Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten Dr. Schramm, die Hofrätin Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Ing. Christian Stangl-Brachnik, MA BA (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ing. Karl Melichar (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*****, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Oktober 2017, GZ 11 Rs 75/17d-10, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Nach § 255 Abs 7 ASVG gilt der (die) Versicherte auch dann als invalid im Sinn der Abs 1 bis 4, wenn er (sie) bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, dennoch aber mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz erworben hat.
2. Der 1978 geborene Kläger ist geringfügig beschäftigt (Bruttolohn 211 EUR) und nach § 19a ASVG selbst versichert. Er hat 15 Beitragmonate der Pflichtversicherung und 115 Beitragsmonate aufgrund der Selbstversicherung erworben. Anerkannt ist das Vorliegen der originären Invalidität zum Zeitpunkt der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung. Umstritten blieb, ob die 115 Beitragsmonate der Selbstversicherung Beitragsmonaten der Pflichtversicherung gleichzuhalten sind, was die Vorinstanzen verneinten.
3. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist bereits klargestellt, dass Personen, die – wie der Kläger – nach dem 1. 1. 1955 geboren sind, nach der seit 1. 1. 2005 geltenden Rechtslage keine Ersatzzeiten mehr erwerben können und systematisch zwischen Zeiten, die aufgrund einer durch Erwerbstätigkeit erworbenen Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung, Zeiten einer Teilversicherung in der Pensionsversicherung sowie Zeiten einer freiwilligen Versicherung in der Pensionsversicherung (nach § 3 Abs 1 Z 3 APG) zu unterscheiden ist (10 ObS 145/10m, SSV-NF 24/72). Früher als Ersatzzeiten qualifizierte, seit dem Inkrafttreten des APG mit 1. Jänner 2005 der Teilversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 ASVG unterliegende Zeiten sind bei der Ermittlung der für einen Anspruch nach § 255 Abs 7 ASVG erforderlichen 120 Beitragsmonate nicht zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0126271; 10 ObS 145/10m).
4. Ein geringfügig Beschäftigter, der nach § 19a ASVG freiwillig versichert ist, übt zwar tatsächlich eine Erwerbstätigkeit aus. Der klare Wortlaut des § 255 Abs 7 ASVG verlangt aber 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung. Der Kläger sieht darin eine gesetzwidrige Lücke, die durch eine Gleichbehandlung von Beitragsmonaten aus einer freiwilligen Selbstversicherung zu schließen sei. Eine erhebliche Rechtsfrage zeigt er mit seiner Argumentation nicht auf.
5. Eine Analogie setzt eine Gesetzeslücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus (RIS-Justiz RS0098756 [T1]). Eine solche Lücke ist dort anzunehmen, wo das Gesetz gemessen an seiner eigenen Ansicht und immanenten Teleologie unvollständig und ergänzungsbedürftig ist, ohne dass eine Ergänzung einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widerspricht (RIS-Justiz RS0098756 [T14]). Die bloße Meinung des Rechtsanwenders, eine Regelung sei wünschenswert, rechtfertigt die Annahme einer Gesetzeslücke noch nicht (RIS-Justiz RS0098756 [T3]). Hat der Gesetzgeber für einen bestimmten Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge bewusst nicht angeordnet, fehlt es an einer Gesetzeslücke und daher auch an der Möglichkeit ergänzender Rechtsfindung (RIS-Justiz RS0008757 [T1]; RS0008866 [T8]).
6. Der mit BGBl 1962/13 eingeführte § 19a ASVG ordnete in Abs 6 an, dass die Selbstversicherung in Ansehung der Berechtigung zur Weiterversicherung und der Gewährung von Leistungen die gleichen Rechtswirkungen wie eine Pflichtversicherung in der Kranken- und Pensionsversicherung haben sollte. Hintergrund der Neuregelung war, dass nach der damaligen Novellierung mehrere geringfügige Beschäftigungen nicht mehr zusammengerechnet wurden und Personen, die infolge der früheren Zusammenrechnung pflichtversichert gewesen waren, aus der Pflichtversicherung herausfielen. Ihre sozialversicherungsrechtliche Schlechterstellung sollte vermieden werden (IA 147/A BlgNR 9. GP 57).
7. Mit dem ASRÄG 1997, BGBl I 1997/139, wurde § 5 Abs 1 Z 2 ASVG geändert: Für die Einhaltung der Geringfügigkeitsgrenze und damit die Ausnahme von der Vollversicherung waren mehrere Beschäftigungen wieder zusammenzurechnen. Der neu gefasste § 19a ASVG ordnete in Abs 6 eine Gleichstellung der Selbstversicherung mit der Pflichtversicherung für die Krankenversicherung, für die Pensionsversicherung hingegen nur mehr hinsichtlich der Berechtigung zur Weiterversicherung an.
8. Der mit dem 2. SVÄG eingeführte § 255 Abs 7 ASVG verfolgte das Ziel, auch Personen, die bei Eintritt in das Erwerbsleben aufgrund ihrer starken gesundheitlichen Einschränkungen an sich „arbeitsunfähig“ gewesen waren und dennoch über lange Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgingen, einen Anspruch auf Leistungen aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit einzuräumen (ErläutRV 310 BlgNR 22. GP 18). Der Gesetzgeber ordnete ausdrücklich und offenbar bewusst als Voraussetzung den Erwerb von 120 Beitragsmonaten aus der Pflichtversicherung an. Dieser besondere Wartezeittatbestand (Födermayr in SV-Komm [197. Lfg], § 255 ASVG Rz 233), gegen den nach der Rechtsprechung keine verfassungsrechtliche Bedenken bestehen (10 ObS 6/14a, SSV-NF 28/9; 10 ObS 13/15g, SSV-NF 29/16) ist auch damit zu rechtfertigen, dass es sich häufig um Zeiten handelt, in denen der Versicherte aufgrund des besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers und/oder seiner Kollegen gearbeitet hat (vgl 10 ObS 6/14a; Födermayr in SV-Komm § 255 ASVG Rz 233).
9. § 255 Abs 7 ASVG erfasst Personen, die insgesamt einen Arbeitsverdienst über der Geringfügigkeitsgrenze erzielen und höhere Sozialversicherungsbeiträge als in der freiwilligen Selbstversicherung geringfügig Beschäftigter vorgesehen entrichten, mag auch diese Differenz in einzelnen Fällen nicht sehr hoch ausfallen. Aufgrund der bewussten Unterscheidung des Gesetzgebers zwischen Beitragszeiten aus Pflichtversicherung, Teilversicherung und freiwilliger Versicherung im Bereich der Pensionsversicherung sind Beitragszeiten aus einer freiwilligen Selbstversicherung nach § 19a ASVG für die in § 255 Abs 7 ASVG geforderte Wartezeit von 120 Beitragsmonaten nicht zu berücksichtigen.
Textnummer
E120651European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00154.17W.0123.000Im RIS seit
19.02.2018Zuletzt aktualisiert am
22.06.2020