TE Bvwg Erkenntnis 2018/1/22 W227 2116566-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.01.2018
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Entscheidungsdatum

22.01.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W227 2116566-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde des syrischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Spruchteil I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 24. September 2015, Zl. 1049847207-150029065, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der am 1. Jänner 2000 geborene Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, stellte am 11. Jänner 2015 als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei seiner Erstbefragung gab er – jedoch ohne Beisein eines Rechtsberaters als gesetzlicher Vertreter (vgl. § 49 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz) – u.a. an, er stamme aus XXXX , sei jedoch in Saudi Arabien zur Schule gegangen. Saudi Arabien habe er vor etwa zwei Wochen legal mit dem Flugzeug verlassen, da seine Aufenthaltsgenehmigung als syrischer Flüchtling abgelaufen sei. Nach Syrien könne er nicht mehr zurückkehren.

Weiters legte er seinen syrischen Reisepass vor.

2. Bei seiner – nun im Beisein eines gesetzlichen Vertreters – Einvernahme vor dem BFA am 15. Juli 2015 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst Folgendes an:

Er stamme aus XXXX und habe von 2004 bis 2007 die Schule in Saudi Arabien und von 2007 bis 2011 die Schule in Syrien besucht. Syrien habe er 2011 aufgrund des Bürgerkrieges legal verlassen und sei wieder nach Saudi Arabien zurückgekehrt. Dort habe er vier Jahre lang gelebt. Seine Eltern und seine drei Brüder hielten sich nach wie vor in Saudi Arabien auf; sein Vater arbeite dort als Ingenieur. Saudi Arabien habe er schließlich verlassen, da sein Vater ihm dazu geraten habe. Seine Onkel und Tanten würden weiterhin in Syrien leben. Im Falle einer Rückkehr fürchte der Beschwerdeführer entweder vom syrischen Regime oder von den kurdischen Streitkräften verhaftet oder zwangsrekrutiert zu werden. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) rekrutierten auch Minderjährige. Darüber hinaus habe sein Vater Drohungen vom syrischen Regime erhalten, da er sich auf Facebook regimekritisch geäußert habe. Aufgrund des Verhaltens seines Vaters sei der Beschwerdeführer auch in Gefahr.

3. In Folge legte der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers eine umfangreiche Stellungnahme zur Situation in Syrien, wonach u.a. minderjährige junge Männer von diversen Konfliktparteien zwangsrekrutiert und Kurden in Syrien systematisch unterdrückt würden, sowie Deutschkursbestätigungen des Beschwerdeführers vor.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m.

§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchteil I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchteil II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24. September 2016 (Spruchteil III.).

Zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers stellte das BFA Folgendes fest: Er sei syrischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und gehöre der kurdischen Volksgruppe an; seine Identität stehe fest. Er sei gesund und besuche eine österreichische Schule. Der Beschwerdeführer sei in Syrien geboren und aufgewachsen. Nach seiner Ausreise aus Syrien im Jahr 2011 habe er mit seinen Eltern und seinen drei Brüdern in Saudi Arabien gelebt. Diese würden sich weiterhin in Saudi Arabien aufhalten. Sein Cousin XXXX lebe als anerkannter Flüchtling in Österreich.

Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei oder solche für die Zukunft zu befürchten habe. Zwar seien die persönlichen Gründe für das Verlassen Saudi Arabiens glaubhaft, jedoch hätten diese keine Asylrelevanz, da sie sich nicht in Syrien zugetragen hätten. Glaubwürdig sei daher, dass der Beschwerdeführer Syrien aufgrund des Bürgerkrieges verlassen habe.

Rechtlich begründete das BFA die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten damit, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA mit der allgemeinen schlechten Sicherheitslage in Syrien.

5. Gegen Spruchteil I. dieses Bescheides erhob der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde, in der er im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:

Das BFA habe weder seine Angaben zur drohenden Verhaftung aufgrund der regimekritischen Äußerungen seines Vaters noch sein Vorbringen zur drohenden Zwangsrekrutierung, die auch für Minderjährige bestehe, gewürdigt. Darüber hinaus müsse bei der Beurteilung des Vorbringens eines Minderjährigen ein milderer Maßstab angelegt werden, als bei Erwachsenen. Seine Angst zum Militärdienst eingezogen zu werden, sei wohlbegründet, da auch junge Männer vor ihrem 18. Geburtstag aufgrund des Rekrutenmangels einberufen würden. Auch die YPG würde Rekrutierungen durchführen. Weiters sei er als Kurde in Syrien Diskriminierungen ausgesetzt. Wer kurdisch spreche oder das Neujahrsfest feiere, müsse mit Haft, Folter und unmenschlicher Behandlung rechnen. Darüber hinaus bestehe aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit auch die Gefahr von der Al-Nusra Front oder vom sogenannten Islamischen Staat (IS) getötet zu werden. Zudem würden Kinder gezielt ermordet und hingerichtet.

6. Mit Beschluss vom 2. Februar 2016 übertrug das Bezirksgericht Baden dem Cousin des Beschwerdeführers ( XXXX ) die uneingeschränkte Obsorge für den Beschwerdeführer.

7. Mit Schreiben vom 17. Mai 2017 wurde eine Schulbesuchsbestätigung vom 9. Mai 2017 vorgelegt, wonach der Beschwerdeführer den Pflichtschulschluss positiv absolviert hat.

8. Am 30. Mai 2017 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Verfahrensparteien vorläufige Sachverhaltsannahmen zur aktuellen Situation in Syrien und räumte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit ein, allfällige weitere Beweismittel vorzulegen.

Dazu äußerten sich der Beschwerdeführer – auch nach Fristerstreckung – sowie das BFA nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.1. Zum Beschwerdeführer

Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er trägt den im Spruch angeführten Namen, ist am XXXX geboren und lebte in XXXX . 2011 reiste er legal aus Syrien aus. Der Vater des Beschwerdeführers äußerte sich auf Facebook regimekritisch.

Dem Cousin des Beschwerdeführers ( XXXX ) wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , Zl. XXXX , die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

Im Falle einer Rückkehr besteht für den 18-jährigen Beschwerdeführer die Gefahr, zum Militärdienst eingezogen zu werden, was er ablehnt.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Syrien

1.2.1. Politische Lage

Seit 2011 tobt die Gewalt in Syrien. Aus anfangs friedlichen Demonstrationen ist ein komplexer Bürgerkrieg geworden, mit unzähligen Milizen und Fronten.

Die Arabische Republik Syrien existiert formal noch, ist de facto jedoch in vom Regime, vom IS, von der Kurdisch Demokratischen Unionspartei (PYD) und von anderen Rebellen-Fraktionen kontrollierte Gebiete aufgeteilt.

Das syrische Regime kontrolliert ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer, die noch nicht aus Syrien geflohen sind, lebt. Verschiedene oppositionelle Gruppen mit unterschiedlichen Ideologien und Zielen kontrollieren verschiedene Teile des Landes. Vielfach errichten oder wieder errichten diese Gruppierungen Regierungsstrukturen, inklusive irregulär aufgebauten Gerichten. Russland, der Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz und schiitische Milizen aus dem Irak unterstützen das syrische Regime militärisch, materiell und politisch. Seit 2015 schickt Russland auch Truppen und Ausrüstung nach Syrien und begann außerdem Luftangriffe, von syrischen Militärbasen aus, auszuführen, wobei hauptsächlich auf von Rebellen kontrollierte Gebiete abgezielt wird. Die von den USA geführte internationale Koalition führte Luftangriffe gegen den IS durch.

Im Norden Syriens gibt es Gebiete, welche unter kurdischer Kontrolle stehen und von den Kurden Rojava oder Westkurdistan genannt werden. Noch sind die beiden größeren Gebietsteile voneinander getrennt, das Ziel der Kurden ist es jedoch entlang der türkischen Grenze ein zusammenhängendes Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Der IS übernahm seit 2014 vermehrt die Kontrolle von Gebieten in den Gouvernements Deir al-Zour und Raqqa, außerdem in anderen Regionen des Landes. Der IS rief daraufhin ein "islamisches Kalifat" mit der Hauptstadt Raqqa aus.

Präsident Bashar al-Asad regiert die Arabische Republik Syrien seit dem Jahr 2000. 2014 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, welche zur Wiederwahl von Präsident Asad führten. Bei dieser Wahl gab es erstmals seit Jahrzehnten zwei weitere mögliche, jedoch relativ unbekannte, Kandidaten. Die Präsidentschaftswahl wurde nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abgehalten, wodurch ein großer Teil der syrischen Bevölkerung nicht an der Wahl teilnehmen konnte. Diese Wahl wurde jedoch als undemokratisch bezeichnet, die syrische Opposition bezeichnete sie als "Farce". Am 16. April 2016 fanden in Syrien Parlamentswahlen statt. Das Parlament wird im vier-Jahres-Rhythmus gewählt, und so waren dies bereits die zweiten Parlamentswahlen, welche in Kriegszeiten stattfanden. Die in Syrien regierende Baath-Partei gewann gemeinsam mit ihren Verbündeten unter dem Namen der Koalition der "Nationalen Einheit" 200 der 250 Parlamentssitze. Die syrische Opposition bezeichnete auch diese Wahl, welche erneut nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten stattfand, als "Farce". Jeder der 200 Kandidaten auf der Liste der "Nationalen Einheit" bekam einen Parlamentssitz. Die Vereinten Nationen gaben an, die Wahl nicht anzuerkennen.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 8 f.)

1.2.2. Kurden

Die Bevölkerung besteht überwiegend aus Arabern (Syrer, Palästinenser und Iraker). Ethnische Minderheiten sind Kurden, Armenier, Turkmenen und Tscherkessen. Dazu kommen die chaldäischen und assyrischen Christen.

Innerhalb der Minderheiten gibt es eine Spaltung zwischen Gegnern und Befürwortern des syrischen Regimes.

In ganz Syrien werden bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen oder ihnen wird auf andere Weise Schaden zugefügt. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz oder Herkunft in/aus einem bestimmten Gebiet, das als "regierungsfreundlich" oder "regierungsfeindlich" gilt.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 32)

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)

Die YPG sind der bewaffnete Flügel der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Bis 2014 war der Militärdienst bei der YPG freiwillig. Seit 2014 gibt es jedoch in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst. Jede Familie ist dazu verpflichtet, ein Familienmitglied im Alter von 18 bis 30 Jahren als "Freiwilligen" für einen sechsmonatigen Wehrdienst bei der YPG aufzubieten. Wird dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, kommt es zu Zwangsrekrutierungen, sowohl von Erwachsenen als auch von Minderjährigen, oder zu rechtlichen Konsequenzen. Das Grundproblem dieses Gesetzes besteht zum einen darin, dass es nicht von einer dazu legitimierten staatlichen Instanz beschlossen wurde, sondern von einem von der PYD eingesetzten Gremium. Beim bewaffneten Arm der PYD, den YPG, handelt es sich nicht um eine quasistaatliche Armee, sondern um eine Parteimiliz. Zum anderen sieht das Gesetz keine Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vor.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 26)

1.2.3. Sunniten

In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass der syrische Präsident Muslim sein muss. Die Sunniten stellen 74% der Bevölkerung und sind überall im Land präsent. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und Schiiten machen zusammen 13% aus, die Drusen 3%. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10%, wobei laut Medien- und anderen Berichten davon auszugehen ist, dass viele Christen aufgrund des Bürgerkrieges das Land verließen, und die Zahl nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jeziden. Diese Zahl könnte aufgrund des Zuzugs von Jeziden, die aus dem Irak nach Syrien flüchteten, mittlerweile höher sein.

Der Aufstand in Syrien wird zunehmend mit der sunnitischen Bevölkerung assoziiert, was dazu führte, dass die Regierung in verschiedenen Teilen des Landes Städte und Stadtteile nur auf Basis der religiösen Zugehörigkeit der Bevölkerung zum Ziel von Belagerungen, Beschuss und Luftangriffen machte. Auch der IS ist für Menschenrechtsverletzungen Sunniten gegenüber verantwortlich. Am Beginn des Konfliktes waren Angriffe auf Minderheiten kein zentraler Bestandteil des Krieges, wobei manche Minderheiten der Gewalt mehr ausgesetzt waren als andere. Die Handlungen von Seiten des Regimes haben jedoch dazu beigetragen, dass die konfessionelle Dimension des Konfliktes eskalierte, was zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, auf Basis ihrer Identität und wahrgenommenen Verbindung mit der Regierung oder der Opposition, führte. Auch die vermehrte Beteiligung von internationalen Akteuren verstärkt die konfessionellen Spannungen.

Die Minderheiten sind zwischen den konfessionellen Spannungen gefangen und in ihrer Loyalität gespalten. Viele entschieden sich dafür, das Regime zu unterstützen, da sie sich Schutz durch die syrische Regierung erhoffen, während andere Mitglieder von Minderheiten auf der Seite der Opposition stehen.

Die alawitische Gemeinde, zu der Bashar al-Asad gehört, genießt einen privilegierten Status in der Regierung und dominiert auch den staatlichen Sicherheitsapparat und das Militär. Nichtsdestotrotz werden auch alawitische, oppositionelle Aktivisten Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter, Haft und Mord durch die Regierung. Alawitische Gemeinden und schiitische Minderheiten werden aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes außerdem zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen. Dies gilt auch für andere schiitische Minderheiten. Durch den Aufstieg und die Verbreitung von extremistischen bewaffneten Gruppierungen seit 2014 werden Minderheiten vermehrt Menschenrechtsverletzungen durch deren Kämpfer ausgesetzt. Gruppierungen wie der IS oder Jabhat Fatah al-Sham setzen Minderheiten, in den Gebieten, die sie kontrollieren, Angriffen und Unterdrückung ihrer Religionsfreiheit aus, und bestrafen jene hart, die gegen ihre Kontrolle sind.

In Gebieten, welche der IS kontrolliert, wurden Christen gezwungen, eine Schutzsteuer zu zahlen, zu konvertieren oder liefen Gefahr, getötet zu werden. In Raqqa hält der IS tausende jezidische Frauen und Mädchen, die im Irak entführt und nach Syrien verschleppt wurden, gefangen, um sie zu verkaufen oder an seine Kämpfer als Kriegsbeute zu verteilen. Jabhat Fatah al-Sham und einige verbündete Rebellengruppen zielen im Norden des Landes mit Bomben und Selbstmordattentaten auf Drusen und Schiiten ab, was laut Jabhat Fatah al- Sham eine Reaktion auf das "Massaker an Sunniten" durch die Regierung sei. Oppositionelle Gruppen entführen Mitglieder religiöser Minderheiten. Da sich die Motive politischer, ethnischer, konfessioneller und religiöser Gewalt überschneiden, ist es schwierig, Übergriffe als lediglich religiös motiviert zu kategorisieren.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 30f.)

1.2.4. Wehrdienst

Für männliche Syrer und Palästinenser, welche in Syrien leben, ist ein Wehrdienst von 18 oder 21 Monaten ab dem Alter von 18 Jahren verpflichtend, außerdem gibt es einen freiwilligen Militärdienst. Frauen können ebenfalls freiwillig einen Militärdienst ableisten. Seit Jahren versuchen immer mehr Männer die Rekrutierung zu vermeiden, indem sie beispielsweise das Land verlassen oder bewaffneten Gruppen beitreten, die das Regime unterstützen. Jenen, die den Wehrdienst verweigern, oder auch ihren Familienangehörigen, können Konsequenzen drohen.

Es ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß die Rekrutierung durch die syrische Armee in verschiedenen Gebieten Syriens, die unter der Kontrolle verschiedener Akteure stehen, tatsächlich durchgesetzt wird, und wie dies geschieht. In der syrischen Armee herrscht zunehmende Willkür und die Situation kann sich von einer Person zur anderen unterscheiden. Oppositionsgruppen haben ihre eigenen Vorgangsweisen bei der Rekrutierung und die Situation kann von der jeweils verantwortlichen Person abhängen.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 22)

Diese gesetzliche Altersgrenze ist jedoch reine Theorie. Es gibt immer wieder Razzien, wie zum Beispiel Anfang Mai 2017, als bei einem Fußballspiel in Tartus alle Männer beim Verlassen des Stadions versammelt und zum Dienst verpflichtet wurden. Einige Zeit zuvor gab es einen weiteren Vorfall, bei dem vor einem Einkaufszentrum in Damaskus alle wehrfähigen Männer eingesammelt und rekrutiert wurden. Auch ein "Herauspflücken" bei einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet. Die Altersgrenze ist auf beiden Seiten nur theoretisch und jeder Mann in einem im weitesten Sinne wehrfähigen Alter, kann rekrutiert werden.37

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report zu Syrien vom August 2017, S. 18)

Die syrischen Streitkräfte – Wehr- und Reservedienst

Die syrische Armee hat durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen. Viele weigern sich, der Armee beizutreten. Die regulären Rekrutierungsmethoden werden in Syrien noch immer angewendet, weil das Regime zeigen will, dass sich nichts verändert hat, und das Land nicht in totaler Anarchie versinkt. Es werden Rekrutierungsschreiben verschickt, wenn Männer das wehrfähige Alter erreichen. Männer, die sich außer Landes oder in Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert werden, befinden, erhalten ihre Rekrutierungsschreiben häufig nicht.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 23)

Normalerweise werden Einberufungsbefehle schriftlich mit der Post zugestellt, zur Zeit wird jedoch eher auf persönlichem Wege zum verpflichtenden Militärdienst rekrutiert, um ein Untertauchen der potentiellen Rekruten zu verhindern. Zu diesem Zweck werden Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros zum Haus der Wehrpflichtigen geschickt. Wenn der Gesuchte zu Hause ist, wird er direkt mitgenommen. Wenn er nicht zu Hause ist, wird der Familie mitgeteilt, dass er sich bei der nächsten Kaserne zu melden habe.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report zu Syrien vom August 2017, S. 24)

Wenn eine persönliche Benachrichtigung nicht möglich ist, können Männer, welche das wehrfähige Alter erreichen, auch durch Durchsagen im staatlichen Fernsehen, Radio oder der Zeitung zum Wehrdienst aufgerufen werden.

Männer werden jedoch auch auf der Straße an Checkpoints oder an anderen Orten rekrutiert. Es gibt auch Massenverhaftungen und Tür-zu-Tür-Kampagnen, um Wehrdienstverweigerern habhaft zu werden.

Bestechung als Mittel, um den Wehrdienst zu vermeiden, ist mittlerweile schwieriger geworden – zumindest wenn jemand keine großen Geldsummen zur Verfügung hat. Nach der Massenwanderung von Syrern im Jahr 2015 wurde das Wehrdienstalter erhöht, und mehr Männer wurden an Checkpoints rekrutiert, auch solche, die ihren Militärdienst bereits beendet hatten. Das Höchstalter für den Militärdienst betrug zuvor 42 Jahre, wurde jedoch inzwischen erhöht, wobei es hierzu keine offizielle Regelung und daher auch kein offizielles Höchstalter mehr gibt.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 23 f)

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, und wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst entscheidet, Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden. Vor dem Ausbruch des Konflikts bestand der Reservedienst im Allgemeinen nur aus mehreren Wochen oder Monaten Ausbildung zur Auffrischung der im Militär erforderlichen Fähigkeiten und die Regierung berief Reservisten nur selten ein. Seit 2011 hat sich das jedoch geändert. Es liegen außerdem einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung).

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report zu Syrien vom August 2017, S. 22)

Reservisten können je nach Gebiet und Fall auch im Alter von 50 bis 60 Jahren zum aktiven Dienst einberufen werden. Sie werden mittels Brief, den die Polizei persönlich zustellt, oder an Checkpoints rekrutiert. Bei der Einberufung von Reservisten ist das Alter weniger entscheidend als der Beruf oder die Ausbildung einer Person, sowie Rang und Position während des bereits abgeleisteten Militärdienstes oder die Einheit, in der gedient wurde.

Es gibt verschiedene Gründe, um vom Militärdienst befreit zu werden. Der einzige Sohn einer Familie, Studenten oder Versorger der Familie können vom Wehrdienst befreit werden. Außerdem sind Männer mit Doppelstaatsbürgerschaft, die den Wehrdienst bereits in einem anderen Land abgeleistet haben, üblicherweise vom Wehrdienst befreit. Möglicherweise kommt es bei diesen Ausnahmen zum Wehrdienst derzeit jedoch auch zu Willkür. Durch den erhöhten Bedarf an Soldaten wird mittlerweile ebenso auf "geschützte" Gruppen wie Studierende, Beamte und Minderheiten zurückgegriffen.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 23)

Unbestätigte Berichte legen nahe, dass der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit über den Wegfall von Aufschubgründen informiert ist, und diese auch digital überprüft werden. Zuvor mussten Studenten den Status ihres Studiums selbst dem Militär melden, in den letzten zwei Jahren wird der Status von Studenten aktiv überprüft. Generell werden Universitäten nun strenger überwacht und von diesen wird nun verlangt, dass sie das Militär über die Anwesenheit bzw. Abwesenheiten der Studenten informieren. Kürzlich gab es eine Änderung bezüglich der Befreiung aufgrund eines Lehramts-Studiums. Zuvor war es möglich, einen Aufschub des Wehrdienstes zu erwirken, wenn man ein Lehramts-Masterstudium begann, unabhängig davon welches Bachelor-Studium man zuvor absolviert hatte. Dieser Aufschub-Grund funktioniert nun nur noch, wenn man auch den Bachelorabschluss im Lehramtsstudium gemacht hat.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Fact Finding Mission Report zu Syrien vom August 2017, S. 20)

Entlassungen aus dem Militärdienst sind sehr selten geworden. Es gibt Männer in der Armee, die seit dem Beginn der Revolution 2011 in der Armee sind. Die Dauer des Militärdienstes hat sich verlängert, möglicherweise ist sie auch nicht mehr begrenzt. 2011 konnte der Wehrdienst noch um ein paar Monate verlängert werden, und danach wurde man entlassen. Mittlerweile ist Desertion häufig der einzige Ausweg.

Bei der Einreise nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder andere Einreisepunkte in Gebiete, die vom syrischen Regime kontrolliert werden, wird bei Männern im wehrfähigen Alter überprüft, ob diese ihren Militärdienst bereits abgeleistet haben. Selbst wenn sie ihren Militärdienst bereits absolviert haben, kommt es vor, dass Männer im wehrfähigen Alter erneut zwangsrekrutiert werden.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 23 f)

Wehrdienstverweigerung/Desertion

Es gab Amnestien der syrischen Regierung, um Deserteure und Wehrdienstverweigerer zu ermutigen, sich zum Dienst zu melden. Es ist jedoch nicht bekannt, ob Männer, die dieses Angebot in Anspruch nehmen, Konsequenzen erfahren oder nicht. Besonders aus dem Jahr 2012 gibt es Berichte von desertierten syrischen Soldaten, welche gezwungen wurden, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Falls sie sich weigerten, wären sie Gefahr gelaufen, erschossen zu werden.

Auf Desertion steht die Todesstrafe. Es ist jedoch nicht bekannt, wieweit die Todesstrafe wirklich angewendet wird. Ein Deserteur würde jedoch zumindest inhaftiert werden. Wenn ein Deserteur an einem Checkpoint rekrutiert wird, kann er direkt zum Dienst – auch an die Front – oder ins Gefängnis geschickt werden. Die Konsequenzen für Desertion hängen vom Bedarf an der Front und von der Position und dem Rang des Deserteurs ab. Für ‚desertierte‘, vormals bei der Armee arbeitende Zivilisten gelten dieselben Konsequenzen wie für einen Deserteur. Solche Personen werden als Verräter angesehen, weil sie über Informationen über die Armee verfügen.

Auch Familien von Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern haben mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie könnte von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder (auch weibliche) können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Manchmal wird ein Bruder oder der Vater eines Deserteurs ersatzweise zur Armee rekrutiert.

Wenn ein Wehrdienstverweigerer von den Behörden aufgegriffen würde, würde er verhaftet und überprüft werden. Anschließend könnte die Person zum Dienst in der Armee geschickt werden. Die Konsequenzen hängen jedoch vom Profil und den Beziehungen der Person ab. Wenn es eine Verbindung zu einer oppositionellen Gruppe gibt, wären die Konsequenzen ernster.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 27 f.)

Personen, die sich einem Schießbefehl widersetzten, desertierten oder einer geplanten Desertion verdächtigt wurden, werden in der Regel nicht formell angeklagt. Stattdessen wurden sie entweder zum Zeitpunkt der Desertion umgehend hingerichtet oder willkürlich inhaftiert, in incommunicado Haft genommen, gefoltert und extralegal hingerichtet. Andere wurden nach einer Untersuchung zurück in ihre Einheit geschickt. Regierungskräfte griffen bei Verhaftungskampagnen in Gebieten, in denen ihrer Wahrnehmung nach die Opposition unterstützt wurde, gezielt Angehörige von Deserteuren heraus. Das Eigentum von Deserteuren wurde durch Plünderung und Brandstiftung zerstört.

(UNHCR-Bericht, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien; Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Syrien – "illegale Ausreise" aus Syrien und verwandte Themen vom Februar 2017 [deutsche Version April 2017], S. 22ff.)

1.2.5. Bewegungsfreiheit

Die steigende Anzahl an Checkpoints der verschiedenen bewaffneten Konfliktparteien, die schweren Kämpfe und die generelle unsichere Lage im Land schränken stark die Bewegungsfreiheit der syrischen Bevölkerung und den Transport von lebensnotwendigen Gütern ein. Das syrische Regime blockiert systematisch Regionen, welche von den Rebellen kontrolliert werden, und die Rebellen und der IS wenden dieselbe Taktik auf von der Regierung kontrollierte Gebiete an. In Gebieten unter ihrer Kontrolle beschränken der IS und andere Regierungsgegner die Bewegungsfreiheit von Unterstützern der Regierung bzw. von Personen, von denen dies angenommen wird. Dies gilt besonders für die alawitische und schiitische Bevölkerung. Das syrische Regime setzt Scharfschützen ein, um Sperrstunden durchzusetzen, oder Zivilisten an der Flucht aus belagerten Städten zu hindern.

Die vorherrschende Gewalt und der starke kulturelle Druck schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten erheblich ein. Zusätzlich gibt es ein Gesetz, das bestimmten männlichen Verwandten erlaubt, Frauen das Reisen zu verbieten. Frauen haben eine etwas größere Bewegungsfreiheit an Checkpoints – allerdings bei erhöhter Gefahr, Opfer von sexueller und physischer Gewalt durch die Kriegsparteien oder individuelle kriminelle Elemente zu werden. In Gebieten, welche vom IS kontrolliert werden, sind Frauen zahlreichen Beschränkungen ausgesetzt. Ihr Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und ihre Bewegungsfreiheit sind sehr stark eingeschränkt oder komplett untersagt. Der IS erlaubt Frauen nicht, ohne einen nahen männlichen Verwandten durch das von ihnen kontrollierte Gebiet zu reisen. 4,8 Millionen Menschen sind seit Beginn des Konfliktes aus Syrien geflohen.

Die syrische Regierung verweigert die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem geographischen Gebiet, in dem die Opposition dominiert. Das syrische Regime verlangt außerdem ein Ausreisevisum. Über Menschenrechtsaktivisten oder andere Aktivisten der Zivilgesellschaft, deren Familien oder Bekannte werden häufig Ausreiseverbote verhängt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Grund oder Gültigkeitsdauer werden häufig nicht genannt.

Aufgrund des Bürgerkrieges haben in Gebieten, welche von der Opposition kontrolliert werden, Institutionen, die Identitätsdokumente ausstellten, aufgehört zu funktionieren. In Gebieten, welche von der Regierung kontrolliert werden, gibt es diese Institutionen noch, für manche Syrer ist es jedoch unmöglich geworden sie zu erreichen. So können manche Personen Geburten, Eheschließungen oder Todesfälle nicht mehr eintragen lassen, oder sich neue Identitätsdokumente ausstellen lassen. Durch den Bürgerkrieg sind auch die Kontrollmaßnahmen schwächer geworden. So werden "echte" Dokumente mit falschen Namen oder geänderten Informationen ausgestellt. Außerdem werden vermehrt gefälschte Dokumente benutzt.

2015 schlossen Jordanien und Libanon ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien, später für Syrer generell. Im Juni 2016 hat die jordanische Regierung den Grenzübergang zu Syrien wegen Sicherheitsbedenken für syrische Flüchtlinge geschlossen und auch die Durchfahrt für Hilfsleistungen gestoppt, nachdem bei einem Selbstmordanschlag in dem Gebiet sieben jordanische Soldaten getötet worden waren. Der IS bekannte sich zu diesem Anschlag und soll auch eines der beiden informellen Zeltlager von Rukban und Haladat auf der syrischen Seite der Grenze infiltriert haben. Seither waren nur Anfang August und Anfang Oktober 2016 Hilfsgüter mit Kränen über den Erdwall an der syrisch-jordanischen Grenze, hinter dem mittlerweile ungefähr 80.000 Syrer in Zelten leben, geliefert worden. Wie viele Menschen tatsächlich in den Lagern leben, wissen internationale Hilfsorganisationen nur von Satellitenbildern.

Auch die Türkei, welche anfangs noch Millionen Syrer aufnahm, hat mittlerweile die Grenzen de facto geschlossen. Die Südgrenze wurde weitgehend dicht gemacht und die Türkei setzt auf die Versorgung von Flüchtlingen in Nordsyrien. Die Grenze zwischen Syrien und dem Irak existiert faktisch nicht mehr. Derzeit ist die Grenze für Flüchtlinge geschlossen.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 34 ff.)

1.2.6. Rückkehr

Länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z.B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Quellen des kanadischen IRB gaben an, dass Personen bei der Einreise nach Syrien über den internationalen Flughafen Damaskus oder andere Einreiseorte kontrolliert werden. Bei männlichen Personen im wehrfähigen Alter wird auch kontrolliert, ob diese ihren Militärdienst bereits abgeleistet haben. Männer im wehrfähigen Alter sind bei der Einreise besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen durch das Sicherheitspersonal zu werden.

Die Sicherheitsorgane haben am Flughafen freie Hand, und es gibt keine Schutzmechanismen, wenn eine Person verdächtigt und deswegen misshandelt wird. Es kann passieren, dass die Person sofort inhaftiert und dabei Opfer von Verschwindenlassen oder Folter wird. Oder der Person wird die Einreise nach Syrien erlaubt, sie muss sich jedoch zu einem anderen Zeitpunkt erneut melden und verschwindet dann. Eine Person kann auch Opfer von Misshandlungen werden, ohne dass es dafür einen bestimmten Grund gibt. Das System ist sehr unberechenbar. Bereits im Jahr 2012 hat ein britisches Gericht festgestellt, dass für einen nach Syrien zurückkehrenden, abgelehnten Asylwerber im Allgemeinen bei der Ankunft die reale Gefahr besteht, aufgrund einer angenommenen politischen Gesinnung inhaftiert zu werden, und in der Folge schweren Misshandlungen ausgesetzt zu sein. Seit dieser Feststellung hat sich die Situation weiter verschlimmert.

Bei Rückkehr nach einem abgelehnten Asylantrag würde eine Person inhaftiert und im Zuge von Befragungen gefoltert werden. Die Person könnte für die Verbreitung falscher Informationen über Syrien im Ausland verurteilt werden, oder die Behörden würden versuchen durch Folter Informationen über andere Asylwerber oder die Opposition zu bekommen. Es kann jedoch auch sein, dass eine Person, trotz eines abgelehnten Asylantrages, auch nach der Rückkehr nach Syrien noch als Unterstützer des Asad-Regimes angesehen wird.

Das Gesetz bestraft auch Personen, welche versuchen in einem anderen Land Zuflucht zu suchen, um eine Strafe in Syrien zu vermeiden.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 5. Jänner 2017, S. 37 f.)

Es liegen kaum konkrete Informationen über die Behandlung von Rückkehrern nach Syrien vor. Quellen zufolge werden Personen an der Grenzübergangsstelle (Landgrenze, Flughafen) bei ihrer Einreise untersucht, um festzustellen, ob sie im Zusammenhang mit sicherheitsbezogenen Vorfällen (wie Straftaten, tatsächliche oder vermeintliche regierungsfeindliche Aktivitäten oder Ansichten, Kontakte zu politischen Oppositionellen im Ausland, Einberufung etc.) gesucht werden.

Personen, deren Profil irgendeinen Verdacht erregt, insbesondere aus den unter den Risikoprofilen unten beschriebenen Gründen, sind Berichten zufolge dem Risiko einer längeren incommunicado Haft und Folter ausgesetzt.

Für Rückkehrer besteht außerdem das Risiko, inhaftiert zu werden, weil Familienmitglieder von den Behörden gesucht werden, weil sie ihren Militärdienst nicht geleistet haben, weil sie aus einem Gebiet stammen, das sich unter der Kontrolle der Opposition befindet, oder weil sie aufgrund ihrer konservativen Kleidung als religiös wahrgenommen werden. Andere werden ohne bestimmten Grund entsprechend der weit verbreiteten Willkür und des Machtmissbrauchs durch Sicherheitsbeamte inhaftiert und misshandelt.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch (HRW) haben mehrere Fälle dokumentiert, in denen Syrer am Flughafen Damaskus oder an Landgrenzübergängen bei Ein- oder Ausreisen durch Sicherheitsdienste verhaftet und später gefoltert wurden und/oder gewaltsam verschwanden.

Auch nach der ersten Einreise nach Syrien kann das Inhaftierungsrisiko weiterhin bestehen. Berichten der Unabhängigen UN-Untersuchungskommission zu Syrien zufolge wurde ein Syrer, der zwangsweise aus Jordanien nach Syrien zurückgewiesen wurde, an einer Kontrollstelle in einem ländlichen Gebiet des Gouvernements Homs verhaftet.

(UNHCR-Bericht, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien; Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Syrien – "illegale Ausreise" aus Syrien und verwandte Themen vom Februar 2017 [deutsche Version April 2017], S. 5ff.)

1.2.7. Risikogruppen

In seinen Richtlinien "zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen" vom November 2017 geht UNHCR u. a. von folgenden "Risikoprofilen" aus:

* Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen (u.a. Wehrdienstverweigerer sowie Familienangehörige von tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegnern)

* Angehörige ethnischer Minderheiten (u.a. Kurden)

* Mitglieder religiöser Gruppen (u.a. Sunniten)

2. Beweiswürdigung

2.1. Die Feststellungen zum Beschwerdeführer basieren auf seinen vorgelegten Unterlagen und seinen (auch vom BFA als glaubwürdig gewerteten) Angaben sowie der am 18. Jänner 2018 eingeholten Strafregisterauskunft. Er besuchte in Österreich Deutschkurse und holte seinen Pflichtschulabschluss nach.

Dass der 18-jährige Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr Gefahr läuft, zum Militärdienst eingezogen zu werden, fußt auf den aktuellen Länderfeststellungen, wonach männliche Staatsbürger Syriens ab dem Alter von 18 Jahren dem verpflichtenden Militärdienst unterliegen und Männer bei Kontrollen an Checkpoints (willkürlich) zum Militärdienst eingezogen werden.

Es ist daher glaubwürdig, dass der 18-jährige Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr eine Rekrutierung durch das syrische Regime befürchten muss.

Die Feststellungen zu seiner Ablehnung, an Kämpfen beteiligt sein zu wollen und zur regimekritischen (öffentlichen) Äußerung seines Vaters, ergeben sich aus seinen stimmigen Angaben.

2.2. Die Feststellungen zur Situation in Syrien beruhen auf den genannten (nun aktualisierten) Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen auch die Verfahrensparteien nicht entgegen getreten sind (siehe oben Punkt I.8.), besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zur Stattgebung der Beschwerde (Spruchpunkt A)

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Grup-pe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befin-det und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines ge-wöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann. Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (vgl. VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (vgl. VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 08.09.1999, 98/01/0614; 29.03.2001, 2000/20/0539).

Der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat glei-chermaßen drohenden Bestrafung kann asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Ver-halten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Be-troffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt (vgl. VwGH 27.04.2011, 2008/23/0124; 25.03.2015, Ra 2014/20/0085). Unter dem Gesichts-punkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine "bloße" Gefäng-nisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009 m. w.N.; Putzer, Leitfaden, Asylrecht, 2. Auflage [2011], Rz 97; EuGH 26.02.2015, Fall Shepherd, C-472/13). Auch dem Zwang zum Vorgehen gegen Mitglieder der eigenen Volksgruppe kann Asylrelevanz zukommen (vgl. VwGH 27.04.2011, 2008/23/0124 m.w.N.).

3.1.2. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien besteht für den Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgungsgefahr, weil er sich durch seine Ausreise dem Wehrdienst, in dessen Rahmen er zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen (wie Angriffen auf die Zivilbevölkerung) gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht würde, entzogen hat und somit als politischer Gegner des syrischen Regimes gesehen würde (vgl. insbes. nochmals VwGH 25.03.2015, Ra 2014/20/0085, sowie EuGH 26.02.2015, Fall Shepherd, C-472/13).

Damit fällt er (auch) in eine von UNHCR angeführte Risikogruppe, nämlich der "Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen [u.a. Wehrdienstverweigerer]" (siehe oben Punkt 1.2.7.; zur Indizwirkung von UNHCR-Positionen vgl. etwa VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182 m.w.N.). Überdies ist der Beschwerdeführer Angehöriger einer Volksgruppe (Kurde) als auch Angehöriger einer Glaubensgruppe (Sunnit), für die nach UNHCR (nach wie vor) besonderer Schutzbedarf besteht.

Zusätzlich besteht für den Beschwerdeführer als Familienangehöriger von tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegnern nach UNHCR besonderer Schutzbedarf, weshalb eine Verfolgung auch aus diesem Grund nicht auszuschließen ist.

Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den syrischen Staat ist für den Beschwerdeführer schon deswegen auszuschließen, weil die Verfolgung gerade von diesem ausgeht.

Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht; die Annahme ebendieser würde im Widerspruch zum aufgrund der derzeitigen Situation in Syrien bereits gewährten subsidiären Schutz stehen (vgl. etwa VwGH 25.03.2015, Ra 2014/18/0168; 29.06.2015, Ra 2014/18/0070).

Da auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Aus-schlussgründe vorliegt, war dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen.

3.1.3. Die nur vom Beschwerdeführer beantragte mündliche Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG entfallen.

3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B)

3.2.1. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

3.2.2. Die Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass dem Beschwerdeführer insbesondere aufgrund seiner Wehrdienstentziehung eine asylrelevante Verfolgung droht, entspricht der oben angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.

3.3. Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung, Glaubhaftmachung, Militärdienst,
unterstellte politische Gesinnung, Volksgruppenzugehörigkeit,
Wehrdienstverweigerung, Zwangsrekrutierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W227.2116566.1.00

Zuletzt aktualisiert am

30.04.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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