Entscheidungsdatum
13.02.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W263 2177176-1/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch die Richterin Mag. Christina KERSCHBAUMER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, Nikolsdorfer Gasse 7-11/15, 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , den Beschluss:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt I. des bekämpften Bescheides aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 31 iVm § 28 Abs. 3 zweiter Satz des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
Der Beschwerdeführer XXXX , geboren am XXXX ( XXXX ), seine Ehegattin XXXX , geboren am XXXX ( XXXX ) und ihre gemeinsamen drei Töchter, geboren am XXXX ( XXXX ), geboren am XXXX ( XXXX ) und geboren am XXXX ( XXXX ) sind afghanische Staatsangehörige, der Volksgruppe der XXXX und der XXXX Glaubensrichtung zugehörig.
Allen BF wurde der Status der/des subsidiär Schutzberechtigten bereits zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis XXXX erteilt. Verfahrensgegenständlich sind die Beschwerden der BF gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der/des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005. Es liegt ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 vor.
I. Verfahrensgang:
1. Die weibliche Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge: "BF"), eine afghanische Staatsangehörige, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2. Bei ihrer Erstbefragung am XXXX durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF zusammengefasst an, sie sei in XXXX , Afghanistan, geboren. Sie sei traditionell und standesamtlich verheiratet. Sie habe keine Ausbildung und sei Analphabetin.
3. Im weiteren Verfahrensverlauf wurde die BF getrennt unter Beiziehung eines männlichen Dolmetschers vom BFA niederschriftlich am XXXX einvernommen und gab sie u.a. an, dass sie wegen ihrer Volksgruppe oder Religionszugehörigkeit Probleme im Heimatland gehabt habe. Sie sei zwei oder dreimal vergewaltigt worden. Es sei immer wieder der Fall gewesen. Sie hätten ihren Mann nicht erwischt und beim dritten Mal seien sie dann weggegangen. Befragt, warum ihr Mann nichts davon erzählt habe, gab die BF an, er wisse es nicht. Sie hätten nicht dortbleiben können, sein Leben sei auch in Gefahr gewesen.
4. Mit Bescheid vom XXXX wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) ab, erkannte aber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) zu. Eine befristete Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum XXXX erteilt (Spruchpunkt III.).
5. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
6. Die BF, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, erhob gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde, welche am 08.11.2017 beim BFA einlangte und in der Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 20.11.2017).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der zu Punkt I. geschilderte Verfahrensgang steht fest.
Die BF hat nicht verlangt, ihrer Vernehmung vor der belangten Behörde einen männlichen Dolmetscher beizuziehen.
Die Einvernahme der BF durch die belangte Behörde wurde von ihr zur Begründung der mangelnden Glaubhaftigkeit der Fluchtgründe der BF herangezogen (Seiten 51-55 des angefochtenen Bescheides).
2. Beweiswürdigung:
Beweise wurden aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt. Die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Akteninhalt.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Derartige Regelungen kommen für das vorliegende Verfahren nicht zur Anwendung, weshalb es der Einzelrichterzuständigkeit unterliegt.
Zu Spruchpunkt A)
3.2. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn (1.) der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
(2.) die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz kann das Verwaltungsgericht, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat, den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Voraussetzungen, unter denen das Verwaltungsgericht von der in § 28 Abs. 3 VwGVG festgelegten Befugnis zur Aufhebung und Zurückverweisung Gebrauch machen darf, im Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, näher präzisiert.
Danach hat die meritorische Entscheidungspflicht des Verwaltungsgerichts Vorrang und bildet die Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme, deren Inanspruchnahme begründungspflichtig ist und die strikt auf den ihr gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist. Zur Aufhebung und Zurückverweisung ist das Verwaltungsgericht bei "krassen oder besonders gravierenden Ermittlungslücken" befugt, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Verwaltungsbehörde "jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat", "lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt" oder "bloß ansatzweise ermittelt" hat oder wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden ("Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (vgl jüngst VwGH 31.01.2017, Ra 2016/03/0063).
Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist der oben dargelegte Maßstab betreffend die Anwendung von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im vorliegenden Fall erfüllt da – wie aus den im Folgenden dargestellten Umständen ersichtlich – davon auszugehen ist, dass der belangten Behörde ein derartig krasser Ermittlungsmangel vorzuwerfen ist.
3.3. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung [...] auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter [und Dolmetscher] desselben Geschlechts einzuvernehmen, sofern er nichts anderes verlangt (§ 20 Abs. 1 1. Satz AsylG 2005; zum Dolmetscher siehe – mit detaillierter Begründung zum zu § 20 AsylG 2005 wortgleichen § 27 Abs. 3 letzter Satz AsylG 1997 idF BGBl I Nr. 76/1997 – VwGH 03.12.2003, 2001/01/0402). Die Furcht vor einem drohenden Eingriff ist dabei ausreichend (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht (2016) § 20 AsylG 2005, K5).
Auch in seinem Erkenntnis vom 19. Dezember 2007, Zl. 2005/20/0321, hat der Verwaltungsgerichtshof (in Bezug auf die diesbezüglich inhaltsgleiche Vorgängerbestimmung des § 27 Abs. 3 AsylG 1997) ausgesprochen, dass Zweck dieser Bestimmung der Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung sein soll, weshalb dementsprechend auch die Beiziehung eines Dolmetschers des gleichen Geschlechtes nach dieser Bestimmung geboten ist.
Wird ein Asylwerber dennoch von einer Person eines anderen Geschlechts bzw. unter Beiziehung eines Dolmetschers eines anderen Geschlechts einvernommen, [ ] wird [das] vielfach als krasser Ermittlungsmangel zu qualifizieren sein, der eine Behebung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigt, sofern die beweiswürdigenden Erwägungen wesentlich auf der betreffenden Einvernahme aufbauen [ ] (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht (2016) § 20 AsylG 2005, K3).
Die weibliche BF hat mit ihrem Vorbringen vor der belangten Behörde, sie sei zwei oder dreimal vergewaltigt worden, einen massiven Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung behauptet. Die Beiziehung eines männlichen Dolmetschers hat die BF nicht verlangt. Die belangte Behörde hat zur Einvernahme der BF dennoch einen männlichen Dolmetscher beigezogen und ihre beweiswürdigenden Erwägungen im Wesentlichen auf die betreffenden Einvernahme aufgebaut.
Die derart durchgeführte Einvernahme ist rechtswidrig. Sie stellt darüber hinaus einen völlig ungeeigneten Ermittlungsschritt dar, weil die wesentliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass die BF durch die Beiziehung eines Dolmetschers mit anderem Geschlecht ihre Erlebnisse über den Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung nur zum Teil oder abgeschwächt wiedergegeben hat. Insbesondere der Vorwurf der belangten Behörde, die BF habe eine weitere Gefahrensituation, nämlich von maskierten Männern geschlagen worden zu sein, äußerst einsilbig und absolut unsubstantiiert geschildert, hätte – durch die Beiziehung eines Sachbearbeiters und eines Dolmetschers mit jeweils demselben Geschlecht wie die BF – durch eine für die BF weniger beschämende Einvernahme entkräftet werden können.
Die durch die belangte Behörde vorgenommene Einvernahme der BF ist daher nicht zum Nachweis der mangelnden Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens geeignet. Indem die belangte Behörde diese Einvernahme trotzdem zum Nachweis der mangelnden Glaubhaftigkeit des Vorbringens der BF verwendet hat, ist ihr ein krasser Ermittlungsmangel vorzuwerfen, der eine Behebung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigt.
Trotz Vorliegens eines krassen Ermittlungsmangels hat das Verwaltungsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (§ 28 Abs. 2 Z 2 VwGVG).
Der maßgebliche Sachverhalt steht nicht fest, weil der im Asylverfahren zentrale Ermittlungsschritt, die Einvernahme des Asylwerbers, mangelhaft war und zur Feststellung des wesentlichen Sachverhaltes nicht herangezogen werden kann. Der maßgebliche Sachverhalt kann daher erst durch die (neuerliche) Einvernahme der BF unter Beiziehung eines jeweils weiblichen Sachbearbeiters und Dolmetschers sowie allenfalls durch die Vornahme weiterer, sich aus der neuen Einvernahme ergebenden, Ermittlungsschritte, wie Länderrecherchen, festgestellt werden. Diese faktische Neudurchführung des verwaltungsbehördlichen Verfahrens kann durch die belangte Behörde als (gerichtsnotorisch bekannte) Spezialbehörde rascher und kostengünstiger als durch das erkennende Gericht durchgeführt werden. Die belangte Behörde ist als Spezialbehörde u. a. im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig. Überdies soll eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden. § 28 Abs. 2 Z 2 VwGVG steht somit einer Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde nicht entgegen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden. Die belangte Behörde wird im neuen Rechtsgang die BF unter Beziehung einer jeweils weiblichen Sachbearbeiterin und Dolmetscherin neuerlich zu vernehmen haben.
Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Einvernahme, Ermittlungspflicht,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:W263.2177176.1.00Zuletzt aktualisiert am
19.02.2018