TE Bvwg Erkenntnis 2018/1/16 L524 2174571-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.01.2018
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Entscheidungsdatum

16.01.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L524 2174571-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER, LL.B. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2017, Zl. 1091938208-151600521, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 04.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 22.10.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, dass er Araber und schiitischer Moslem sei. Er habe zwölf Jahre die Grundschule besucht und mit Matura abgeschlossen. Danach habe er die Handelshochschule absolviert. Zuletzt habe er als Managementangestellter gearbeitet. Den Entschluss zur Ausreise habe er vor ca. drei Monaten gefasst. Am 18.09.2015 habe er den Irak legal verlassen und am 04.10.2015 sei er in Österreich eingereist. Seinen Reisepass habe er verloren.

Hinsichtlich seines Fluchtgrundes gab er an: "Ich hatte Angst um mein Leben. In Bagdad herrscht ein versteckter Bürgerkrieg.".

2. Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 06.09.2017 legte der Beschwerdeführer eine Kopie seines Reisepasses vor, aus der ein anderer Name hervorgeht als jener unter dem der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Nur seinen Personal Ausweis legte der Beschwerdeführer im Original vor. Sämtliche sonst vom Beschwerdeführer vorgelegte Dokumente sind nur Kopien. Die Originale hätte er auf dem Weg von Griechenland in die Türkei verloren. Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen an, dass er in Bagdad geboren sei und dort bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 gelebt habe. Er sei Araber und Moslem. Seine Mutter sei Schiitin und sein Vater bekenne sich zu keiner Konfession. Auch der Beschwerdeführer gehöre keiner Konfession an. In seinem Stamm gebe es sowohl Sunniten als auch Schiiten. Er habe zwölf Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Danach habe er ein College für Wirtschaft besucht. Er habe als Elektriker auf dem Bau gearbeitet und danach in einer Druckerei. Auch als IT-Techniker sei er tätig gewesen. Von 2014 bis 2015 sei er in der Personalabteilung bei der Polizei tätig gewesen. Auf den Vorhalt seiner Angaben zum Beruf in der Erstbefragung gab der Beschwerdeführer an, er hätte dem Dolmetscher gesagt, in der Verwaltung bei der Polizei tätig gewesen zu sein. Seine Eltern seien eines natürlichen Todes verstorben; der Vater im Jahr 2013 und die Mutter im Jahr 2016. Der Beschwerdeführer habe vier Geschwister, die alle in Bagdad leben würden und zu denen er in Kontakt stehe. Sein Bruder sei dort Richter und seine drei Schwestern seien Lehrerinnen. Der Beschwerdeführer sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. In Österreich führe er keine Lebensgemeinschaft. Er habe österreichische Freunde und lebe von der Grundversorgung. Am 17.09.2015 habe er den Irak verlassen. Er sei von Bagdad über Erbil in die Türkei ausgereist. Bei der Ausreise sei sein Reisepass kontrolliert worden. Am 04.10.2015 sei er illegal in Österreich eingereist.

Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass er im August mit seinen Kollegen in der Arbeit Nachrichten angesehen habe. Im Zuge dessen sei es zu einer Meinungsverschiedenheit mit einem Offizier namens XXXX gekommen, der der Asaib Ahl al-Haq angehöre. Er habe eine Waffe auf den Beschwerdeführer gerichtet und gemeint, wären sie nicht in einer Einrichtung des Staates, würde er ihn töten. Ein anderer Offizier namens XXXX habe sich eingemischt. Am 23. oder 24. August habe der Beschwerdeführer zu XXXX ins Büro kommen müssen und sei von diesem aufgefordert worden, mit der Asaib Ahl al-Haq zu kämpfen. Der Beschwerdeführer habe abgelehnt, worauf XXXX gemeint habe, dass ihm das schaden würde und er es sich überlegen solle. Der Beschwerdeführer sei dann zu XXXX gegangen, habe auch ihm gesagt, dass er nicht kämpfen wolle und dieser habe zum Beschwerdeführer gesagt, dass er das Land verlassen müsse, wenn er nicht kämpfen wolle. Das sei sein Fluchtgrund, weitere Gründe habe er nicht.

3. Mit Bescheid des BFA vom 06.10.2017, Zl. 1091938208-151600521, wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Begründung werden zunächst die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund in der Erstbefragung sowie die Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA wörtlich wiedergegeben. Das BFA stellte fest, dass der Beschwerdeführer irakischer Staatsangehöriger, Araber und schiitischer Moslem sei. Er sei ledig und habe weder Kinder noch sonstige Sorgepflichten. Er befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung und leide an keinen Krankheiten. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe habe er in unglaubwürdiger Weise behauptet, als Polizist tätig gewesen zu seine und eine Diskussion mit einem Arbeitskollegen gehabt zu haben und von ihm zum Beitritt zu einer Miliz aufgefordert worden zu sein. Nicht festgestellt werden könne, dass er im Irak einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Der Beschwerdeführer habe im Irak zwölf Jahre die Schule besucht. Er verfüge im Irak über familiäre Anknüpfungspunkte. Danach traf das BFA Feststellungen zur Lage im Irak.

Beweiswürdigend führte das BFA aus:

"Unzweifelhaft ist im Asylverfahren die niederschriftliche Aussage eines Asylwerbers die zentrale Erkenntnisquelle. Deshalb obliegt es dem Asylwerber alles Zweckdienliche für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung darzulegen und müssen Ihre Angaben von der Behörde auf Ihre Glaubwürdigkeit überprüft werden.

Auch wenn für eine Glaubhaftmachung im Gegensatz zu einer Beweisführung der Nachweis der Wahrscheinlichkeit ausreicht, müssen aber die für die Annahme eines Sachverhaltes sprechenden Gründe die gegenteiligen Gründe jedenfalls überwiegen, wobei der Aussage des Asylwerbers selbst wesentliche Bedeutung zukommt (AsylGH 15.6.2009, D11 260.145-0/2008/8E).

Grundsätzlich ist eine Aussage dann als glaubhaft einzustufen, wenn das Vorbringen des Asylwerbers genügend substantiiert ist und der Asylwerber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Zudem muss das Vorbringen in sich schlüssig und plausibel sein, was voraussetzt, dass der Asylwerber sich nicht in wesentlichen Aussagen widerspricht bzw. dass sein Vorbringen mit den Tatsachen oder der allgemeinen Lebenserfahrung übereinstimmt.

Es entspricht der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes beziehungsweise Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens – niederschriftlichen Einvernahmen – unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 6.3.1996, 95/20/0650).

Niederschriftlich ist es Ihnen beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) nicht gelungen ein fundiertes und substantiiertes Vorbringen rund um etwaige Fluchtgründe im Herkunftsland darzulegen. Sie haben beim BFA ein vages, abstraktes Vorbringen dargelegt.

Niederschriftlich gaben Sie in der Erstbefragung am 22.10.2015 im Wesentlichen an, dass sie aus Angst vor dem herrschenden Krieg im Irak/Bagdad das Land verlassen hätten.

In der niederschriftlichen Einvernahme am 06.09.2017 steigerten Sie Ihr Fluchtvorbringen, indem Sie nun auf einmal ausführten, dass Sie im Irak als Polizist tätig waren und von einem Arbeitskollegen bzw. von ihm aufgefordert worden wären, der schiitischen Miliz asaib al el haq beizutreten.

Würde Ihr Fluchtvorbringen den Tatsachen entsprechen, hätten Sie bereits bei der Erstbefragung dieses wesentliche Ereignis erwähnt. Die Behörde geht davon aus, dass gerade solche relevanten und einschneidende Ereignisse, wie die von Ihnen in der Einvernahme am 06. September 2017 ausgeführten Darstellungen Ihrer Entführung, in der Erstbefragung, falls Sie dies erlebt hätten, auch erwähnt hätten, zumal es Ihre Chance auf eine Rückkehr in den Irak gemindert hätte.

Für das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist aufgrund des enormen Widerspruches zwischen Ihren angegebenen Fluchtgründen in der Erstbefragung und den stark divergierenden Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme am 06.09.2017 die Glaubhaftigkeit Ihres Vorbringens nicht gegeben. Für die Behörde ist es mangels logischer nachvollziehbarer Aussagen offensichtlich, dass Sie ein frei erfundenes Fluchtvorgingen dargestellt haben und dies in der niederschriftlichen Einvernahme noch steigerten um die Behörde zu täuschen.

Im Zuge Ihrer Erstbefragung am 22.10.2015 gaben Sie an, dass Ihr letzter ausgeübter Beruf, die Anstellung im Managementbereich war. Es ist daher nicht nachvollziehbar weshalb Sie gerade als Polizist nicht angegeben haben, dass es sich bei Ihrer Person um einen Beamten der Sicherheitsbehörden handelt, der noch dazu aufgrund seiner Berufung bzw. seinem Arbeitsumfeld bedroht worden ist.

Personen, die eine tatsächliche Begebenheit im Asylverfahren schildern, sind regelmäßig in der Lage und vor allem auch gewillt, möglichst alles, was die Erlebnisse nachvollziehbar erscheinen lässt, vorzubringen – umso mehr, als dass die Möglichkeit der Einvernahme im Asylverfahren das Beste und manchmal auch einzige Beweismittel des Asylwerbers ist, die behauptete Gefahrenlage glaubhaft zu machen und somit die Gewährung des internationalen Schutzes zu erreichen.

Entgegen Ihrer selbstbehaupteten umfassenden Polizeiausbildung haben Sie in der Tat nicht die geringste Ahnung von fundamentalen Polizeibefugnissen und deren Rechtsquellen (z. B. Festnahmebestimmungen)! Sie waren nicht in der Lage einen überschaubaren Überblick über die Organisation des Bundesministeriums widerzugeben. Diesbezüglich wird auf Ihre entsprechenden diesbezüglichen Angaben beim BFA/RD-Wien verwiesen!

Befragt ob Sie sich jemals mit dem Thema schiitische Milizen im Irak beschäftigten, verneinten Sie diese Frage. Dies erscheint der Behörde als äußerst merkwürdig, da Sie einerseits davon berichten Polizist im Irak gewesen zu sein und andererseits nicht sich mit wichtigen Rebellengruppierungen im Irak beschäftigt haben. So ist es aber von einem Beamten der Sicherheitsbehörden zu erwarten in diesem Bereich Kenntnisse aufweisen zu können.

Grundsätzlich lassen in dieser Erzählung sämtliche Details vermissen, es mangelt Ihren Ausführungen an jeglichen Hinweisen auf die gesamte Situation, Ihre damalige Verfassung bzw. die von Ihnen in dieser Lage empfundenen Emotionen und stellt dies jedenfalls alles andere als eine lebensnahe Schilderung dar, was unweigerlich zur Feststellung der Unglaubwürdigkeit führen muss.

Ihren Angaben fehlte es generell an sämtlichen Hinweisen, die annehmen ließen, dass Sie wahre Erlebnisse schilderten. Sie brachten selbständig weder Einzelheiten vor, noch ging aus Ihren Schilderungen hervor, die von einer Erzählung sprechen lassen, die sich auf wahre Begebenheiten beziehen würde. Es mangelte an der Darlegung von jeglichen Details, wie z.B. genauen Zeit- und Ortsangaben, Sie brachten in keiner Weise Interaktionen vor, unterließen es, Ihre Schilderung durch Gespräche und Emotionen zu untermalen und erweckten damit den Eindruck, Ihre Geschichte noch während der Einvernahme zu konstruieren. Diese Beurteilung findet insbesondere darin Bestätigung, da Sie nicht einmal in der Lage waren, den genauen Zeitpunkt zu benennen, bei dem der Konflikt auf Ihrer Arbeitsstätte stattgefunden hat. Sie gaben dazu an, dass es sich hierbei um den August gehandelt hat. Näheres ergänzten Sie von sich aus nicht.

Zusammenfassend gelangt die erkennende Behörde daher im Rahmen der von Ihnen vorzunehmenden Beweiswürdigung zu einem den Denkgesetzen und den Erfahrungen des Lebens entsprechenden Ergebnis, indem sie aufgrund der getroffenen Feststellungen, insbesondere aber aufgrund des Vorbringens zu den Fluchtgründen unter Hinzuziehung der Recherchen der Staatendokumentation zu dem Schluss kommt, dass Sie mit diesem keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnten."

In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seinen behaupteten Fluchtgrund nicht habe glaubhaft machen können. Aus dem Vorbringen und der allgemeinen Situation sei auch im Falle der Rückkehr keine unmenschliche Behandlung oder extreme Gefährdungslage ersichtlich. Eine Interessenabwägung ergebe, dass die Rückkehrentscheidung zulässig sei.

4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in der im Wesentlichen das Fluchtvorbringen wiederholt wird.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, Moslem und Araber. Er wurde in Bagdad geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise aus dem Irak. Der Beschwerdeführer verließ im September 2015 legal den Irak und reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 04.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die Eltern des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. In Bagdad leben der Bruder des Beschwerdeführers, der dort Richter ist und die drei Schwestern, die als Lehrerinnen arbeiten. Der Beschwerdeführer steht mit ihnen in Kontakt.

Der Beschwerdeführer hat im Irak zwölf Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Danach besuchte er ein College für Wirtschaft. Der Beschwerdeführer ist ledig, hat keine Kinder und ist gesund. Er hat Berufserfahrung als Elektriker, IT-Techniker und hat in einer Druckerei gearbeitet.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht berufstätig.

Der Beschwerdeführer hat an einem zweistündigen Workshop "Hilfe im Notfall" teilgenommen und fungiert in seiner Unterkunft als Dolmetscher. Einen Deutschkurs besuchte der Beschwerdeführer bislang nicht.

Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Fluchtgrund, wonach er von einem Arbeitskollegen zur Mitarbeit bei einer Miliz aufgefordert worden sei, wird der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt. Der Beschwerdeführer hat nicht glaubhaft dargelegt und kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass er vor seiner Ausreise aus seiner Heimat in dieser einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder er im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wäre.

Zur Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen (diese wurden bereits vom BFA im angefochtenen Bescheid herangezogen):

Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida – durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arab.

Akronym: DAESH] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017). Gegen Ende des Jahres 2015 war der irakische Staat im Wesentlichen in drei Teile (Kontrollgebiete) zerbrochen: das IS-Gebiet im Westen, das Kurdengebiet im Nordosten und die zentralen Behörden Bagdads im Zentralirak und im Süden des Landes (Stansfield 26.4.2017).

Schiitische Milizen, Maliki, Iran

Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der [stark schiitisch dominierte] Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes [vom November 2016 - s. Harrer 28.11.2016], das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch: Al-Hashd al-Shaabi, oder auch nur "Hashd") der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreter-Kräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NYTimes 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle und wird nicht umsonst "Godfather of the PMF" genannt. U.a. aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen – in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte (und der Armee gleichgestellte) Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017; vgl. Harrer 28.11.2016; vgl. Al-Monitor 21.7.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam, einer schiitischen Miliz] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein inner-schiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die – trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren – außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Green Zone [schwer befestigtes Regierungs- und Botschaftsviertel in Bagdad] führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).

Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).

Kurdische Autonomieregion (Kurdistan Region-Iraq: KRI)

Hintergrund

Die Region Kurdistan-Irak (KRI), die hauptsächlich aus den Provinzen Duhok, Erbil und Sulaimaniya besteht, ist seit der Verabschiedung einer neuen irakischen Verfassung infolge der US-geführten Invasion von 2003 rechtlich gesehen ein Bundesstaat. Faktisch ist sie schon lange eigenständig. Unter dem Schutz der Alliierten des Golfkriegs von 1991 hatten die Kurden im Mai 1992 Parlamentswahlen abgehalten und eine Regionalregierung gebildet. Die Region verfügt über eigene Verteidigungskräfte, die Peschmerga, betreibt eine eigenständige Wirtschafts- und Außenpolitik und regelt Fragen der Grenzkontrolle selbst – hierzu gehört auch die, von zentralirakischen Behörden unabhängige Vergabe von Visa. Das im September 2013 zuletzt gewählte Parlament [das jedoch seit 2015 nicht mehr tagt, s.u.] hat 110 Abgeordnete; elf davon sind quotierte Vertreter ethnischer und religiöser Minderheiten. Zudem regelt eine Quote, dass dreißig Prozent der Mandate von Frauen wahrgenommen werden müssen. Das derzeitige Kabinett ist eine Koalition aus den einflussreichsten Parteien: Demokratische Partei Kurdistan (KDP, gegründet 1946) und Patriotische Union Kurdistan (PUK, gegründet 1975), ferner die Bewegung Goran (auch Gorran, engl. "Change", 2009 von der PUK abgespalten), die Islamische Union in Kurdistan-Irak (IUKI, gegründet 1994) und die Islamische Gruppe in Kurdistan-Irak (IGKI, gegründet 2001). Präsident der Region ist Mas?ud Barzani. Von 1992 bis 2003 hatten KDP und PUK in der Kurdistan-Region alleine regiert. Die neue Regierung repräsentiert einen Kompromiss zwischen Gruppen, die auf eine lange Geschichte gewaltsamer Konflikte untereinander blicken. Zu nennen ist hier etwa der Bürgerkrieg zwischen KDP und PUK Mitte der 1990er Jahren. Bis heute ist die Region faktisch zwischen KDP und PUK aufgeteilt – wobei die PUK in den letzten Jahren Einfluss an Goran abgeben musste (Savelsberg 8.2017).

Die Newcomer-Partei Goran, die erst seit Juni 2014 in der kurdischen Regionalregierung vertreten ist, und die mit dem Versprechen angetreten ist, gegen den Nepotismus und die Korruption der beiden Altparteien vorzugehen, besitzt keine eigenen Militäreinheiten und ist auch wirtschaftlich nicht gut vernetzt, sodass sie aufgrund fehlenden Einflusses ihre Versprechen nicht umsetzen kann, und in der gegenwärtigen Situation - obwohl zweitstärkste Partei hinter der KDP – politisch und insbesondere militärisch keine herausragend große Rolle spielt (Bauer 2015). Nach dem Tod des Goran-Parteigründers Nawshirwan Mustafa im Mai 2017 heißt der nunmehrige Parteichef Omar Ali (Rudaw 25.7.2017).

Im August 2015 kam es zum Zerfall der Allparteienkoalition (AA 7.2.2017). Mas?ud Barzani hat seit Ablauf seiner bereits außertourlich verlängerten Amtszeit im Oktober 2015 das Amt nicht verlassen und das Parlament ausgesetzt (Ekurd 18.7.2017; vgl. Ekurd 16.1.2017). In Folge dieses Konflikts kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen. Büros der KDP wurden in Brand gesteckt. Fünf Demonstranten wurden nach Angaben von Human Rights Watch getötet. Der unabhängige Nachrichtensender NRT und der Sender der Goran-Bewegung mussten ihre Büros in Erbil vorübergehend schließen. Parlamentspräsident Muhammed Yussuf, selbst Mitglied von Goran, wurde im Oktober 2015 an einem Checkpoint an der Weiterfahrt nach Erbil gehindert, die fünf Goran-Minister mussten die Regierung verlassen. Seit dem 12. Oktober 2015 hat das Parlament nicht mehr getagt. Während Barzani sein Festhalten an der Präsidentschaft mit dem Urteil eines Schiedsgerichts legitimiert, demzufolge er bis zur Neuwahl eines Nachfolgers im Amt bleibe, sprach Goran von einem "Putsch" (Savelsberg 8.2017).

Aktuelle politische Lage

Die politischen Spannungen in der KRI bleiben weiterhin bestehen:

Das kurdische Parlament tagt nach wie vor nicht (ÖB 12.2016) und Präsident Barzani, weigert sich weiterhin trotz Ablaufs seiner Amtszeit das Amt zu verlassen (Ekurd 18.7.2017; vgl. Stansfield 26.4.2017). Die Zusammenarbeit zwischen der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) beruht lediglich auf praktischen Notwendigkeiten, insbesondere im Kampf gegen den IS (ÖB 12.2016). Kurdistan konnte im Zuge des Vorstoßes des IS und dessen Bekämpfung seine politischen Interessen vorantreiben. Auch wenn die Truppen der KRG, die Peschmerga, dabei Verluste erlitten, so war es Iraks Kurden nun möglich, mit einer neuen Motivation um ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Es wurden bereits mehrere Unabhängigkeitsreferenden angekündigt und wieder abgesagt (Stansfield 26.4.2017). Gleichzeitig war jedoch der Drang der irakischen Kurden nach staatlicher Eigenständigkeit gedämpft aufgrund der sozioökonomischen Probleme, des Stroms von Vertriebenen, der niedrigen Ölpreise und des tiefen wirtschaftlichen und mittlerweile finanziellen Loches, in das die KRI stürzte. Dies schien zu einer realistischeren Betrachtung der Chancen und v.a. der Risiken einer möglichen Unabhängigkeit beizutragen (ÖB 12.2016). Nichts desto trotz kündigte KRG-Präsident Barzani für den 25. September 2017 abermals ein Referendum über die Unabhängigkeit von Kurdistan-Irak an. Ein solches Referendum wird (insbesondere zum gegenwärtigen Zeitpunkt) von verschiedenen Seiten sehr kritisch wahrgenommen, nicht zuletzt auf Grund der regionalen Rivalitäten, die sich auf ihrem Höhepunkt befinden, sowie der Tatsache, dass sich jene Staaten, die die kurdische Autonomieregion umgeben (Türkei, Iran, Syrien, auch Irak) alle eisern gegen ein unabhängiges Kurdistan stellen (Al-Monitor 7.7.2017; vgl. Al-Jazeera 6.7.2017). Auch die USA und die Vereinten Nationen unterstützen das Referendum nicht (Standard 14.7.2017; IFK 25.7.2017). UN-Sonderbeauftragter Jan Kubis gab bezüglich des Referendums zu bedenken, dass sich in der gegenwärtigen Situation der Interessenskonflikt in einen "Konflikt der anderen Art" verwandeln könnte, sollte es keinen "ernsthaften politischen Dialog" geben (Standard 17.7.2017). Barzani (KDP) bemüht sich, das mit dem Referendum in Verbindung stehende Risiko herunterzuspielen (Al-Jazeera (6.7.2017), selbst wenn sich sogar der Sprecher des kurdischen Parlaments Yusuf Mohammed Sadiq gemeinsam mit der zweitgrößten Partei Goran vorsichtig kritisch gegenüber diesem Referendum ausspricht, und darauf hinweist, dass eine Unabhängigkeit nicht "ausgerufen" werden kann, sondern mit langsamen Schritten erarbeitet werden muss (Ekurd 16.1.2017). Barzani selbst geht bezüglich des Ergebnisses des Referendums von einem "Ja" aus, und ergänzt, dass in diesem Falle der Zeitplan für die Umsetzung der Unabhängigkeit zwar "flexibel ist, aber nicht open-end" (Reuters 6.7.2017). Was die Gefahr eines Eskalierens in dieser Region und eines erneuten Bürgerkrieges verschärft, ist, dass Barzani das Referendum auch in den umstrittenen Gebieten des Irak durchführen will. Besonders problematisch ist dabei das ölreiche Kirkuk (ICG 31.5.2017). Es wird zum Teil auch gemutmaßt, dass es den kurdischen Behörden bei diesem Referendum in Wahrheit darum geht, große Teile des irakischen Territoriums (seit langem umstrittenes Territorium und ölreich), die sie im Zuge der Kämpfe gegen den IS militärisch bereits unter ihre Kontrolle gebracht haben, nun auch formell in das Kurdengebiet einzugliedern (Al-Jazeera 6.7.2017; vgl. Stansfield 26.4.2017). Viele Kurden bleiben weiterhin misstrauisch bezüglich der sunnitischen Araber – also bezüglich ihrer ehemaligen Feinde [unter der Regentschaft Saddam Husseins], und setzen sie pauschal mit dem IS gleich. Gleichzeitig nutzen sie deren derzeitiges unglückliches Schicksal auch aus, um in zukünftigen ethnischen Auseinandersetzungen im Vorteil zu sein, und riskieren damit, den Nährboden für zukünftige Konflikte zu schaffen (ICG 22.9.2016). Umgekehrt zeigen auch die Iran-nahen schiitisch-arabischen PMF-Milizen vermehrte Präsenz in jenen umstrittenen Territorien, die nach Ansicht der Kurden Teil ihres Staatsgebiets sein werden, sollten sie die Unabhängigkeit ausrufen. Der Widerstand gegen das geplante Referendum zeigt sich auf unterschiedlichste Art. Einige schiitische radikale Prediger rufen zu nichts weniger als Krieg auf. Nach dem Sieg über den IS steigt im Irak laut Nahost-Expertin Gudrun Harrer die Gefahr eines Konflikts zwischen den Siegern (Harrer 10.8.2017).

Immer wieder wird berichtet, dass Barzani vorhat, das Parlament wieder zu öffnen, was von den anderen Parteien (Goran, PUK, IUKI und IGKI) insbesondere im Zuge der Vorbereitungen des Referendums gefordert wird (Ekurd 10.5.2017; MEM 31.7.2017). Der hauptsächliche Konflikt innerhalb der KRG dreht sich nach wie vor um die beiden Parteien KDP und PUK, die beide beachtlichen Einfluss auf die bewaffneten Kräfte Kurdistans haben. Dies führt laut dem Sprecher des kurdischen Parlamentes dazu, dass die beiden Parteien ihre jeweiligen Streit-/Sicherheitskräfte nutzen, um gegen politische Opponenten oder Konkurrenten vorzugehen. Laut dem Sprecher des kurdischen Parlaments könne diese Problematik auch [wie in den 1990iger Jahren] zu einem bewaffneten Kampf führen (Ekurd 16.1.2017). KDP und PUK haben aktuell nach wie vor sehr unterschiedliche Interessen: für die KDP ist Sinjar von besonderer Bedeutung, für die PUK dagegen Kirkuk, nicht zuletzt wegen der dortigen Ölvorkommen. Die Peschmerga sind nach wie vor gespalten zwischen den beiden Parteien (KDP-Peschmerga und PUK-Peschmerga - s. auch Abschnitt Sicherheitslage) - auch wenn es mittlerweile eine etwa 30.000 Mann starke gemischte KDP-PUK-Streitkraft gibt (Stansfield 26.4.2017). Auch geographisch sind die beiden Parteien gespalten, effektiv gibt es in der Kurdenregion Iraks zwei Administrationen, eine in Erbil (KDP) und eine in Sulaymaniyah (PUK). Die Spannungen zwischen den beiden Parteien werden auch durch die Anwesenheit der PKK im Nordirak auf die Probe gestellt, sowie durch deren Bekämpfung durch die Türkei auf kurdisch-irakischem Boden (s. Abschnitt Sicherheitslage-KRI; vgl. Niqash 14.3.2017). Die kurdischen Peschmerga-Milizen (von KDP und PUK) sind sich im Umgang mit der türkisch-kurdischen PKK uneins. Dem mit der Türkei [bzw. Erdogan] verbündeten Barzani und seiner vom Westen unterstützten Peschmerga-Fraktion ist die PKK im Qandil-Gebirge [und nunmehr im Sinjar-Gebirge] ein Dorn im Auge. Andererseits bekämpfen beide, Peschmerga und PKK, den IS (TP 23.9.2016; vgl. Zeit 25.4.2017). Die KDP hat gedroht, die PKK wenn nötig mit Gewalt aus Sinjar zu vertreiben, PUK und Goran dagegen unterstützen bzw. tolerieren die PKK (Natali 3.1.2017).

Diese Vorfälle und Konflikte ereignen sich während wiederholter Demonstrationen von Zivilbeamten gegen das Nicht-Ausbezahlen der Gehälter, sowie während fortgesetzter Flüchtlingsströme in die Region (Natali 3.1.2017). Daneben spielen auch der Streit zwischen Erbil und Bagdad eine Rolle, der stetig gewachsen ist, ohne dass Lösungsmechanismen in Sicht wären. Der Konflikt mit Bagdad verläuft vor allem entlang zweier wesentlicher Aspekte: Der erste betrifft die sogenannten "umstrittenen Gebiete", das heißt diejenigen Territorien, deren Regierung sowohl die KRG als auch die irakische Regierung für sich reklamieren. Zentral ist hier der Konflikt um das erdölreiche Kirkuk – laut irakischer Verfassung sollte ein Referendum entscheiden, ob die Region zukünftig von Bagdad oder der KRG verwaltetet wird. Das Referendum wurde nie durchgeführt – doch der Krieg gegen den IS verschaffte den kurdischen Peschmerga unerwartet die Möglichkeit, das Gebiet einzunehmen, nachdem die irakische Armee im Juni 2014 vor den aus Syrien einfallenden Islamisten geflohen war. Eng mit diesen territorialen Konflikten verflochten ist auch der fortwährende Streit über die Beteiligung der kurdischen Region an den irakischen Öleinnahmen (Savelsberg 8.2017).

Sicherheitslage

Laut dem Irakexperten des "Institute for the Study of War", Patrick Martin, hat der IS im Irak mit Stand Juli 2017 nur noch etwa sieben Prozent des ursprünglichen IS-Gebietes unter seiner Kontrolle, gleichzeitig warnt er jedoch davor, den IS zu früh als mögliche weitere Bedrohung abzuschreiben (Daily Star 10.7.2017). Im Zuge der Rückeroberungen werden im Irak immer wieder zahlreiche Massengräber gefunden (Standard 11.5.2017; USDOS 3.3.2017, HRW 16.11.2016). Die Offensive zur Rückeroberung Mossuls startete im Oktober 2016 und am 9. Juli 2017 verkündete Premierminister Abadi (nach fast neun Monaten schwerer Kämpfe und fast einer Million Vertriebener) den erfolgreichen Abschluss derselben (OCHA 13.7.2017).

Die Sicherheitslage im Irak hat sich nach der dramatischen Verschlechterung (vor allem durch den Vormarsch des IS ab Mitte 2014) in den Jahren 2015 und 2016 (mit Ausnahme von einigen vom IS zurückeroberten Gebieten) nicht verbessert (AA 7.2.2017). Es herrschen weiterhin Langzeit-Instabilität und Gewalt an mehreren Fronten gleichzeitig (OA/EASO 2.2017). Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen hat sie sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (AA 7.2.2017; vgl. ÖB 12.2016). Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninewah, Salahuddin und Dialah im Norden und Westen des Landes (AA 7.2.2017). Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter der Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen des IS an tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53 Prozent der Bevölkerung Iraks) sind von Gewalt betroffen (AA 7.2.2017). Zuletzt griff der IS am 4. Juli 2017 das Dorf Imam Gharbi, südlich von Qayyarah, an. Dabei gab es 170 Opfer, einige davon Zivilisten (OCHA 13.7.2017). Dem IS wird auch immer wieder vorgeworfen, Chemiewaffen einzusetzen (Zeit 16.4.2017). Laut World Health Organization (WHO) sind "mögliche Fälle von Einsätzen von Chemiewaffen" im Irak seit 2016 stark angestiegen, insbesondere in Mossul gibt es regelmäßig solche Berichte. Die WHO bezog jedoch nicht Stellung, ob die Chemiewaffeneinsätze auf das Konto des IS oder das von anderen Gruppen, die in die Kämpfe um Mossul verwickelt sind, gehen (New Arab 26.6.2017).

Neben den sicherheitsrelevanten Handlungen des IS wird auch von Gewalttaten gegen Zivilisten von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen berichtet (AA 7.2.2017). Die Milizen sind ein wichtiger Teil der Offensiven gegen den IS, gleichzeitig sind sie jedoch stark religiös/konfessionell motiviert, und es gibt zahlreiche Berichte über Racheakte insbesondere an der sunnitischen Bevölkerung. Allgemein ergeben sich zunehmende Spannungen dadurch, dass die (vorwiegend) schiitischen Milizen der PMF zunehmend an Macht und Terrain gewinnen. Im Norden Iraks nimmt das Gebiet, das die Milizen im Zuge der Mossul-Rückeroberungsoffensive unter ihrer Kontrolle haben, stark zu. (BBC 3.12.2016). Im Nordwesten des Irak eroberten pro-iranische schiitische Milizen beispielsweise die Stadt Baadsch im irakisch-syrischen Grenzgebiet vom IS zurück. Weitere Vorstöße erfolgten in Richtung der Stadt Al-Qaim. Der Sprecher der Volksmobilisierungseinheiten, Karim al-Nuri, betonte zudem, dass in Koordination mit dem syrischen Regime der IS auch auf syrischem Boden bekämpft wird. Die neue Dominanz der pro-iranischen Milizen im Grenzgebiet stößt auf heftige Kritik der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) in Syrien, die davor warnen syrisches Territorium zu betreten. Ein Einmarsch der schiitischen Milizen würde neue Spannungen zwischen den von den USA unterstützten Kurden und den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen schaffen. Premierminister Abadi kritisierte die Aussage des Kommandanten der Volksmobilisierungseinheiten und betonte, dass es gemäß Verfassung Irakern nicht gestattet ist, über die Grenzen des Landes hinaus zu kämpfen (IFK 9.6.2017).

Gewaltmonopol des Staates

Staatlichen Stellen ist es derzeit nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dadurch sind die irakischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage, den Schutz der Bürger sicherzustellen (AA 7.2.2017). Insbesondere über den Nordwesten des Irak kann die Regierung nicht die Kontrolle behalten und muss sich auf die [vorwiegend] schiitischen Milizen der PMF verlassen. Die zwei wichtigsten davon sind Asaïb Ahl al-Haq (AAH) und die Badr-Brigaden, die beide [effektiv] unter dem Kommando des Iran stehen (Stansfield 26.4.2017). Durch die staatliche Legitimierung der Milizen verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Staatliche Ordnungskräfte können sich teilweise nicht mehr gegen die mächtigen Milizen durchsetzen (AA 7.2.2017).

Mossul

Mitte Juni begann die letzte Etappe der Mossul-Offensive, die "Säuberung" der Altstadt. Zuvor hatte eine Division den Bezirk al-Schifaa eingenommen und den IS eingekesselt. Ein paar Tage später sprengte der IS Medienberichten zufolge die symbolisch bedeutende Al-Nuri Moschee (in der 2014 das Kalifat ausgerufen wurde), um die Verkündung einer Siegeserklärung durch die ISF (Iraqi Security Forces) zu verhindern. Dennoch erklärten die ISF das Ende des IS-Kalifats. Am 9. Juli 2017 erklärte die irakische Regierung die Schlacht für beendet und Mossul für befreit (IFK 25.7.2017). Dies stellt einen großen strategischen Erfolg im Kampf gegen den IS im Irak dar und wurde in fast neun Monate andauernden Kämpfen unter großen Verlusten erreicht.

Es wird jedoch noch lange dauern, bis in Mossul wieder so etwas wie Sicherheit herrschen wird. Im Ostteil der Stadt, den die Djihadisten Anfang des Jahres an die irakischen Kräfte verloren hatten, haben sie nach amerikanischen Angaben seither hunderte Anschläge/Angriffe durchgeführt. Auch dem Westteil Mossuls, der in Trümmern liegt, droht eine Phase der Instabilität (Meier 12.7.2017). Ein harter IS-Kern hat überlebt und sorgt für Unsicherheit. Wochen, nachdem die irakische Regierung ihren Sieg über den "Islamischen Staat" verkündet hat, tauchen IS-Kämpfer aus dem Nichts auf und Selbstmordattentäter sprengen sich in die Luft (Harrer 10.8.2017). Der IS versucht weiterhin, Waffen in die Stadt zu schmuggeln, was dadurch begünstigt wird, dass er Rückzugsgebiete (wie z.B. die Hamrim-Berge, oder die Wüste) hat, die von den irakischen Streitkräften nicht kontrolliert werden (Harrer 20.8.2017). Besonders der Westen Mossuls, der zuletzt befreit wurde, wird als so unsicher empfunden, dass Familien daraus fliehen. Andere kommen zwar aus den Flüchtlingslagern zurück, aber nicht wenige davon geben angesichts der Lage bald wieder auf und gehen zurück ins Lager. Nach wie vor werden in der Stadt ältere Massengräber - aber auch neue Tote – gefunden (Harrer 10.8.2017). Im Rahmen erster Bestandsaufnahmen wurde festgestellt, dass etwa ein Drittel der Wohnhäuser und Wohnungen Mossuls zerstört wurde; zudem sind wesentliche Teile der Infrastruktur, z.B. sämtliche Tigrisbrücken, zerstört oder stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Verminungen durch den IS werden die Kampfmittelräumung, wie in Fallujah und Ramadi, über Jahre beschäftigen (BAMF 17.7.2017). Große Teile des Westens der Stadt sind auf Grund dieser Verminungen praktisch unbewohnbar. Die Minen sind teilweise sogar in Leichen platziert, wodurch die Bergung und Beerdigung erheblich erschwert wird und Seuchengefahr besteht (BAMF 10.7.2017). Wie in jeder von Kämpfen verwüsteten Stadt, in der sich eine neue Autorität erst durchsetzen muss, gibt es eine mit der Kriegswirtschaft zusammenhängende Kriminalität. Zuletzt gab es Berichte, dass Elemente schiitischer Milizen in den Ölschmuggel verwickelt sind und mit der Bundespolizei, die Teile der Stadt von der irakischen Armee übernommen hat, über die Kontrolle einer Brücke aneinandergerieten. Die Berichte sind jedoch widersprüchlich, je nach dem, woher sie stammen: Sehen die einen in den (meist) schiitischen Hashd al-Shaabi (Volksverteidigungseinheiten) die Retter des Irak vor dem IS, so sind sie für die anderen nicht viel besser als der IS selbst (Harrer 10.8.2017). Übergriffe auf Zivilisten, bzw. auf mutmaßliche IS-Kollaborateure oder deren Angehörige sind nicht nur durch die Hashd, sondern auch durch die Armee belegt, nicht nur in Mossul, sondern auch in den umliegenden Flüchtlingslagern (Harrer 10.8.2017; vgl. BAMF 26.6.2017). Mit IS-Angehörigen wird oft kurzer Prozess gemacht. Auf die irakische Justiz kommt so eine mehrfach schwierige Aufgabe zu. Die Kontrolle über Mossul und über die gesamte Provinz Ninewah ist stark fragmentiert, Zuständigkeiten sind oft unklar und ändern sich ständig (Harrer 10.8.2017).

Sicherheitsbehörden und die wichtigsten im Irak operierenden militärischen Akteure und Milizen

Die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die ISF bestehen aus den Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, aus jenen, die vom Verteidigungsministerium verwaltet werden, aus den [vorrangig schiitischen] Milizen, die unter der Dachorganisation der Volksmobilisierung (PMF) zusammen gefasst wurden und dem Counterterrorism Service (CTS). Die Aufgaben des Innenministeriums umfassen nationale Gesetzesvollstreckung und Aufrechterhaltung der Ordnung, gestützt auf die staatliche Polizei, die regionale Polizei, die Abteilung zum Schutz von Gebäuden/Einrichtungen, die Bürgerwehr sowie die Abteilung für Grenzschutz. Die dem Ölministerium unterstehende Energie-Polizei ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur verantwortlich. Herkömmliche, dem Verteidigungsministerium unterstehende Militärkräfte sind für die Verteidigung des Landes verantwortlich, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch häufig Anti-Terror-Einsätze sowie interne Sicherheits-Einsätze durch (USDOS 3.3.2017).

Die irakischen Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige und über 100.000 Polizisten umfassen. Die ISF sind nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert, darüber hinaus existiert kein Polizeigesetz. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung. In einem Urteil des EGMR (EGMR 264 (2016) vom 23.08.2016) hinsichtlich der Rückführung in den Irak wird bemerkt, dass weite Gebiete des Landes sich außerhalb der effektiven Kontrolle der Regierung befinden und die Schutzfunktion des Staates als vermindert anzusehen ist. Die Menschenrechtslage ist, vor allem in Hinblick auf die mangelhafte staatliche Kontrolle und des wenig ausgeprägten Gewaltmonopols samt verbreiteter Straflosigkeit desolat, in der KRI vergleichsweise etwas besser (ÖB 12.2017).

Die irakische Armee verfügt nicht über ausreichende Fähigkeiten oder Ausrüstung, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Die Schmach des weitgehend kampflosen Rückzugs gegenüber den IS-Kräften bei deren Vormarsch 2014 sitzt jedoch tief und führte in der Zwischenzeit in Teilen der Truppe zu einer hohen Motivation bei der Rückeroberung besetzter Gebiete. [Zehntausende irakische Soldaten verließen im Juni 2014 ihre Posten und flüchteten; viele aus Angst vor dem IS, viele meinten, sie hätten den Befehl dazu bekommen - Global Security

o. D] Die Professionalisierung der Armee und vor allem auch der Bundes- und lokalen Polizei wird im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition mit Hilfe internationaler Militär- und Polizeiausbildung unterstützt (AA 7.2.2017).

Bei militärischen Einsätzen (insb. gegen den IS) spielt auch die Polizei eine wichtige Rolle. Die Bundespolizei ist diesbezüglich einer der Hauptakteure, die lokale Polizei – sofern noch vorhanden – nimmt ebenfalls an den Operationen Teil (IISS 15.5.2017).

Durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität durchsetzen (AA 7.2.2017). Insgesamt konnten zivile Behörden nicht immer die Kontrolle über alle Sicherheitskräfte bewahren. Dies betrifft neben den PMF auch die regulären bewaffneten Kräfte, sowie heimische Sicherheitsdienste (USDOS 3.3.2017).

Counterterrorism Service

Der Counterterrorism Service (CTS) (auch Counterterrorism Bureau / Jihaz Mukafahah al-Irhab) ist eine auf Terrorbekämpfung spezialisierte Eliteeinheit, die direkt dem Premierminister unterstellt ist. Der CTS ist somit neben den anderen Standbeinen der irakischen Sicherheitskräfte auf gleicher (quasi-ministerieller) Ebene eine Organisation mit weitreichenden Kompetenzen in Bezug auf Terrorbekämpfung (AI 2016; vgl. Witty 2014). Der CTS hat die Aufsicht über den Counterterrorism Command (CTC), der wiederum die Kontrolle über die Iraqi Special Operation Forces (ISOF) hat. Diese bestehen aus drei Brigaden (ISOF-Brigaden), deren bekannteste die 1st ISOF-Brigade ist, auch "Golden Brigade / Golden Division" genannt (ISW 19.12.2016). Der CTS erhält seit seiner von den USA unterstützen und finanzierten Gründung (Witty 2014) direkte Unterstützung und Trainings von Seiten der Vereinigten Staaten und anderen Mitgliedern der Koalition [gegen den IS], u.a. von Frankreich (Al-Monitor 21.2.2017). Zum Teil wird der CTS auf Grund seiner Nähe zu US-amerikanischen Beratern in der irakischen Bevölkerung kontrovers gesehen (Witty 2014). Andererseits kommt dem CTS eine besonders entscheidende Rolle im Kampf gegen den IS zu (Global Security o.D.; vgl. Al-Jazeera 1.4.2015). Er trug die Hauptbürde bei der Mossul-Offensive und hatte dabei enorme Verlustraten zu beklagen - über 50 Prozent (ISW 19.12.2016).

Schiitische Milizen - Popular Mobilization Forces

Genese und Entwicklung seit 2014

Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" bzw. Al-Hashd al-Shaabi, englisch: Popular Mobilization Units (PMU) oder Popular Mobilization Forces bzw. Front (PMF)) bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig fast ausschließlich schiitische Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Schätzungen zufolge haben die Volksmobilisierungseinheiten zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen. Die Entstehung des Milizenbündnisses kann als Reaktion auf die irakische Offensive des sog. "Islamischen Staates" (IS) verstanden werden und ist somit eng mit dessen militärischen Erfolgen und territorialen Gewinnen verquickt: Im Sommer 2014 drang die Terrororganisation in den Irak ein und nahm am 10. Juni erst Mossul und danach weite Teile der Provinzen Ninewah, Salahuddin, Anbar, Diyala und Kirkuk ein; wenig später waren auch die Städte Erbil und Bagdad in Gefahr (Süß 21.8.2017).

Die reguläre irakische Armee war dem IS nicht gewachsen, weshalb der damalige Ministerpräsident Nuri al-Maliki am 11. Juni zur Mobilisierung einer "Reservearmee" aufrief. Außerdem ließ der führende irakische schiitische Gelehrte Ayatollah Ali Sistani am 13. Juni ein islamisches Rechtsgutachten (fatwa) verlautbaren, in dem er alle jungen Männer dazu aufrief, sich den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten des Irak anzuschließen. Infolge der Fatwa schrieben sich tausende junge schiitische Männer auf Freiwilligenlisten ein, schlossen sich jedoch nicht Armee oder Polizei, sondern bereits existierenden oder neu formierten schiitischen Milizen an. Zwei Tage später bildete die irakische Regierung ein Komitee der Volksmobilisierung, das dem Ministerpräsident Haidar al-Abadi untersteht und vom Nationalen Sicherheitsberater Falih al-Fayyad geleitet wird. Die wahren Kräfteverhältnisse sind allerdings schon daran abzusehen, dass die Gründung durch das irakische Innenministerium verkündet wurde:

Dieses unterstand bis Juli 2016 der Führung des "Badr-Politikers" Muhammad al-Ghabban, die dominante Kraft im Innenministerium und damit der eigentliche irakische Führer des Milizenbündnisses ist jedoch Hadi al-Amiri. Mehrere Milizen stehen außerdem politischen Parteien nahe.

Innerhalb der zahlreichen, meist lokal organisierten Gruppen innerhalb der Volksmobilisierungseinheiten können im Wesentlichen drei Gruppen ausgemacht werden: Erstens schon länger aktive Milizen, die infolge der Fatwa tausende neue Rekruten hinzugewannen (Badr-Organisation, Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Hizbullah und Saraya as-Salam). Zweitens gibt es solche schiitischen Formationen, die ab Juni 2014 entstanden (bspw. Kata’ib al-Imam Ali) und drittens einige kleinere sunnitische Milizen (Süß 21.8.2017).

Die wichtigsten Milizen innerhalb der PMF

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Sie orientiert sich an der Tradition Khomeinis und der Staatsdoktrin Irans. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des "Hohen Rates für die Islamische Revolution im Irak" gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war. Mit der Namensänderung in Badr-Organisation wurde das Korps zum politischen Akteur. Als sich der Rat in "Irakischer Islamischer Hoher Rat" umbenannte und sich gleichzeitig vom Iran distanzierte, gelang es Badr, sich als wichtigster Verbündeter Irans im Irak zu etablieren und trennte sich 2009 schließlich vom Hohen Rat. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft des Milizenbündnisses. Sie ist besonders mächtig, weil sie Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen. Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und arbeitet mit Kata’ib Hizbullah zusammen. Unklar ist jedoch, ob die genannten Zahlen ausschließlich Kämpfer oder auch sonstiges Personal umfassen, denn die Badr-Organisation ist Miliz und politische Partei in einem. Badr war bisher an allen wichtigen militärischen Auseinandersetzungen in den Provinzen Diyala, Salah ad-Din, Anbar und Ninewah beteiligt; ihr militärisches Hauptquartier befindet sich im Militärlager Camp Ashraf nördlich von Bagdad. In Diyala verfügt Badr außerdem über ein Territorium, das sich zu einer eigenständigen Machtbasis im Sinne eines "Staates im Staate" ausbauen lässt (Süß 21.8.2017).

Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hizbullah Brigades) entstanden im Zuge der Umbenennung des Badr-Korps in Badr-Organisation und bekämpften im Gegensatz zu diesem die US-Truppen. Sie wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und werden auch von diesem angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist. Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von bis zu 30.000 Mann. Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der Volksmobilisierungseinheiten. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017).

Die Asa’ib Ahl al-Haqq (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz’ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz’ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Asa’ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz’ali ist einer der bekanntesten Anführer der Volksmobilisierungseinheiten (Süß 21.8.2017).

Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa Sistanis auf Anweisung von Muqtada as-Sadr gegründet und sollten möglichst viele der Freiwilligen vereinigen. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017).

Auch Kata’ib al-Imam Ali (Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden. Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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