auf Einschränkung der Betriebszeiten gemäß § 76a Abs. 8 GewO 1994 unter Hinweis auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 76a Abs. 1 Z 1 bis 3 GewO 1994 (auf Grund derer eine Gesundheitsgefährdung oder unzumutbare Belästigung nicht zu erwarten sei) abgewiesen (Spruchpunkt II.). Die dagegen erhobene Berufung wurde vom Unabhängigen Verwaltungssenat für die Steiermark (UVS) mit Bescheid vom 19. Juli 2012 abgewiesen.
5 Aus Anlass der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde der mitbeteiligten Partei stellte der Verwaltungsgerichtshof an den Verfassungsgerichtshof den Antrag, die Wortfolge "zur Vermeidung einer Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit dieser Personen" in § 76a Abs. 8 GewO 1994 aufzuheben. Mit Erkenntnis vom 16. Juni 2014, G 94/2013, hob der Verfassungsgerichtshof diese Wortfolge als verfassungswidrig auf.
6 Da der UVS den bekämpften Bescheid auf § 76a Abs. 8 GewO 1994 in der nicht mehr anzuwendenden Fassung vor der Aufhebung der genannten Wortfolge gestützt hatte, hob der Verwaltungsgerichtshof diesen Bescheid mit Erkenntnis vom 21. Oktober 2014, 2014/04/0001, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.
7 In der Folge hob das zuständig gewordene Landesverwaltungsgericht Steiermark mit Erkenntnis vom 19. Jänner 2015 Spruchpunkt II. des Bescheides vom 20. Jänner 2012 auf. Begründend wurde festgehalten, über den verfahrensgegenständlichen Antrag sei auf Grundlage der neuen Rechtslage von der Gewerbebehörde neuerlich zu entscheiden.
8 Im fortgesetzten Verfahren veranlasste die Bezirkshauptmannschaft Bruck-Mürzzuschlag (belangte Behörde) im Hinblick darauf, dass die ursprünglich vorhandene Belastung durch die Kirchenglocken weggefallen sei und sich die Verkehrssituation verändert habe, eine neuerliche schalltechnische Begutachtung. Am 30. Juni 2015 wurde im Schlafzimmer der mitbeteiligten Partei in der Zeit zwischen 20.45 Uhr und 23.00 Uhr eine Messung durchgeführt. Gestützt auf das lärmtechnische Gutachten vom 2. Juli 2015 (sowie auf frühere amtsärztliche Stellungnahmen aus den Jahren 2010 und 2011) erging ein medizinisches Sachverständigengutachten, dem zufolge eine Verschlechterung der Schallsituation gegeben und bis 22.00 Uhr von einer wesentlichen Belästigung mit gesundheitlicher Beeinträchtigung sowie von 22.00 Uhr bis 23.00 Uhr von einer Gesundheitsgefährdung auszugehen sei.
9 Mit Schreiben vom 3. Dezember 2015 forderte die belangte Behörde die Revisionswerberin zur Mitteilung auf, ob Maßnahmen (wie z.B. eine Einhausung des Gastgartens oder eine Einschränkung der Betriebszeiten) umgesetzt würden. Andernfalls werde gemäß § 79 Abs. 3 GewO 1994 ein Sanierungskonzept vorgeschrieben. Eine derartige Mitteilung ist nicht erfolgt.
10 Mit Bescheid vom 24. März 2016 schrieb die belangte Behörde gemäß § 76a Abs. 8 in Verbindung mit § 79 GewO 1994 hinsichtlich der gegenständlichen Gastgewerbebetriebsanlage eine nachträgliche Auflage vor, der zufolge der Betrieb des Gastgartens mit 20.00 Uhr beschränkt werde. Begründend verwies die belangte Behörde auf die - von ihr als schlüssig und widerspruchsfrei angesehenen - schalltechnischen und medizinischen Gutachten. Die Vorschreibung der Auflage sei zur Wahrung der in § 74 Abs. 2 GewO 1994 genannten Interessen erforderlich.
2. Angefochtenes Erkenntnis
11 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin (mit einer Maßgabe) als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt (Spruchpunkt II.).
12 Das Verwaltungsgericht verwies auf die am 22. November 2016 durchgeführte mündliche Verhandlung, in welcher der lärmtechnische Sachverständige angegeben habe, dass in den beiden Messungen im Abendzeitraum (20.00 Uhr bis 22.00 Uhr) ein Basispegel von rund 32 dB und ein energieäquivalenter Dauerschallpegel in der Höhe von 40 bis 41 dB (2015) bzw. 43 bis 45 dB (2010) ermittelt worden seien. Weiters wurde wie folgt festgehalten:
"Bei den Berechnungen wurden Veränderungen der Ist-Situation im Abendzeitraum festgestellt, 2010 um 5,5 dB und 2015 um 8,6 dB."
Zum Vorbringen der Revisionswerberin, es seien am 30. Juni 2015 vor 20.45 Uhr keine Messungen erfolgt, habe der lärmtechnische Sachverständige festgehalten, auf Grund der vorliegenden Messergebnisse aus den Jahren 2010 und 2015 könne davon ausgegangen werden, dass sich bei einer Messung von 20.00 Uhr bis 21.00 Uhr keine relevanten Unterschiede zum Ergebnis der Messung zwischen 20.45 Uhr und 21.00 Uhr zeigen würden. Der medizinische Sachverständige habe angegeben, auf Grund der ermittelten Veränderungen der äußerst ruhigen Ist-Situation seien hochgradige Belästigungsreaktionen auf Seiten der unmittelbaren Nachbarn zu erwarten.
13 Das Verwaltungsgericht stellte fest, die vorherrschende, als äußerst ruhig zu bezeichnende Ist-Situation erfahre durch den Gastgartenbetrieb "im Abendzeitraum eine Veränderung von etwa 8,6 dB, in der Nachtstunde von 22.00 Uhr bis 23.00 Uhr von 15 dB in ungünstigsten Situationen". Die maximale Schallpegelspitze, die durch das Gästeverhalten festgestellt worden sei, betrage bei eingefahrener Markise und eingefahrenen Seitenrollos 58 dB, seien diese ausgefahren, durch die damit einhergehende geringfügige Schalldämmung 53 dB. Die spezifischen Schallimmissionen seien im Schlafzimmer der mitbeteiligten Partei deutlich wahrnehmbar.
14 In der Folge führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen wie folgt aus:
15 Zum Beschwerdevorbringen, das medizinische Gutachten sei zu allgemein gehalten und nicht verwertbar, führte das Verwaltungsgericht aus, die medizinische Sachverständige sei mit einem ergänzenden Gutachten beauftragt worden und habe festgestellt, dass es "zu hochgradigen Belästigungsreaktionen der unmittelbaren Anrainerschaft" komme. Nach der ÖAL-Richtlinie Nr. 3 werde in Gebieten mit geringer Vorbelastung eine Anhebung um einen Wert von 3 dB als medizinisch vertretbar angesehen. Ausgehend davon erachtete das Verwaltungsgericht die vorliegende Veränderung von 8,6 dB auch im Rahmen einer Durchschnittsbetrachtung als nicht mehr zumutbar, zumal auch kein Ruhetag vorgesehen sei und die Schallimmissionen im Schlafzimmer der mitbeteiligten Partei deutlich wahrnehmbar gewesen seien. Zu der von der medizinischen Sachverständigen für die Nachtzeit angenommenen Gesundheitsgefährdung hielt das Verwaltungsgericht fest, dass ein Betrieb des Gastgartens nach 22.00 Uhr ohnehin nicht zulässig sei. Die Verordnung der Gemeinde S, wonach Gastgärten bis 23.00 Uhr betrieben werden könnten, sei für den gegenständlichen Gastgarten nämlich nicht anwendbar, weil sich dieser nicht entlang der Hauptstraße, sondern in einem Innenhof befinde.
16 Dem Beschwerdevorbringen, die Revisionswerberin hätte nicht mit der Vorschreibung einer Auflage rechnen müssen, weil die belangte Behörde die Vorschreibung eines Sanierungskonzeptes angekündigt habe, hielt das Verwaltungsgericht entgegen, dass die Möglichkeit der Einschränkung der Betriebszeit sehr wohl im Raum gestanden habe. Da die belangte Behörde eine potentielle Einhausung des Gastgartens als wesensändernd angesehen habe, hätte sie nicht als Auflage vorgeschrieben werden können.
17 Zum Beschwerdevorbringen, es habe keine Messung vor
20.45 Uhr stattgefunden, verwies das Verwaltungsgericht auf die als schlüssig und nachvollziehbar angesehenen Ausführungen des Sachverständigen, wonach sich bei einem Messbeginn um 20.00 Uhr keine relevanten Unterschiede zum Ergebnis der Messung ab
20.45 Uhr ergeben hätten.
18 Die bestehende äußerst ruhige Ist-Situation werde durch den Gastgartenbetrieb im Abendzeitraum um 8,6 dB und damit beträchtlich erhöht. Die erfolgte Einschränkung der Betriebszeiten des Gastgartens sei daher zur Hintanhaltung unzumutbarer Belästigungen der mitbeteiligten Partei zu bestätigen gewesen.
3. Revision
19 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
20 Die mitbeteiligte Partei und die belangte Behörde erstatteten jeweils eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung bzw. die Abweisung der Revision beantragt wird.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
4. Zulässigkeit
21 Die Revision verweist zur Zulässigkeit auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach grundsätzlich Messungen durchzuführen und Berechnungen nur dann zulässig seien, wenn Messungen nicht vorgenommen werden könnten. Fallbezogen hätte der Immissionsstand ohne Gastgartenbetrieb durch Messung ermittelt und mit dem Immissionsstand mit Gastgartenbetrieb verglichen werden müssen. Die Feststellung des Immissionsstandes ohne Betrieb des Gastgartens durch eine Messung wäre auch möglich gewesen, weil der Gastgarten dafür an einem Abend ab 20.00 Uhr hätte gesperrt werden können. Vorliegend sei am 30. Juni 2015 zudem lediglich von 20.45 Uhr bis 23.00 Uhr gemessen worden, wobei der Gastgarten bis 22.30 Uhr in Betrieb gewesen sei.
22 Die Revision ist im Hinblick darauf zulässig.
5. Rechtsgrundlagen
23 Die maßgeblichen Bestimmungen der Gewerbeordnung 1994, GewO 1994, BGBl. Nr. 194 in der Fassung BGBl. I Nr. 60/2014, lauten auszugsweise:
"§ 76a. (1) Für Gastgärten, die sich auf öffentlichem
Grund befinden oder an öffentliche Verkehrsflächen angrenzen, ist
für die Zeit von 8 bis 23 Uhr keine Genehmigung erforderlich, wenn
1. sie ausschließlich der Verabreichung von Speisen und dem
Ausschank von Getränken dienen,
2. sie über nicht mehr als 75 Verabreichungsplätze verfügen,
3. in ihnen lauteres Sprechen als der übliche Gesprächston
der Gäste, Singen und Musizieren vom Gastgewerbetreibenden untersagt ist und auf dieses Verbot hinweisende Anschläge dauerhaft und von allen Zugängen zum Gastgarten deutlich erkennbar angebracht sind, und
4. auf Grund der geplanten Ausführung zu erwarten ist, dass
die gemäß § 74 Abs. 2 wahrzunehmenden Interessen hinreichend geschützt sind und Belastungen der Umwelt (§ 69a) vermieden werden; (...)
(2) Für Gastgärten, die sich weder auf öffentlichem Grund befinden noch an öffentliche Verkehrsflächen angrenzen, ist für die Zeit von 9 bis 22 Uhr keine Genehmigung erforderlich, wenn die Voraussetzungen gemäß Abs. 1 Z 1 bis Z 4 sinngemäß erfüllt sind.
(3) Der Betrieb eines Gastgartens im Sinne des Abs. 1 oder des Abs. 2 ist der Behörde vorher anzuzeigen. Dieser Anzeige sind Unterlagen im Sinne des § 353 Z 1 lit. a bis lit. c in vierfacher Ausfertigung anzuschließen.
(4) Sind die Voraussetzungen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 nicht erfüllt, so hat die Behörde unbeschadet eines Verfahrens nach §§ 366 ff dies festzustellen und den Betrieb des Gastgartens zu untersagen. Die Behörde hat diesen Bescheid spätestens drei Monate nach Einlangen der Anzeige samt Unterlagen zu erlassen.
(...)
(8) Auf Gastgärten, die im Sinne des Abs. 1 oder Abs. 2 betrieben werden, sind die §§ 79 und 79a mit der Maßgabe anzuwenden, dass Auflagen und Einschränkungen der Betriebszeit zugunsten von Nachbarn im Sinne des § 75 Abs. 2 und 3 nur soweit vorzuschreiben sind, als diese notwendig sind.
(...)
§ 79. (1) Ergibt sich nach Genehmigung der Anlage, daß die gemäß § 74 Abs. 2 wahrzunehmenden Interessen trotz Einhaltung der im Genehmigungsbescheid vorgeschriebenen Auflagen nicht hinreichend geschützt sind, so hat die Behörde die nach dem Stand der Technik (§ 71a) und dem Stand der medizinischen und der sonst in Betracht kommenden Wissenschaften zur Erreichung dieses Schutzes erforderlichen anderen oder zusätzlichen Auflagen (§ 77 Abs. 1) vorzuschreiben; (...) Die Behörde hat solche Auflagen nicht vorzuschreiben, wenn sie unverhältnismäßig sind, vor allem wenn der mit der Erfüllung der Auflagen verbundene Aufwand außer Verhältnis zu dem mit den Auflagen angestrebten Erfolg steht. Dabei sind insbesondere Art, Menge und Gefährlichkeit der von der Anlage ausgehenden Emissionen und der von ihr verursachten Immissionen sowie die Nutzungsdauer und die technischen Besonderheiten der Anlage zu berücksichtigen.
(...)
(3) Könnte der hinreichende Schutz der gemäß § 74 Abs. 2 wahrzunehmenden Interessen nach Abs. 1 oder 2 nur durch die Vorschreibung solcher anderer oder zusätzlicher Auflagen erreicht werden, durch die die genehmigte Betriebsanlage in ihrem Wesen verändert würde, so hat die Behörde dem Inhaber der Anlage mit Bescheid aufzutragen, zur Erreichung des hinreichenden Interessenschutzes und der Begrenzung der Emissionen von Luftschadstoffen nach dem Stand der Technik innerhalb einer dem hiefür erforderlichen Zeitaufwand angemessenen Frist ein Sanierungskonzept für die Anlage zur Genehmigung vorzulegen; für dieses Sanierungskonzept ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Abs. 1) maßgebend. (...)
(...)
§ 79a. (1) Die Behörde hat ein Verfahren gemäß § 79 Abs. 1 von Amts wegen oder nach Maßgabe des Abs. 2 auf Antrag des Bundesministers für Umwelt, Jugend und Familie oder nach Maßgabe des Abs. 3 auf Antrag eines Nachbarn einzuleiten.
(...)
(3) Der Nachbar muß in seinem Antrag gemäß Abs. 1 glaubhaft machen, daß er als Nachbar vor den Auswirkungen der Betriebsanlage nicht hinreichend geschützt ist, und nachweisen, daß er bereits im Zeitpunkt der Genehmigung der Betriebsanlage oder der betreffenden Betriebsanlagenänderung Nachbar im Sinne des § 75 Abs. 2 und 3 war.
(4) Durch die Einbringung des dem Abs. 3 entsprechenden Antrages erlangt der Nachbar Parteistellung. (...)"
6. Notwendigkeit von Messungen
24 6.1. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass der Durchführung von Messungen - soweit diese möglich sind - grundsätzlich der Vorrang vor lärmtechnischen Berechnungen einzuräumen ist. "Grundsätzlich" bedeutet, dass diese Verpflichtung nicht allgemein besteht, sobald eine Messung (technisch) möglich ist, allerdings kann nur in Ausnahmefällen davon abgesehen werden. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist auf sachverständiger Grundlage fallbezogen in schlüssiger Weise darzulegen (siehe VwGH 18.5.2016, Ra 2015/04/0053, mwN).
25 Im Erkenntnis VwGH 3.9.1996, 95/04/0189, hat der Verwaltungsgerichtshof zum Ausdruck gebracht, dass mit tatsächlich erhobenen Messwerten dann nicht das Auslagen gefunden werden kann, wenn diese Messwerte nicht der für die Nachbarn am belastendsten Situation entsprechen, weil ausgehend vom beantragten Projekt für die Zukunft eine höhere Inanspruchnahme der Betriebsanlage und damit eine größere Belastung zu erwarten sei (siehe auch dazu das bereits zitierte Erkenntnis Ra 2015/04/0053). Der Grundsatz, dass Auswirkungen einer Betriebsanlage unter Zugrundelegung jener Situation zu beurteilen sind, in der die Immissionen für die Nachbarn am ungünstigsten, d.h. am belastendsten sind (siehe VwGH 18.5.2016, Ra 2015/04/0093), kann daher in speziellen Konstellationen - gerade bei Betriebsanlagen, bei denen die Immissionsbelastung Schwankungen unterliegt bzw. das Ausmaß der Immissionen aus einem vom Anlagenbetreiber letztlich nicht steuerbaren Kundenverhalten resultiert - dazu führen, dass Messungen für sich allein nicht hinreichend sind und somit (zusätzlich) Berechnungen vorzunehmen sind (vgl. diesbezüglich auch VwGH 9.9.1998, 98/04/0074).
26 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung schließlich auch festgehalten, dass als Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob eine unzumutbare Belästigung der Nachbarn vorliegt, die konkret gegebenen tatsächlichen örtlichen Verhältnisse maßgeblich sind, sodass es präziser, auf sachverständiger Grundlage zu treffender Feststellungen über die Immissionssituation vor Inbetriebnahme des zu genehmigenden Projekts bedarf, der die auf Grund des zu genehmigenden Projekts zu erwartenden Immissionen gegenüber zu stellen sind. Folglich hat die Behörde zunächst - grundsätzlich auf Basis von lärmtechnischen Messungen - jenen Immissionsstand festzustellen, der den tatsächlichen örtlichen Verhältnissen - noch ohne Einbeziehung des zu beurteilenden neuen Vorhabens - entspricht (vgl. VwGH 9.9.2015, 2013/03/0120, 0121, mwN; siehe zur Messung des Umgebungslärms auch VwGH 21.12.2011, 2010/04/0046).
27 6.2. Unstrittig ist, dass im vorliegenden Fall am 8. Juli 2010 in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 21.30 Uhr ohne Gastgartenbetrieb bzw. am 30. Juni 2015 in der Zeit zwischen 20.45 Uhr und 23.00 Uhr bei bereits laufendem Gastgartenbetrieb im Schlafzimmer der mitbeteiligten Partei Messungen durchgeführt worden sind. Unklar ist allerdings, worauf sich die - bei der Darstellung der Ausführungen des lärmtechnischen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2016 im angefochtenen Erkenntnis angeführten - "Berechnungen" beziehen, bei denen Veränderungen der Ist-Situation im Abendzeitraum um 8,6 dB (2015) festgestellt worden seien.
28 Dem angefochtenen Erkenntnis lässt sich nicht entnehmen, in welcher Weise bzw. aus welchen Gründen die durchgeführten Messungen im Jahr 2015 durch Berechnungen ergänzt worden sind. Es fehlt insoweit an einer hinreichenden Begründung. Zwar wäre es - wie oben dargestellt - grundsätzlich denkbar, dass den Messungen nicht die für den Nachbarn ungünstigste Situation zugrunde lag und daher (ergänzende) Berechnungen vorzunehmen waren; klare Hinweise darauf bzw. nähere Ausführungen dazu finden sich im angefochtenen Erkenntnis aber nicht.
29 Unklar bleibt auch, ob die für die Gegenüberstellung (siehe oben Rn. 26) erforderliche Ermittlung des Immissionsstandes ohne Gastgartenbetrieb auf der Grundlage der Messungen aus dem Jahr 2010 oder mittels Berechnung erfolgt ist. Gegen eine Heranziehung der Messergebnisse aus dem Jahr 2010 spricht, dass - wie sich dem Erkenntnis selbst entnehmen lässt - sich die Umgebungslärmsituation im Hinblick auf die Kirchenglocken sowie die Verkehrssituation geändert hat.
7. Ergebnis
30 Da es dem angefochtenen Erkenntnis insoweit an einer für den Verwaltungsgerichtshof nachvollziehbaren und überprüfbaren Begründung mangelt, war es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
31 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Jänner 2018
Schlagworte
Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Besonderes FachgebietSachverständiger AufgabenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017040026.L00Im RIS seit
21.02.2018Zuletzt aktualisiert am
08.03.2018