TE Bvwg Erkenntnis 2018/1/15 W208 2177805-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.01.2018
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Entscheidungsdatum

15.01.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W208 2177805-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ewald SCHWARZINGER über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX 1998 , Staatsangehörigkeit AFGHANISTAN, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans JALOVETZ, 9500 VILLACH, Postgasse 8, gegen den Bescheid des BUNDESAMTES FÜR FREMDENWESEN UND ASYL Regionaldirektion Kärnten vom 21.10.2017, Zl. 1089757004-151483295 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.01.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführende Partei (im Folgenden: bP) hat nach schlepperunterstützter und unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 04.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), gestellt.

2. Am 04.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der PI XXXX die niederschriftliche Befragung der bP statt, bei der sie durch einen Dolmetscher in der Sprache Farsi zum Fluchtweg und ihrem Fluchtgrund befragt wurde.

Bei dieser Einvernahme war ein Rechtsberater anwesend, weil die bP angegeben hatte, sie wäre erst vierzehn Jahre alt und lagen nach Angabe der bP Verständigungsprobleme (die Dolmetscherin habe ihn nicht wirklich verstanden und sich lustig gemacht) vor.

Aufgrund eines medizinischen Sachverständigengutachtens vom 05.09.2016 (Begutachtung der bP am 04.07.2016) wurde eine Bandbreite des möglichen Alters der bP von 16,85 bis 21,55 festgestellt sowie ein spätmöglichstes fiktives Geburtsdatum von 27.11.1998 (Alter daher 17,6 Jahre) angenommen (AS 75).

Mit Verfahrensanordnung vom 19.09.2016 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) festgestellt, dass es sich bei der bP um eine volljährige Person handle und das Geburtsdatum mit 27.11.1998 festgestellt (AS 157).

3. Bei ihrer Einvernahme am 22.05.2017 gab die bP vor dem BFA, Regionaldirektion Kärnten, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi an, dass ihre bisherigen Angaben im Verfahren der Wahrheit entsprächen und machte nähere Ausführungen zu ihrer Herkunft und zu den Gründen ihrer Flucht.

Die bP legte folgende Unterlagen vor:

• ÖSD Zertifikat A2 vom 13.04.2017 (56 von 90 Punkten)

• Kursstartbestätigung vom 25.04.2017, Basisbildung Ktn VHS

• Empfehlungsschreiben Mag. XXXX vom 17. Mai 201

• Empfehlungsschreiben Mag. XXXX vom 5. Mai 2017

• Empfehlungsschreiben Dr. XXXX vom 4. Mai 2017

• Empfehlungsschreiben Mag. XXXX vom 28.4.2017

• Empfehlungsschreiben/Bestätigung XXXX vom 20. April 2017

• Empfehlungsschreiben Dr. XXXX vom 8.8.2016 (mit Foto)

• Empfehlungsschreiben XXXX SBS XXXX

• 2 Fotoausdrucke (Besuch des BP Dr. Fischer in der SBS XXXX )

• Hauspost XXXX Pflegeheim betreffend ehrenamtliche Tätigkeit

Nach Angabe der bP lagen auch bei dieser Befragung Verständigungsprobleme vor, die auch im Protokoll dokumentiert sind, aber bereinigt werden konnten (Einvernahmeprotokoll, Seiten 5, 8, 10, 12, 13).

4. Das BFA hat mit dem im Spruch angeführten Bescheid vom 21.10.2017, den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der bP gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach AFGHANISTAN zulässig ist (Spruchpunkt III.) und dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

Im Bescheid des BFA wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die bP Afghanistan bzw den Iran aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe und keinerlei Verfolgungsgründe vorlägen. Auch bei einer Rückkehr, sei sie keiner Bedrohung aufgrund der Zugehörigkeit zu ihrer Volksgruppe oder zu ihrem Glauben ausgesetzt und würden auch keine unüberwindbaren Hindernisse für eine Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft (in einer der Großstädte wie Herat, Kabul oder Mazar-e Shraif oder in der relativ friedliche Heimatprovinz BAMYAN) vorliegen. Die angeführten Schwierigkeiten im Iran seien nicht relevant. Die Verwandten im Iran könnten sie unterstützen. Die bP habe keine Angaben, Tätigkeiten, Mitgliedschaften oder Nachweise erbracht, wonach sie einen Lebensstil angenommen habe, der einen nachhaltigen Bruch mit den traditionellen Werthaltung und herrschenden sozialen Normen in Afghanistan in einen Ausmaß bedeuten würden, dass ihr bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des derzeitigen Lebensstils) eine Verfolgung drohen würde. Exzeptionelle Umstände, die die reale Gefahr einer Verletzung der bP in ihren Rechten nach Art 3 EMRK darstellen würden, seien nicht festgestellt worden.

Die Feststellungen zum Herkunftsland wurden nach dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017 (zuletzt aktualisiert am 25.09.2017) getroffen.

5. Gegen den am 24.10.2017 zugestellten Bescheid wurde von dem im Spruch genannte Rechtsvertreter am 21.11.2017 beim BFA Beschwerde eingebracht. In dieser Beschwerde wurde im Wesentlichen moniert, dass die belangte Behörde es verabsäumt habe die bP zu ihrer westlichen Einstellung und politischen Gesinnung zu befragen. Durch die durch das Leben in Österreich und in Iran geprägte Einstellung der bP würde ihr im Afghanistan ein oppositionelle politische Gesinnung bzw ein nichtislamisches Verhalten unterstellt und sei der afghanische Staat idZ weder schutzwillig noch -fähig. Die bP müsse um ihre körperliche Integrität und ihr Leben fürchten.

6. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 23.11.2017 vom BFA vorgelegt. Gleichzeitig teilte das BFA mit, dass es aus dienstlichen und personellen Gründen auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung verzichte.

7. Mit Ladungen vom 04.12.2017 wurde vom BVwG eine Verhandlung in der Sache anberaumt.

8. Mit Schreiben vom 19.12.2017 ersuchte der Rechtsvertreter um Vertagung, da er in einer Strafsache am Verhandlungstag einschreiten müsste. Der Vertagungsbitte konnte aus organisatorischen Gründen vom BVwG nicht Rechnung getragen werden.

9. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 11.01.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlungen durch, an der die bP im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari/Farsi und eines Substitutes ihrers bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahm und ausführlich zu ihren Fluchtgründen und zu ihrer Person befragt wurde.

Ein Vertreter des BFA nahm – wie angekündigt - an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem BFA übermittelt.

Die bP legte im Rahmen der mündlichen Verhandlung folgende weitere Unterlagen vor (nummeriert nach der Beilage zum VHP/BVwG):

1. Bestätigung für einen Deutschkurs B1 vom 31.10.2017;

2. Bestätigung für Teilnahme an ehrenamtlichen Besuchsdienst im Pflegeheim LAETITIA seit Mai 2017 vom 31.10.2017;

3. Schulbesuchsbestätigung – Nachholen Pflichtschulabschluss seit 25.09.2017 (3 Semester) vom 28.09.2017;

4. Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs am 01.12.2016;

5. Bescheinigung Teilnahme am Erste-Hilfe-Grundkurs des Roten Kreuzes vom 16.11.2017;

6. Kurzeinschätzung der Flüchtlingsbetreuerin Katrin XXXX , BA, MA;

7. Stellungnahme von Frau Marianne XXXX (die auch in der Verhandlung als Zuhörerin anwesend war) vom 07.01.2018;

8. Bestätigung der Bürgerinitiative "Deutsch für Flüchtlinge" XXXX , Waltraud XXXX .

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

1. Feststellungen

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht aufgrund der im Verfahrensgang angeführten Urkunden, einem aktuellen Strafregisterauszug und den Angaben der bP in der Verhandlung vor dem BVwG fest und werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person

Der Name der bP ist XXXX , sie wurde am XXXX 1998 in der Provinz BAMIYAN, (Afghanistan) geboren. Sie ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, hat diese jedoch im Alter von ca einem Jahr verlassen und seit diesem Zeitpunkt ununterbrochen im IRAN in der Provinz ISFAHAN im Dorf XXXX gelebt. Weiters ist sie Angehörige der Volksgruppe der Hazara und kommt aus einer Familie die sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt.

Die bP selbst folgt keiner Religion (mehr). Sie lehnt den konservativen Islam ab und hält sie nicht an dessen religiösen Vorschriften: Sie fastet (auch im Ramadan) nicht, sie betet nicht, sie geht nicht in die Moschee und hat ein durch Selbstbestimmung geprägtes Frauenbild. Sie scheut sich nicht diese ihre Ansichten in Österreich auch gegenüber anderen Asylwerbern in ihrer Unterkunft zu vertreten und hat nicht nur ein klares Bild von der Zukunft (Deutschkenntnisse weiter verbessern, Hauptschulabschluss beenden, Pflegedienstausbildung), sondern auch entsprechende Schritte gesetzt, um sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren und für sich selbst zu sorgen.

Die bP spricht reines Farsi, außerdem versteht sie Dari, spricht dieses jedoch nicht. Weiters verfügt sie über Deutschkenntnisse (B1) und Englischkenntnisse. Sie lernt seit 25.09.2017 für ihren Pflichtschulabschluss, weil sie im IRAN nur eine fünfjährige Schulausbildung genossen hat und dann in dem landwirtschaftlichen Betrieb (Baumwolle, Obstbau, Viehzucht) mitarbeiten musste, wo ihre Eltern 1999/2000 als illegale Flüchtlinge aus Afghanistan Aufnahme, Unterkunft und Lebensunterhalt gefunden hatten.

Die bP hat folgende Angehörige im IRAN: einen sehr konservativ eingestellten Vater (60), Mutter (49), Bruder (17), drei Schwestern (26, 20, 11); zwei Onkeln müttterlicherseits, einen Onkel väterlicherseits.

In Afghanistan hat sie kein Angehörigen und war auch nach ihrer Ausreise als Kleinkind nie mehr dort.

Die bP ist gesund und steht nicht in ärztlicher Behandlung.

Die bP verließ Pakistan/Iran im August 2014 und reiste über die Türkei nach Griechenland und in weiterer Folge über Mazedonien sowie Ungarn nach Österreich wo sie am 04.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die bP ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei

Die bP begründete ihren Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen damit, dass sie im IRAN aufgrund des Umstandes, dass sie ein Afghane und Flüchtling sei, diversen Repressionen ausgesetzt war (Diskriminierungen durch die ortsansässige Bevölkerung, willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen durch die Polizei) sowie ständig in der Angst leben habe müssen nach Afghanistan abgeschoben oder nach Syrien in den Krieg geschickt zu werden und keine Bildungschancen zu haben.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP vor ihrer Flucht einer konkreten individuellen Verfolgung – etwa durch Taliban, Daesh oder sonstige kriminelle Personen – in Afghanistan ausgesetzt war.

Die bP hat aufgrund ihres damaligen jungen Alters keine Erinnerungen an ihren Aufenthalt in Afghanistan und keine eigenen Wahrnehmungen über den Grund der Ausreise der Familie nach Afghanistan.

Andere Gründe der bP für das Verlassen des Herkunftsstaates konnten nicht festgestellt werden.

1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr der bP in ihr Herkunftsland

Im Falle einer Verbringung der bP in ihren Herkunftsstaat ist es wahrscheinlich, dass diese aufgrund einer Kumulation ihrer Eigenschaften (Hazara, junger Erwachsener, nur Farsi sprechend) bzw Denk- und Verhaltensweise (den Islam sowohl ihn seiner sunnitischen als auch schiitschen Ausprägung und überhaupt jede Religion ablehnend, modern denkend, moderne Interessen, nach selbstbestimmtem Leben trachtend), ihrer Vergangenheit (Afghanistan im Alter von einem Jahr verlassen; nie in die afghanische Gesellschaft integriert; Herkunftsdistrikt: BAMYAN ländlich geprägt) sowohl in ihrer Herkunftsprovinz als auch in den Großstädten wie HERAT, KABUL oder MAZAR-E SHARIF psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.

Insbesondere aufgrund ihrer Ablehnung des Islam könnte sie auch nicht auf allenfalls vorhandene traditionelle Unterstützungsnetzwerke durch Mitglieder ihrer ethnische Gruppe in den angeführten Städten zurückgreifen, sondern würde ihr als einem von Islam abgefallenen Muslim mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohen, sondern sogar der Tod.

Der afghanische Staat ist diesbezüglich weder schutzfähig noch schutzwillig. Für Apostasie, in der klassischen Scharia als "Weggehen vom Islam" verstanden, droht Männern die Todesstrafe und ist der Islam Staatsreligion in Afghanistan (vgl Art 2 der Verfassung und die unten angeführten Länderinformationen).

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat

(Hervorhebungen und Kürzungen durch BVwG)

1.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017 (zuletzt aktualisiert am 21.12.2017):

"KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan – Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil – der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).

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Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen – in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).

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Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen – in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).

[ ]

Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).

Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt – hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).

Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen – hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).

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Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Taliban

Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen – was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):

Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen – in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen – dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich – laut afghanischen Beamten – ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).

Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar – in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriff auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).

Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).

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14. Todesstrafe

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen. Es gibt ein Präsidialdekret aus dem Jahre 1992, welches die Anwendung der Todesstrafe auf fünf Deliktarten einschränkt: (vorsätzlicher) Mord, Genozid, Sprengstoffattentate (i.V.m. Mord), Straßenräuberei (i.V.m. Mord) und Angriffe gegen die territoriale Integrität Afghanistans. Dieses Präsidialdekret wurde allerdings in jüngster Zeit nicht beachtet. Unter dem Einfluss der Scharia droht die Todesstrafe auch bei anderen "Delikten" (z.B. Blasphemie, Apostasie). Die Entscheidung über die Todesstrafe wird vom Obersten Gericht getroffen bzw. bestätigt und kann nur mit Zustimmung des Präsidenten vollstreckt werden. Die Todesstrafe wird durch Erhängen vollstreckt. In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig wahrgenommenen Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können (AA 9.2016).

Im Jahr 2015 wurde die Todesstrafe weiterhin verhängt - oft nach unfairen Verfahren. Die von Präsident Ghani im Jahr 2014 angeordnete Überprüfung von fast 400 noch nicht vollstreckten Todesurteilen war Ende 2015 noch nicht abgeschlossen (AI 24.2.2016).

Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hatte und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die eine Umwandlung von Todesstrafen in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, werden weiter Todesurteile vollstreckt. Im Mai 2016 fand die Hinrichtung von sechs verurteilten Terroristen statt. Die Vollstreckung der bereits rechtskräftigen Todesurteile war Teil einer von Präsident Ghani angekündigten härteren Politik im Kampf gegen Aufständische und folgte als Reaktion auf öffentliche Vergeltungsrufe nach einem schweren Taliban-Anschlag. Zuvor wurden 2014 und 2012 sechs bzw. 16 Todesstrafen verurteilter Straftäter vollstreckt (AA 9.2016).

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15. Religionsfreiheit

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7-89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10–19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:

CSR 8.11.2016).

Im Strafgesetzbuch gibt es keine Definition für Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, für Frauen lebenslange Haft, sofern sie die Apostasie nicht bereuen. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte - dennoch hatten Individuen, die vom Islam konvertierten, Angst vor Konsequenzen. Christen berichteten, dass sie aus Furcht vor Vergeltung, Situationen vermieden, in denen es gegenüber der Regierung so aussehe, als ob sie missionieren würden (USDOS 10.8.2016).

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Nicht-muslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die sunnitische-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Religion (AA 9.2016). Für die religiöse Minderheit der Schiiten gilt in Personenstandsfragen das schiitische Recht (USDOS 10.8.2016).

Militante Gruppen haben sich unter anderem als Teil eines größeren zivilen Konfliktes gegen Moschen und Gelehrte gerichtet. Konservative soziale Einstellungen, Intoleranz und das Unvermögen oder die Widerwilligkeit von Polizeibeamten individuelle Freiheiten zu verteidigen bedeuten, dass jene, die religiöse und soziale Normen brechen, anfällig für Misshandlung sind (FH 27.1.2016).

Blasphemie – welche anti-islamische Schriften oder Ansprachen beinhaltet, ist ein Kapitalverbrechen im Rahmen der gerichtlichen Interpretation des islamischen Rechtes. Ähnlich wie bei Apostasie, gibt das Gericht Blasphemisten drei Tage um ihr Vorhaben zu widerrufen oder sie sind dem Tod ausgesetzt (CRS 8.11.2016).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin der zwei anderen abrahamitischen Religionen, Christentum und Judentum, ist. Einer Muslima ist nicht erlaubt einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht- muslimischen Glauben deklariert (USDOS 10.8.2016).

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Schiiten

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10-19% geschätzt (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die ethnischen

Hazara (USDOS 10.8.2016). Die meisten Hazara Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer- Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan sind einige schiitische Belutschen (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten (Ulema), als auch im Hohen Friedensrat sind Schiiten vertreten; beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe (AA 9.2016). Afghanische Schiiten und Hazara sind dazu geneigt weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein, als ihre religiösen Brüder im Iran (CRS 8.11.2016).

Die Situation der afghanisch schiitisch-muslimischen Gemeinde hat sich seit dem Ende des Taliban-Regimes wesentlich gebessert (USCIRF 30.4.2015). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung gegen die schiitische Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch gab es Berichte zu lokalen Vorfällen (USDOS 10.8.2016).

Ethnische Hazara sind gesellschaftlicher Diskriminierungen ausgesetzt (USDOS 13.4.2016). Informationen eines Vertreters einer internationalen Organisation mit Sitz in Kabul zufolge, sind Hazara, entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung, keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt (Vertrauliche Quelle 29.9.2015).

Afghanischen Schiiten ist es möglich ihre Feste öffentlich zu feiern - manche Paschtunen sind über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert (CRS 8.11.2016). Im November 2016, hat ein Kämpfer der IS-Terrormiliz, während einer religiösen Zeremonie in der Bakir-al-Olum-Moschee - einer schiitischen Moschee in Kabul - am schiitischen Feiertag Arbain, einen Sprengstoffanschlag verübt (Tolonews 22.11.2016; vgl. auch: FAZ 21.11.2016). Bei diesem Selbstmordanschlag sind mindestens 32 Menschen getötet und 80 weitere verletzt worden (Khaama Press 22.11.2016). In Kabul sind die meisten Moscheen trotz Anschlagsgefahr nicht besonders geschützt (FAZ 21.11.2016). Am 23. Juli 2016 wurde beim schwersten Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte die zweite Großdemonstration der Enlightenment-Bewegung durch den ISKP angegriffen. Es dabei starben über 85 Menschen, rund 240 wurden verletzt. Dieser Schlag richtete sich fast ausschließlich gegen Schiiten (AA 9.2016).

Einige Schiiten bekleiden höhere Ämter (CRS 8.11.2016); sowie andere Regierungsposten. Schiiten verlautbarten, dass die Verteilung von Posten in der Regierung die Demographie des Landes nicht adäquat berücksichtigte. Das Gesetz schränkt sie bei der Beteiligung am öffentlichen Leben nicht ein – dennoch verlautbarten Schiiten - dass die Regierung die Sicherheit in den Gebieten, in denen die Schiiten die Mehrheit stellten, vernachlässigte. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen, während die Ismailiten hauptsächlich in Kabul, den zentralen und nördlichen Provinzen leben (USDOS 10.8.2016).

Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Manche Mitglieder der ismailitischen Gemeinde beschweren sich über Ausgrenzung von Position von politischen Autoritäten (USDOS 10.8.2015).

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Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. (CRS 12.1.2015). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (az?raj?t) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten. Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert (AA 9.2016); sie haben sich ökonomisch und politisch durch Bildung verbessert (CRS 12.1.2015). In der öffentlichen Verwaltung sind sie jedoch nach wie vor unterrepräsentiert. Unklar ist, ob dies Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums ist (AA 9.2016). In der Vergangenheit wurden die Hazara von den Pashtunen verachtet, da diese dazu tendierten, die Hazara als Hausangestellte oder für andere niedere Arbeiten einzustellen. Berichten zufolge schließen viele Hazara, auch Frauen, Studien ab oder schlagen den Weg in eine Ausbildung in Informationstechnologie, Medizin oder anderen Bereichen ein, die in den unterschiedlichen Sektoren der afghanischen Wirtschaft besonders gut bezahlt werden (CRS 12.1.2015).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). Im Jahr 2015 kam es zu mehreren Entführungen von Angehörigen der Hazara (AA 9.2016; vgl. auch: UDOS 13.4.2016; NYT 21.11.2015; World Hazara Council 10.11.2016; RFE/RL 25.2.2016). Im Jahr

2016 registrierte die UNAMA einen Rückgang von Entführungen von Hazara. Im Jahr 2016 dokumentierte die UNAMA 15 Vorfälle in denen 82 Hazara entführt wurden. Im Jahr 2015 wurden 25 Vorfälle von 224 entführten Hazara dokumentiert. Die Entführungen fanden in den Provinzen Uruzgan, Sar-e Pul, Daikundi, Maidan Wardak und Ghor statt (UNAMA 6.2.2017). Im Juli 2016 sprengten sich mehrere Selbstmordattentäter bei einem großen Protest der Hazara in die Luft, dabei wurden mindestens 80 getötet und 250 verletzt; mit dem IS verbundene Gruppen bekannten sich zu dem Attentat (HRW 12.1.2017).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Brookings 31.10.2016).

Ausführliche Informationen zu den Hazara, können dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden.

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Bamyan liegt im Süden des Hindu Kush und im Norden der Baba-Berge. Die Provinz hat folgende administrative Einheiten, zu denen auch die Provinzhauptstadt Bamyan City zählt: Yakawlang, Waras, Shaibar, Sayghan, Kahmard und Panjab (Pajhwok o.D.ad).

Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 454.633 geschätzt (CSO 2016). Der Großteil der Bevölkerung sind Hazara 70%, Tadschiken machen 20% und Pashtunen 5% aus (Pajhwok o.D.ad; vgl. auch: auch:

Xinhua 12.12.2016). Etwa 90% der Bevölkerung fühlen sich dem schiitischen Islam zugehörig (Pajhwok o.D.ad).

Im Zeitraum 1.9.2015 – 31.5.2016 wurden in der Provinz Bamyan 33 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

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Die zentral gelegene Provinz Bamyan - mit ihrer friedlichen Umgebung, historischen Denkmälern und wunderschönen Landschaft - wird als eine der friedlichsten und sichersten Orte in Afghanistan geschätzt. Im Gegensatz zu anderen Teilen des Landes, wird selten von sicherheitsrelevanten Vorfällen in Bamyan berichtet (Xinhua 12.12.2016; DW 4.8.2016). Nur in einer Handvoll der 34 Provinzen Afghanistans (wie Balkh, Bamyan, Ghor, Daikundi, Jawzjan und Samangan) stellen die Taliban keine große Bedrohung dar. Die fehlende Mehrheit der Paschtunen erklärt die relative Stabilität dieser Provinzen (Lobe Log Foreign Policy 14.9.2016).

Die Provinz Bamyan wird hauptsächlich mit Kartoffeln in Verbindung gebracht. Im Jahr 2015 produzierte die Provinz fast 350.000 Tonnen Kartoffeln – etwa 60% des gesamten Verbrauchs Afghanistans (NYT 31.8.2016).

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1.4.2. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016:

""[ ] Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit dem fortwährenden bewaffneten Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen oder aufgrund einer Kombination beider Gründe. UNHCR ist der Auffassung, dass in Bezug auf Personen mit den folgenden Profilen eine besonders sorgfältige Prüfung der möglichen Risiken notwendig ist:

(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;

(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;

(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung;

(4) Zivilisten, die verdächtigt werden, regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) zu unterstützen;

(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen;

(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen;

(7) Frauen mit spezifischen Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben;

(8) Frauen und Männer, die vermeintlich gegen soziale Sitten verstoßen;

(9) Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung oder Personen mit psychischer Erkrankung;

(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder Kinder, die unter bestimmten Bedingungen leben;

(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;

(12) Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten;

(13) Angehörige ethnischer (Minderheiten-)Gruppen;

(14) An Blutfehden beteiligte Personen;

(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen (sowie deren Familienangehörige).

Die Aufzählung ist nicht notwendigerweise abschließend und beruht auf Informationen, die UNHCR zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Richtlinien vorlagen.

[...] Bei der Prüfung der Relevanz einer internen Schutzalternative für afghanische Antragsteller müssen die folgenden Aspekte erwogen werden:

(i) Der instabile, wenig vorhersehbare Charakter des bewaffneten Konflikts in Afghanistan hinsichtlich der Schwierigkeit, potenzielle Neuansiedlungsgebiete zu identifizieren, die dauerhaft sicher sind, und

(ii) die konkreten Aussichten auf einen sicheren Zugang zum vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet unter Berücksichtigung von Risiken im Zusammenhang mit dem landesweit verbreiteten Einsatz von improvisierten Sprengkörpern und Landminen, Angriffen und Kämpfen auf Straßen und von regierungsfeindlichen Kräften auferlegte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Zivilisten.

[...] Im Lichte der verfügbaren Informationen über schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte [...] in von ihnen kontrollierten Gebieten sowie der Unfähigkeit des Staates, für Schutz gegen derartige Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist nach Ansicht von UNHCR eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter tatsächlicher Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte [...] befinden, nicht gegeben; es sei denn in Ausnahmefällen, in denen Antragsteller über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte [...] im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen. UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten unabhängig davon, von wem die Verfolgung ausgeht, nicht gegeben ist.

[...] Ob eine interne Schutzalternative zumutbar ist, muss anhand einer Einzelfallprüfung unter vollständiger Berücksichtigung der Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet zum Zeitpunkt der Entscheidung festgestellt werden. Insbesondere stellen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtssituation von Afghanen, die derzeit innerhalb des Landes vertrieben wurden, relevante Erwägungen dar, die bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen internen Schutzalternative berücksichtigt werden müssen. UNHCR ist der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn der Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu (iii) Erwerbsmöglichkeiten gegeben ist. Ferner ist UNHCR der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar sein kann, wenn betroffene Personen Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet haben und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen.

Die einzigen Ausnahmen von dieser Anforderung der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen. Angesichts des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Gefüges der Gesellschaft aufgrund jahrzehntelang währender Kriege, der massiven Flüchtlingsströme und der internen Vertreibung ist gleichwohl eine einzelfallbezogene Analyse notwendig. [...]"

1.4.3. Auszug aus den Anmerkungen von UNHCR von Dezember 2016 zur Situation in Afghanistan (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"[ ]

Mit Blick auf eine regionale Differenzierung der Betrachtung der Situation in Afghanistan möchte UNHCR anmerken, dass UNHCR aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage bei der Feststellung internationalen Schutzbedarfes selbst keine Unterscheidung von ‚sicheren' und ‚unsicheren' Gebieten vornimmt. Für jede Entscheidung über den internationalen Schutzbedarf von Antragstellern aus Afghanistan ist es vor allem erforderlich, die Bedrohung unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls zu bewerten. Die Differenzierung ist also in erster Linie eine individuelle, welche die den Einzelfall betreffenden regionalen und lokalen Gegebenheiten berücksichtigt.

Dasselbe gilt auch hinsichtlich der Feststellung einer internen Schutzalternative. Ein pauschalierender Ansatz, der bestimmte Regionen hinsichtlich der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, wie sie für den Flüchtlingsschutz oder den subsidiären Schutz relevant sind, als sichere und zumutbare interne Schutzalternative ansieht, ist nach Auffassung von UNHCR vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Afghanistan nicht möglich. Vielmehr ist stets eine sorgfältige Einzelfallprüfung erforderlich.

UNHCR möchte des Weiteren betonen, dass die Situation in Afghanistan volatil ist. Vor diesem Hintergrund ist zu unterstreichen, dass die Bewertung des Schutzbedarfs stets aufgrund aller zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren, neuesten Erkenntnisse erfolgen muss. Bei einem bereits länger zurückliegenden negativen Abschluss eines Asylverfahrens wird somit häufig Anlass bestehen, aufgrund der Veränderung der Faktenlage eine neue Ermittlung des Schutzbedarfs vorzunehmen.

[...]

Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit einer Neuansiedlung wird in den UNHCR-Richtlinien betont, dass den Antragsteller keine ‚unzumutbaren Härten' treffen sollten, was die Sicherheit, die Achtung der Menschenrechte und die Möglichkeiten für das wirtschaftliche Überleben unter menschenwürdigen Bedingungen im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet anbelangt. Dazu sollten Punkte, wie beispielsweise Zugang zu einer Unterkunft, die Verfügbarkeit grundlegender Infrastruktur und Zugang zu grundlegender Versorgung wie Trinkwasser, sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung sorgfältig geprüft werden. Es bedeutet auch, nicht von interner Vertreibung bedroht zu sein.

[...]

Die Zahl der Selbstmordanschläge in Kabul hat im Laufe des Jahres zugenommen. Sie sind außerdem komplexer geworden und führen zu einer höheren Zahl an Todesopfern als die sporadischen Zusammenstöße in anderen Teilen des Landes.[...]

Außerdem ist Kabul massiv vom starken Anstieg der Zahl der Rückkehrer aus Pakistan betroffen, mit fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und einem ähnlichen Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan, die sich in den überfüllten informellen Siedlungen in Kabul niedergelassen haben. Angesichts des ausführlich dokumentierten Rückgangs der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 ist die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, äußerst eingeschränkt.

[....]

Die Wohnraumsituation sowie der Dienstleistungsbereich in Kabul sind aufgrund der seit Jahren andauernden Primär- und Sekundärfluchtbewegungen im Land, die in Verbindung mit einer natürlichen (nicht konfliktbedingten) Landflucht und Urbanisierung zu Massenbewegungen in Richtung der Stadt geführt hat, extrem angespannt. Im Jahr 2016 wurde die Situation durch den Umstand, dass mehr als 25 Prozent der Gesamtzahl der aus Pakistan zurückgekehrten Afghanen nach Kabul gezogen ist, weiter erschwert. Diese Umstände haben unmittelbare Auswirkungen auf die Prüfung, ob Kabul als interne Schutzalternative vorgeschlagen werden kann, insbesondere mit Blick auf eine Analyse der Zumutbarkeit. Die in den UNHCR-Richtlinien vom April 2016 dargestellten Erwägungen bleiben für die Bewertung des Vorhandenseins einer internen Schutzalternative in Kabul bestehen. Die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Umfeld eines dramatisch verschärften Wettbewerbs um den Zugang zu knappen Ressourcen muss unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Antragstellers von Fall zu Fall geprüft werden.

[...]"

1.4.4. In einem Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann (M.A. in Religionswissenschaft, MA International and Comparative Legal Studies, Mitglied der International Max Planck Research School on Retaliation Mediation und Punishment, u.a. Gutachterin für britische Gerichte zu Afghanistan in Asylrechtsfällen) werden zusammengefasst im Wesentlichen folgende Aussagen getroffen:

"Die Wirtschaft ist in Afghanistan seit 2012 massiv eingebrochen. Gründe dafür sind der Abzug der internationalen Truppen, dem größten singulären Auftraggeber und Dienstleistungsempfänger. Die sich konstant verschlechternde Sicherheitslage und fehlende Rechtsstaatlichkeit reduzieren Investitionen durch private Akteure, aber auch durch Staaten und Organisationen im Rahmen internationaler Entwicklungshilfe, auf ein Minimum. Von den verfügbaren Mitteln zieht Korruption große Teile ab und befeuert so – statt den Wiederaufbau in Afghanistan zu unterstützen – den Krieg.

Binnenvertreibung und Landflucht

Insbesondere die Städte sind mit immenser Zuwanderung konfrontiert. Hauptgrund dafür sind akute Kampfhandlungen, die zudem zunehmend die Ausübung der Landwirtschaft verunmöglichen. Dazu kommen Naturkatastrophen, die laut UNOCHA in den letzten zehn Jahren jährlich durchschnittlich 235.000 Menschen betroffen haben. Die Zahl der intern Vertriebenen schätzt Amnesty International auf 1,2 Millionen, dazu allein 2016 über 600.000 kriegsbedingt Vertriebene (dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012).

Dazu kommen weiters all jene, die zwangsweise aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückkehren. Neben dem Iran schiebt nun auch Pakistan verstärkt Afghanen zurück, betroffen sind davon 1,6 Millionen bisher als Flüchtlinge akzeptierte und eine weitere Million illegal aufhältiger afghanischer Personen. Allein 2016 haben über eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückkehren müssen.

Die wenigsten ‚Rückkehrenden‘ (nämlich auch solche, die zuvor noch nie in Afghanistan waren) können in jene Orte zurückkehren, die ihre Familien häufig vor Jahrzehnten verlassen haben. Auch das Gesetz zur Zuweisung von Land an Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDPs) hat sich als ineffektiv erwiesen. Sich an einem fremden Ort niederzulassen, ist nur in extremen Ausnahmefällen möglich.

Die Mehrheit der Rückkehrenden hat daher keine andere Wahl, als in Städten Zuflucht zu nehmen. Die einzige größere Großstadt Kabul ist Hauptzielort der größten ‚Rückkehrbewegung‘ der Geschichte. Von 500.000 Einwohnern im Jahr 2001 ist sie auf geschätzte 5 bis 7 Millionen angewachsen, ohne dass der Aufbau der Infrastruktur auch nur annähernd damit hätte Schritt halten können. Eine Analyse von Amnesty International vom Mai 2016 belegt das Scheitern der Bemühungen, Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen in den Slums zu gewährleisten. Humanitäre Organisationen warnen, dass die humanitäre Katastrophe mit den derzeit verfügbaren Mitteln nicht abzuwenden sein werde.

Notwendigkeit sozialer Netzwerke

Unter den Rückkehrern, aber auch unter den Binnenvertriebenen, sind insbesondere jene akut in ihrem Überleben gefährdet, die keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke haben. Zugang zu Arbeit, Wohnraum und überlebenswichtigen Ressourcen in Afghanistan funktioniert in der Regel über bestehende Kontakte und klientelistische Netzwerke.

Arbeits- und Wohnungsmarkt

Angesichts fehlender sozialstaatlicher Sicherheiten stellt der Zugang zum Arbeitsmarkt die Grundbedingung für sozio-ökonomische Sicherung dar. Der allgemeine Niedergang der Wirtschaft trifft insbesondere die Stadtbevölkerung, die im Gegensatz zur Landbevölkerung keine Chance auf subsistenzbasierten Lebensunterhalt hat. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug 2016 82%. Arbeitsplätze sind nur über Beziehungen zu erlangen, Qualifikationen sind demgegenüber von geringer Bedeutung. Die Auswertung der Erfahrungen mit weitergehender Rückkehrförderung (berufliche Qualifizierung, Förderung eines eigenen Gewerbes) abgelehnter Asylsuchender durch Großbritannien hat ergeben, dass dies ohne unterstützende Netzwerke und lokalen Schutz keine nachhaltige Perspektive eröffnet. Die Alltagskriminalität nimmt zu. Privatwirtschaftliche Betriebe ohne soziale Netzwerke sind gerade in den Städten verstärkt kriminellen Banden ausgesetzt.

Fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt schränkt in der Konsequenz auch den Zugang zum Wohnungsmarkt ein. 2013/14 haben 73,8% der städtischen Bevölkerung in Slums gelebt. Die Miete für Wohnungen ist mit den durchschnittlichen afghanischen Löhnen offensichtlich nicht bezahlbar. Sofern überhaupt noch Wohnraum auf dem Markt verfügbar ist, haben in der Regel nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Man benötigt also sowohl soziale Netzwerke, als auch außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben.

Gesundheitsversorgung

UNOCHA warnt, dass die katastrophalen sanitären und hygienischen Bedingungen, der fehlende Zugang zu Trinkwasser und die Enge in den Slums die akute Gefahr der unkontrollierten Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen begründet. Die in den Städten verfügbare, jedoch weitgehend kommerzielle, medizinische Versorgung zwingt Betroffene häufig in die Verschuldung, welche die gesundheitlichen Gefahren von Unterernährung und Obdachlosigkeit nach sich zieht. Nicht nur für Kinder, Alte und Kranke, sondern auch für junge, gesunde Erwachsene sind diese Umstände lebensgefährlich. Krankenhäuser werden immer wieder Ziel von Anschlägen. So hat selbst das Internationale Rote Kreuz gerade beschlossen, seine Arbeit in Afghanistan vorläufig zu suspendieren.

Überleben aus eigener Kraft?

Die Annahme, dass zumindest alleinstehende junge gesunde Männer und kinderlose Paare ihr Überleben aus eigener Kraft sichern können, ist durch die derzeitige humanitäre Lage inzwischen jedoch grundlegend infrage gestellt. Das trifft besonders diejenigen, die aus langjährigem Exil zurückkehren oder dort sogar aufgewachsen sind, denn sie hatten auch keine Chance, alternative Unterstützungsnetzwerke aufzubauen oder die komplexen Regeln des alltäglichen Überlebens in Afghanistan zu lernen. Mit den Einmalzahlungen von UNHCR oder finanziellen Rückkehr- oder Wiedereingliederungshilfen im Zuge einer Abschiebung aus Europa wird eine nachhaltige Lösung oder Aussicht auf Arbeit oder Wohnraum damit aber für diejenigen nicht geschaffen, die sich nicht auf die Unterstützung eines vertrauenswürdigen, ökonomisch abgesicherten Netzwerks verlassen können.

Grenzen der Solidarität

Die islamischen Gebote von Gastfreundschaft, Asyl, Hilfe für Notleidende und der Schutz von Leben sind die Grundlagen für ein ausgefeiltes Solidarsystem, das regelt, wer wann in der Pflicht wäre, wem zu helfen. Dieses System hat in der Praxis jedoch weitgehend seine Relevanz, zumindest aber seine Verlässlichkeit verloren. Die landesweiten ökonomischen Schwierigkeiten schränken so auch den theoretischen Anspruch an Hilfe und Unterstützung durch entferntere Verwandte ein. In einer derart prekären wirtschaftlichen Situation wird auch entlang traditioneller sozialer Normen die Aufnahme weiterer Verwandten nicht erwartet. Eine Million Kinder unter fünf Jahren sind akut mangel- und unterernährt. Die Solidarnetze sind durch die bald vier Jahrze

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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