TE Vfgh Erkenntnis 2017/12/13 E2185/2016

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Veröffentlicht am 13.12.2017
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Index

L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, Mindestsicherung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
Tir MindestsicherungsG §6 Abs1, §14 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Versagung einer Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfs wegen Übersteigens der ortsüblichen Wohnkosten für eine Normwohnung mit haushaltsbezogener Nutzfläche; Unterstellung eines - den Zweck der Mindestsicherung verfehlenden - verfassungswidrigen Inhaltes des Gesetzes durch Annahme eines "Alles oder Nichts-Prinzips"

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG) in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Tirol ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren:

1.1.    Die Beschwerdeführerin beantragte am 28. Jänner 2016 bei der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck die Zuerkennung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zur Deckung des Wohnbedarfes.

1.2.    Mit Bescheid vom 17. März 2016 erkannte die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck der Beschwerdeführerin gemäß §7 des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes, LGBl für Tirol 99/2010 idF LGBl für Tirol 130/2013 (im Folgenden: TMSG), für die Zeit vom 1. Februar 2016 bis zum 30. Juni 2016 eine monatliche Unterstützung zur Miete in der Höhe von € 184,12 und für den Monat Juni eine einmalige Sonderzahlung in der Höhe von € 75,40, zu.

2.       Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Verwaltungsgericht Tirol. Darin führt die Beschwerdeführerin aus, dass der Mietzins für ihre Wohnung samt Betriebskosten in der Höhe von € 10,70 pro m2 günstig sei und im unteren Bereich des Richtwertes in Tirol liege. Insbesondere entspreche es nicht den Tatsachen, dass der Mietpreis für eine Wohnung (in Tirol) nur € 8,00 pro m2 betrage. Weiters brachte sie vor, dass ihr nach dem Gesetz auch der Ersatz der Übersiedlungskosten zustehe, da in ihrem Fall eine Notlage bestanden habe. Die Beschwerdeführerin beantragte die "Aufhebung der Ablehnung der Übersiedlungskosten sowie die Anerkennung [von] € 10,70 pro m2 umgerechnet auf 40 m2" (als ortsübliche Mietkosten).

3.       Das Verwaltungsgericht Tirol wies mit Erkenntnis vom 15. Juli 2016 die Beschwerde "mit der Maßgabe als unbegründet" ab, als "dass ein Anspruch auf Übernahme von Wohnkosten nicht" bestehe. Den Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides änderte das Verwaltungsgericht dahingehend ab, "dass der Antrag auf Übernahme von Wohnkosten abgewiesen wird":

"Das Landesverwaltungsgericht geht vom folgenden maßgeblichen Sachverhalt aus:

Die Beschwerdeführerin hat am 28.01.2016 bei der belangten Behörde einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Tiroler Mindestsicherungsgesetz gestellt. Nach dem Akteninhalt [war] sie zuvor noch bis zum 05.01.2016 in 2680 Semmering gemeldet und ist sodann nach Reith bei Seefeld übersiedelt. Im Antrag auf Gewährung von Leistungen der Mindestsicherung wird ausgeführt, dass [sie] eine Wohnung in der Größe von 75 m2 bewohnt, für welche sei einen Mietzins in der [Höhe] von € 600,00 und Betriebskosten in der Höhe von € 150,00 zu bezahlen hat. Nach dem Antrag verfügt sie über ein monatliches Arbeitseinkommen in der Höhe von € 763,20.

Festgehalten wird, dass die Beschwerdeführerin mit E-Mailnachricht vom 12.04.2016 der belangten Behörde bekannt gegeben hat, dass sie aufgrund eines Arbeitsunfalls nicht mehr erwerbstätig ist. Eine Rückfrage bei der belangten Behörde hat ergeben, dass aufgrund dieser Mitteilung am 31.05.2016 eine Anpassung der Leistungen erfolgt ist.

Zur Höhe der ortsüblichen Mietkosten für eine Wohnung mit 40 m2 hat die belangte Behörde nach dem vorgelegten Akt am 08.03.2016 eine Erhebung durchgeführt. Dabei wurden Angebote über das Internet für drei Wohnungen in der Größe zwischen 40 und 50 m2 eingeholt und ergibt sich daraus, dass Wohnungen in dieser Größenordnung im Gebiet, in dem die Beschwerdeführerin lebt, zu einem Preis von € 425,00 bis € 490,00 angeboten werden, wobei nach diesen Anzeigen in diesem Preis die 'Gesamtmiete' eingerechnet ist, diese sohin die Betriebskosten erfasst. Das Landesverwaltungsgericht Tirol geht daher davon aus, dass die ortsüblichen Mietkosten im Bereich Reith bei Seefeld für eine 40 m2 Wohnung jedenfalls nicht über € 490,00 liegen."

3.1.    In rechtlicher Hinsicht führte das Landesverwaltungsgericht aus:

"Gemäß §6 Abs1 TMSG besteht die Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes in der Übernahme der tatsächlich nachgewiesenen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung, sofern diese die ortsüblichen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung mit einer haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche nach Abs2 nicht übersteigen. Gemäß Abs2 beträgt die Höchstnutzfläche für einen Einpersonenhaushalt 40 m2 und für einen zwei Personenhaushalt 60 m2. Bei mehr als zwei Personen in einem Haushalt erhöht sich die Höchstnutzfläche für jede weitere Person um jeweils 10 m2, höchstens jedoch bis zu eine Nutzfläche von insgesamt 110 m2.

Zur Vermeidung besonderer Härtefälle kann gemäß §14 Abs2 TMSG unabhängig von der Gewährung von Grundleistungen Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes durch die Übernahme der Kosten und Abgaben für eine Wohnung auch dann, wenn diese die ortsüblichen Kosten und Abgaben für eine Wohnung mit der entsprechenden haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche übersteigen, gewährt werden. Diese Regelung ist nach §27 Abs2 TMSG im Privatrechtsweg zu vollziehen.

Die Beschwerdeführerin wohnt alleine in einer 75 m2 großen Wohnung. Gemäß der oben angeführten Regelung des §6 TMSG beträgt die Höchstnutzfläche für einen 1-Personen Haushalt 40 m2. Gemäß §6 Abs1 TMSG hat die Beschwerdeführerin somit bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen Anspruch auf Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes in der Übernahme der tatsächlich nachgewiesenen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine 40 m2-Wohnung, sofern diese die ortsüblichen Kosten für eine solche Wohnung nicht überschreitet.

Somit ist es Sache des Ermittlungsverfahrens, in einem ersten Schritt festzustellen, wie hoch die ortsüblichen Kosten iSd §6 Abs1 TMSG für eine 40 m2-Wohnung am Wohnort der Beschwerdeführerin sind. Diese bilden sodann den Rahmen, den die im konkreten Einzelfall nachgewiesenen Kosten einer Wohnung nicht überschreiten dürfen. Dabei ist die genaue Größe der konkreten Wohnung nicht weiter von Belang, da der einzige Bezugspunkt des Gesetzes bei der Frage der Übernahme der Kosten die Höhe derselben sind. Mit anderen Worten: ob die Wohnung bei einem 1 Personenhaushalt 40, 75 oder 100 m2 hat ist nicht entscheidungswesentlichen; relevant ist ausschließlich, ob die Kosten für die Wohnung im Rahmen der ortsüblichen Kosten für eine 40 m2-Wohnung Platz finden (vgl auch LVwG Tirol 03.12.2014, 2014/15/2658-3).

Diese Kosten bilden sodann die Grenze für die Kosten der jeweiligen Wohnung, die nach dem TMSG zugestanden werden können (vgl dazu auch LVwG-Tirol 09.03.2015, LVwG-2015/45/0348-2 und LVwG-Tirol 01.12.2014, LVwG-2014/17/1602-10). Liegen die von der Beschwerdeführerin tatsächlich nachgewiesenen Kosten innerhalb dieses Rahmens, so besteht gemäß §6 TMSG ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Wohnbedarfes; übersteigen hingegen die tatsächlich nachgewiesenen Kosten diesen Rahmen, so besteht diesbezüglich kein Anspruch.

Nach den Erläuterungen zu §6 des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes ist bei der Frage nach den sachlichen Voraussetzungen für diese Leistung alleine (Anm.: Hervorhebung nicht im Original) darauf abzustellen, ob die Mietkosten, Betriebskosten etc das Maß der Ortsüblichkeit bei einer derartigen Wohnung übersteigen. Daraus ist erkennbar, dass der Gesetzgeber nicht intendiert hat, dass bei Wohnungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, im Wege des §6 TMSG ein aliquoter Kostenanteil zu berücksichtigen wäre.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf den Wortlaut des §6 Abs1 TMSG hinzuweisen, gemäß dem die Kosten für eine Wohnung 'sofern diese die ortsüblichen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung mit einer haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche nach Abs2 nicht übersteigen' übernommen werden. Mit dem Wort 'sofern' wird eine konditionale Satzverbindung vorgenommen: Dabei werden zwei Sätze verbunden, bei denen ein Satz eine 'Bedingung' beschreibt, unter der eine 'Folge' eintreten kann. Bedingung ist die Einhaltung bestimmter Kosten, Folge der Rechtsanspruch auf Übernahme. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wenn die Bedingung nicht erfüllt ist, die Folge nicht eintreten kann, ein Rechtsanspruch daher nicht besteht. Durch das Wort 'sofern' hat der Gesetzgeber somit klar zum Ausdruck gebracht, dass die Übernahme der Kosten an die Einhaltung dieses Rahmens gebunden ist. Wenn diese Kosten im Einzelfall überschritten werden, so gebührt kein Anspruch auf die Übernahme von Kosten aus diesem Titel, insbesondere ist auch durch das Gesetz nicht vorgesehen, dass diese aliquot oder bis zu einem bestimmten Betrag zu übernehmen wären. Wenn die Kosten der Wohnung daher die ortsüblichen Kosten einer Wohnung nach §6 Abs2 TMSG übersteigen, dann ist ein Antrag auf Übernahme dieser Kosten zur Gänze abzuweisen.

Dass der Gesetzgeber keine Übernahme eines Teils der Kosten einer Wohnung vor Augen hatte ist auch daraus erkennbar, dass für den Fall der zu hohen Wohnkosten im Sinne dieser Ausführungen in §14 Abs2 TMSG eine eigene Regelung vorgesehen ist, wonach die Kosten auch in diesem Fall im Privatrechtswege übernommen werden können (vgl auch LVwG Tirol 03.12.2014, 2014/15/2658-3). Diese Regelung sieht ausdrücklich die Übernahme der Kosten und Abgaben für eine Wohnung vor und nicht etwa nur die Übernahme jenes Teils der Kosten, die über den ortsüblichen Kosten einer entsprechenden Wohnung liegen. Auch aus dem Wortlaut dieser Bestimmung zeigt sich daher, dass bei Wohnkosten, die das ortsübliche Maß übersteigen, keine anteilsmäßige Übernahme von Wohnkosten durch §6 TMSG vorgesehen ist: in einem derartigen Fall kommt daher ausschließlich eine Übernahme der Wohnkosten im Privatrechtswege nach §14 Abs2 TMSG in Betracht.

Schließlich ergibt auch eine Auslegung des TMSG nach den in §1 definierten Zielen und Grundsätzen kein anderes Ergebnis: So bezweckt die Mindestsicherung, den Beziehern das Führen eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen. Dazu sieht das Gesetz bestimmte Mindestsätze vor, die der Deckung des vom Gesetzgeber definierten Bedarfs dienen sollen. Wenn aber der Mindestsatz dadurch, dass er um zusätzliche Wohnkosten geschmälert wird, nicht mehr zur Gänze zur Abdeckung dieser Bedürfnisse zur Verfügung steht, so wird diesem gesetzlich definierten Ziel der Mindestsicherung widersprochen: Der Empfänger der Leistung befände sich trotz aufrechtem Bezug von Leistungen der Mindestsicherung in einer Notlage im Sinne des §2 Abs1 lita TMSG, da ihm nicht ausreichend Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbleiben würden. Auch eine Auslegung des Gesetzes nach seinen Zielbestimmungen zeigt daher, dass eine anteilsmäßige Übernahme der Wohnkosten nach §6 TMSG mit dem Ergebnis, dass die Mittel zur Befriedigung des sonstigen Bedarfs nicht mehr zur Verfügung stehen, nicht in Betracht kommen kann.

Somit ergeben eine Verbalinterpretation, eine grammatische Interpretation und eine systematische Interpretation gleich wie eine teleologische Interpretation des §6 Abs1 TMSG übereinstimmend, dass ein Anspruch auf Übernahme eines Wohnkostenanteils wie im vorliegenden Fall von der belangten Behörde zugestanden nicht besteht. Zumal im vorliegenden Verfahren ein Verschlechterungsverbot nicht besteht war der angefochtene Bescheid daher betreffend die Übernahme von Wohnkosten zu beheben und der Antrag der Beschwerdeführerin auf Übernahme dieser Kosten zu versagen."

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.

5.       Das Verwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II.      Rechtslage

1.       Die maßgeblichen Bestimmungen des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes in der für den vorliegenden Fall noch relevanten Stammfassung LGBl für Tirol 99/2010, lauteten wie folgt:

"§6

Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes

(1) Die Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes besteht in der Übernahme der tatsächlich nachgewiesenen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung, sofern diese die ortsüblichen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung mit einer haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche nach Abs2 nicht übersteigen.

(2) Die Höchstnutzfläche beträgt für einen Einpersonenhaushalt 40 m² und für einen Zweipersonenhaushalt 60 m². Bei mehr als zwei Personen in einem Haushalt erhöht sich die Höchstnutzfläche für jede weitere Person um jeweils 10 m², höchstens jedoch bis zu einer Nutzfläche von insgesamt 110 m².

(3) Die Kosten und Abgaben nach Abs1 dürfen direkt an Dritte ausbezahlt werden, wenn dadurch eine drohende Delogierung verhindert oder das Ziel der Sicherung des Wohnbedarfes besser erreicht werden kann."

"§14

Zusatzleistungen

(1) Zur Vermeidung besonderer Härtefälle können zusätzlich zu Grundleistungen gewährt werden:

a) Sachleistungen oder Geldleistungen, letztere entweder

1. im Ausmaß von monatlich höchstens 15 v. H. des Ausgangsbetrages nach §9 Abs1 oder

2. bei einmaliger Unterstützung im Ausmaß von höchstens 180 v. H. des Ausgangsbetrages nach §9 Abs1 pro Jahr,

b) Hilfe zur Arbeit

1. auch für den Fall, dass seit weniger als sechs Monaten eine Grundleistung bezogen wird,

2. durch finanzielle Zuschüsse an den Arbeitgeber auch über zwölf Monate hinaus und im Ausmaß von mehr als 75 v. H. des Ausgangsbetrages nach §9 Abs1,

3. durch finanzielle Zuschüsse auch für notwendige, mit der Arbeitsaufnahme im Zusammenhang stehende Aufwendungen direkt an den Hilfesuchenden.

(2) Zur Vermeidung besonderer Härtefälle kann unabhängig von der Gewährung von Grundleistungen Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes durch die Übernahme der Kosten und Abgaben für eine Wohnung auch dann, wenn diese die ortsüblichen Kosten und Abgaben für eine Wohnung mit der entsprechenden haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche übersteigen, gewährt werden.

(3) Zur Vermeidung besonderer Härtefälle ist unabhängig von der Gewährung von Grundleistungen Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes durch die Übernahme der Kosten auch für unabdingbare einmalige Aufwendungen für die Leistung einer Kaution und die Errichtung von Bestandverträgen sowie für die Grundausstattung mit Möbeln und Hausrat zu gewähren."

"6. Abschnitt

Verfahren

§27

Zuständigkeit

(1) Den Bezirksverwaltungsbehörden obliegt, soweit diese nicht in die Zuständigkeit der Landesregierung (Abs3 erster Satz) oder der Gemeinden fällt (Abs4), die Entscheidung über:

a) die Gewährung, Kürzung und Einstellung von Grundleistungen,

b) die Gewährung von sonstigen Leistungen,

c) den Kostenersatz durch den Mindestsicherungsbezieher oder durch Dritte,

d) die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Leistungen und

e) die Ersatzansprüche Dritter.

(2) Die Bezirksverwaltungsbehörden haben im Verwaltungsweg zu entscheiden:

a) in den Angelegenheiten nach Abs1 lita, ausgenommen jedoch die Gewährung, Kürzung und Einstellung von Grundleistungen für Fremde nach §3 Abs3,

b) in den Angelegenheiten nach Abs1 litb, wenn es sich dabei um Leistungen nach §10 und Zusatzleistungen nach §14 Abs3 handelt,

c) in den Angelegenheiten nach Abs1 litc und d, wenn sich der Kostenersatz oder die Rückerstattung auf im Verwaltungsweg zu gewährende Leistungen bezieht, und

d) in den Angelegenheiten nach Abs1 lite.

(3) – (6) [...]".

2.       In den Erläuternden Bemerkungen, Landtagsmaterialien 498/10, heißt es dazu:

"Zu §6 (Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes):

Die Regelungen betreffend die Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes werden insofern vereinfacht, als in Bezug auf die sachlichen Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung künftig allein darauf abzustellen ist, ob die Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für die in Frage kommende Wohnung die ortsüblichen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung mit einer bestimmten haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche nicht übersteigen (Abs1). In der Folge wird die Höchstnutzfläche für unterschiedliche Haushaltskonstellationen festgelegt (Abs2).

Im [Zuge] der Gewährung der Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes ist somit eine anlassbezogene Prüfung der – anhand der Nutzflächendefinition des §2 Abs9 zu ermittelnden – Größe der Wohnung und der anfallenden Wohnungskosten vorzunehmen. Dabei sind die ortsüblichen Kosten und Abgaben durch einen Vergleich mit den Kosten und Abgaben, die für eine vergleichbare Wohnung in der Region anfallen, zu ermitteln.

Der Abs3 entspricht inhaltlich Art11 Abs3 der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art15a B-VG über eine bundesweite [Bedarfsorientierte] Mindestsicherung."

III.    Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

2.       Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat. (zB VfSlg 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001).

Ein solcher Fehler ist dem Verwaltungsgericht Tirol unterlaufen:

2.1.    Gemäß §6 TMSG besteht die Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes in der Übernahme der tatsächlich nachgewiesenen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung, sofern diese die ortsüblichen Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben für eine Wohnung mit einer haushaltsbezogenen Höchstnutzfläche nach Abs2 nicht übersteigen.

2.2.    Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes dient (arg. "sofern") die in dieser Bestimmung normierte Kostengrenze nicht bloß der Begrenzung der Leistungen der Mindestsicherung, sondern ihre Einhaltung soll überdies eine Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Wohnbeihilfe sein.

2.3.    Hätte die Norm diesen Inhalt, so verfehlte sie ihr Ziel, bedürftigen Personen eine Unterkunft zu sichern: Selbst wenn die normierte Begrenzung der Leistung den Zweck haben sollte, Bedürftige dazu anzuregen, mit bescheidenen Wohnmöglichkeiten das Auslangen zu finden, ist jedoch nicht erkennbar, aus welchem Grund es erforderlich sein sollte, in Verfolgung dieses Zwecks die Leistung bei Überschreiten der Kostengrenze überhaupt nicht zu gewähren. Denn weder wird eine Person zeitgleich mit Eintritt der Bedürftigkeit in der Lage sein, aus der von ihr bewohnten Unterkunft in eine "mindestsicherungsgerechte" Wohnung zu übersiedeln, noch ist erkennbar, dass etwa das Land oder die Gemeinden Wohnungen in entsprechender Größe und ebensolchen Kosten für derartige Zwecke in ausreichender Zahl bezugsfertig bereithalten würden.

2.4.     Dieses "Alles oder Nichts-Prinzip", würde also dazu führen, dass keineswegs nur in Fällen "besonderer Härte" bedürftige Personen Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes nicht erhalten. Eine mindestsicherungsrechtliche Norm, die solcherart ihren Zweck verfehlt, wäre überschießend und mit dem Zweck der Mindestsicherung nicht mehr zu vereinbaren. Das Gesetz wäre in dieser Auslegung des §6 Abs1 TMSG unsachlich und daher verfassungswidrig: Ist nämlich in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem offensichtlich insoweit seine Aufgabenstellung (VfSlg 19.698/2012).

2.5.    Das Verwaltungsgericht hält dessen ungeachtet seine Auslegung des §6 TMSG aus zwei Gründen für zwingend: einerseits wegen der Konjunktion "sofern" in §6 Abs1 TMSG und andererseits wegen der nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes für derartige Fälle vorgesehenen Härtefallregelung in §14 TMSG. Die genannten Normen haben aber nicht den vom Verwaltungsgericht behaupteten Inhalt:

2.5.1.  Aus dem "sofern"-Satz in §6 Abs1 TMSG ist bei reiner Wortinterpretation zwingend nur der Schluss zu ziehen, dass es (erstens) zu einer "Übernahme" der Wohnkosten – und zwar zur Gänze – jedenfalls dann kommt, wenn ("sofern") die im Gesetz genannten Grenzen nicht überschritten sind, sowie ferner dass (zweitens) die Höhe der ortsüblichen Mietkosten für eine Wohnung in der angegebenen "Normgröße" pro Person zugleich die Höchstgrenze der Geldleistung aus dem Titel "Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes" sein soll. Was rechtens ist, wenn Wohnungsgröße und/oder Mietkosten diese Grenzen überschreiten, ist in §6 TMSG nicht ausdrücklich geregelt.

2.5.2.  Der vom Verwaltungsgericht aus §6 Abs1 TMSG gezogene Gegenschluss, dass bei Überschreitung der gesetzlichen Obergrenzen überhaupt keine Leistung gebührt, ist auch bei Berücksichtigung des §14 Abs2 TMSG nicht zutreffend: Die in der letztgenannten Bestimmung erwähnte Zusatzleistung durch "Übernahme der Kosten und Abgaben" der Wohnung kann ausdrücklich "unabhängig von der Gewährung von Grundleistungen" gewährt werden, also auch dann, wenn die Grundleistung zwar zusteht, sie aber nicht ausreicht, weil die Kosten und Abgaben der Wohnung jene der "Normwohnung" übersteigen.

2.5.3.  §14 Abs2 TMSG setzt also schon nach seinem Wortlaut für die Gewährung einer Zusatzleistung nicht voraus, dass die Grundleistung nicht gebührt. Diese Zusatzleistung wird aber nur im Fall "besonderer Härtefälle" gewährt. Liegt ein solcher Härtefall nicht vor, so bleibt es auch in einem solchen Fall – im Gegenschluss aus §14 Abs2 TMSG – bei der geringeren Grundleistung.

2.5.4.  Aus §14 Abs2 TMSG ergibt sich also schon nach dessen Wortlaut in Bezug auf die Auslegung des §6 Abs1 TMSG das Gegenteil dessen, was das Verwaltungsgericht aus dieser Bestimmung ableitet.

2.6.    Das Verwaltungsgericht hat somit dem §6 Abs1 TMSG einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt.

IV.      Ergebnis

1.       Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

2.       Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

3.       Die Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Mindestsicherung, Auslegung eines Gesetzes

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:E2185.2016

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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