TE Vfgh Erkenntnis 2017/11/24 E716/2017

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Veröffentlicht am 24.11.2017
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Index

L4000 Anstandsverletzung, Bettelei, Ehrenkränkung, Lärmerregung

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
Stmk Landes-SicherheitsG §1, §2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen Lärmerregung und Anstandsverletzung durch Absehen von einer mündlichen Verhandlung vor dem Landesverwaltungsgericht betreffend die Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.        Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.        Mit Straferkenntnis vom 8. Juli 2017 verhängte die Landespolizeidirektion Steiermark gestützt auf §1 Abs1 und §2 Abs1 des Steiermärkischen Landes-Sicherheitsgesetzes (StLSG) gegen den Beschwerdeführer Geld- bzw. Ersatzfreiheitsstrafen in Höhe von insgesamt € 205,–. Zur Last gelegt wurde dem Beschwerdeführer, dass er am Vormittag des 28. Jänner 2015 im Schalterraum des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Regionaldirektion Steiermark) laut geschrien, Schimpfwörter verwendet und mit den Fäusten gegen die Schalterscheibe geschlagen habe.

2.       Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark und legte ein nervenfachärztliches Gutachten vor, in dem wörtlich u.a. Folgendes ausgeführt wird (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Kalkülswirksam ist zu berücksichtigen, dass der Betroffene an einer organisierten, in sich geschlossenen Form des Wahnes leidet, das bedeutet, dass die Angelegenheiten des Alltags ihm zuzumuten sind und nicht eingeschränkt sind.

In Bezug auf die wahnhaften Gebilde können allerdings wahninduzierte Verhaltensweisen und Entscheidungen, die de[m] Betroffene[n] auf Grund der Krankheit zum Nachteil gereichen, nicht ausgeschlossen werden.

Aus medizinischer Sicht ist es daher sinnvoll und derzeit notwendig dem Betroffenen Hilfestellung für Angelegenheiten vor Behörden, Gerichten, Sozialversicherungsträgern, privaten Vertragspartnern und in finanziellen Belangen zu bieten, da diese Angelegenheiten nicht ohne die Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgt werden können."

3.       Mit angefochtenem Erkenntnis vom 26. Jänner 2017 wies das Landesverwaltungsgericht Steiermark die Beschwerde unter Berücksichtigung des vorgelegten nervenfachärztlichen Gutachtens ohne Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung ab. Zur Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers für die ihm angelasteten Übertretungen führte das Landesverwaltungsgericht Steiermark u.a. wörtlich Folgendes aus:

"Wenngleich der Beschwerdeführer an einer in sich geschlossenen Form des Wahnes leidet, bedeutet dies, dass die Angelegenheiten des Alltages ihm zumutbar sind und nicht eingeschränkt zuzumuten sind. Schon diese Umstände legen deutlich dar, dass grundsätzlich beim Beschwerdeführer eine Unzurechnungsfähigkeit […] nicht anzunehmen ist. Dies ergibt sich nachweislich aus dem selbst vom Beschwerdeführer vorgelegten psychiatrischen Gutachten […], wonach dem Beschwerdeführer lediglich ein sogenannter Verfahrenssachwalter für die Bewältigung seiner Aufgaben vor Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern zur Seite zu stellen ist.

Hinweise dafür, dass im Gegenstand beim Beschwerdeführer ein die Zurechnungsfähigkeit ausschließender Zustand somit zum Tatzeitpunkt vorlag, waren nicht anzunehmen, vielmehr ist er aus persönlichen, von ihm zu verantwortenden Gründen ausgerastet und hat sich sowohl in der Lautstärke, als auch in der Wortwahl erheblich vergriffen."

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

5.       Das Landesverwaltungsgericht und die Landespolizeidirektion Steiermark haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.       Gemäß Art6 Abs1 erster Satz EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat, so nicht besondere Umstände vorliegen, die ein Absehen von einer solchen Verhandlung erlauben (vgl. VfSlg 16.624/2002, 16.790/2003, 18.289/2007, 18.721/2009 betreffend die Unabhängigen Verwaltungssenate).

3.       Das Landesverwaltungsgericht Steiermark hat im vorliegenden Fall diesen Anforderungen nicht genügt:

Das Landesverwaltungsgericht Steiermark stützt sich auf den im vorgelegten nervenfachärztlichen Gutachten enthaltenen Aspekt, dass dem Beschwerdeführer "die Angelegenheiten des Alltags [zumutbar] und nicht eingeschränkt" seien. Daraus folgert es, dass der Beschwerdeführer aus "von ihm zu verantwortenden Gründen ausgerastet" sei. Dabei verkennt es, dass das Gutachten dem Beschwerdeführer diesbezüglich lediglich attestiert, die Geschäfte des täglichen Lebens besorgen zu können. Die Auffassung, dass "schon diese Umstände" deutlich darlegten, dass eine Unzurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers "grundsätzlich" – und auch im vorliegenden Fall – "nicht anzunehmen" sei, ist bei den laut Gutachten bestehenden nicht ausschließbaren "wahninduzierte[n] Verhaltensweisen und Entscheidungen" insbesondere bei Behördengängen – hier das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Regionaldirektion Graz) – nicht nachvollziehbar. Mit diesen Widersprüchen hätte sich das Landesverwaltungsgericht Steiermark im Rahmen einer mündlichen Verhandlung näher befassen und die getroffenen Feststellungen präzisieren müssen.

III.    Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

2.       Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

5.       Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Polizeirecht, Lärmerregung, Anstandsverletzung, Verhandlung mündliche, fair trial

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:E716.2017

Zuletzt aktualisiert am

14.02.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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