TE Bvwg Erkenntnis 2018/1/4 L521 2127054-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.01.2018
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Entscheidungsdatum

04.01.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L521 2127054-1/37E

L521 2127055-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.05.2016, Zl. 1059893110-150355146, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 13.01.2017 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz von Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides zu lauten hat: "Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt."

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.05.2016, Zl. 1059901005-150355111, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 13.01.2017 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz von Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides zu lauten hat: "Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt."

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

mit note 1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet, beide Beschwerdeführer sind Staatsangehörige des Irak und stellten im Gefolge ihrer unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 08.04.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.1. Der Erstbeschwerdeführer gab im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien am 09.04.2015 an, den im Spruch ersichtlichen Namen zu führen und am 22.11.1982 in Bagdad geboren worden zu sein. Zuletzt habe er in der Stadt XXXX gelebt, sei Angehöriger der arabischen Volksgruppe und Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung. Er habe im Irak die Grundschule, eine höhere Schule und die Universität besucht und zuletzt als Tischler gearbeitet.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak am 09.06.2014 gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin legal von Bagdad ausgehend mit dem Reisebus in die Türkei verlassen zu haben. In weiterer Folge sei er nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Kayseri schlepperunterstützt im Seeweg nach Griechenland gelangt und anschließend teilweise in Fahrzeugen und teilweise im Fußweg schlepperunterstützt nach Österreich verbracht worden.

Zu den Gründen seiner Ausreise aus dem Heimatland befragt, führte der Erstbeschwerdeführer aus, er habe im März 2014 ein Arbeitsangebot eines amerikanischen Unternehmens erhalten. Eine Woche später habe er einen Drohbrief an seiner Haustüre vorgefunden, die Arbeit aber dennoch angenommen. Daraufhin hätten Unbekannte mehrmals an seine Haustüre geklopft und er habe beschlossen, sich mit seiner Ehefrau zu seinen Schwiegereltern zu begeben. Auf dem Weg dorthin sei ihr Fahrzeug verfolgt und beschossen worden, woraufhin seine schwangere Frau frühzeitig Wehen bekommen habe. Im Spital habe nur mehr der Tod der ungeborenen Kinder festgestellt werden können.

2.2 Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Erstbeschwerdeführer am 31.03.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, im Beisein eines Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs bestätigte der Erstbeschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben.

Zur Person befragt führte der Erstbeschwerdeführer insbesondere aus, er habe im Betrieb seines Vaters den Beruf des Bautischlers sowie des Dachdeckers erlernt und könne auch Deckenschalungen anbringen. Im Irak habe er zuletzt als selbständiger Bautischler gearbeitet. Ferner habe er auf der al-Mustansiriyya-Universität ein Lehramtsstudium für Biologie absolviert. Im Irak habe er in der Stadt XXXX nördlich von Bagdad gelebt. Seine Eltern würden derzeit in Bagdad gemeinsam mit einem Bruder und einer Schwester im Bezirk

XXXX leben, ein weiterer Bruder sei verschollen, drei weitere Schwestern lebten in XXXX bzw. in Bagdad in den Bezirken XXXX sowie

XXXX .

Zu den Gründen für das Verlassen seines Heimatstaates befragt, gab der Erstbeschwerdeführer an, er habe am 01.03.2014 den Dienstausweise seines der "Firma Kafa’a" erhalten. Deshalb wäre ihm ein Drohbrief der Mahdi-Miliz zugegangen, den er jedoch zerrissen habe. In diesem Schreiben sei er als Verräter und Kollaborateur beschimpft und aufgefordert worden, sein Haus innerhalb von 24 Stunden zu verlassen, widrigenfalls er getötet werde. Am nächsten Tag hätten Personen in seiner Abwesenheit an die Türe seines Hauses geklopft und seinen Namen gerufen. Nach seiner Rückkehr habe er gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Zweitbeschwerdeführerin, zusammengepackt. Während der Fahrt sei das Fahrzeug von einem anderen Fahrzeug verfolgt und daraus beschossen worden, sodass die Fruchtblase seiner schwangeren Ehefrau geplatzt und wären die ungeborenen Zwillinge infolge des situationsbedingten Stresses verstorben.

Auf Nachfrage legte der Erstbeschwerdeführer dar, die "Firma Kafa’a" sei ein amerikanisches Bauunternehmen, welches staatliche Aufträge erhalten habe. Bis zur Ausreise habe er sich im Haus seiner Schwiegereltern aufgehalten und es hätten sich keine weiteren Vorfälle ereignet.

2.3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.05.201 wurde der Antrag des Erstbeschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Erstbeschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Erstbeschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Erstbeschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Erstbeschwerdeführer und den Feststellungen zu dessen Person aus, der seitens des Erstbeschwerdeführers vorgetragene Ausreisegrund werde nicht als glaubwürdig erachtet und habe der Erstbeschwerdeführer keine im Kontext der Genfer Flüchtlingskonvention maßgeblichen Fluchtgründe glaubhaft machen können. Im Rückkehrfall verfüge der Erstbeschwerdeführer über familiäre Anknüpfungspunkte und es bestünden keine Anhaltspunkte für eine drohende unmenschliche Behandlung oder Strafe oder anderweitige Sanktionen.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, der Erstbeschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem Erstbeschwerdeführer sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak über Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem Erstbeschwerdeführer sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 zu erteilen.

3.1. Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien am 09.04.2015 an, den im Spruch ersichtlichen Namen zu führen und am 11.03.1987 in Bagdad geboren worden zu sein. Zuletzt habe sie gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer in der Stadt XXXX gelebt, sei Angehörige der arabischen Volksgruppe und Moslemin der sunnitischen Glaubensrichtung. Sie habe im Irak die Grundschule und eine höhere Schule besucht und zuletzt als Verkäuferin gearbeitet.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte die Zweitbeschwerdeführerin zusammengefasst vor, den Irak am 09.06.2014 gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer legal von Bagdad ausgehend mit dem Reisebus in die Türkei verlassen zu haben. In weiterer Folge sei sie nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Kayseri schlepperunterstützt im Seeweg nach Griechenland gelangt und anschließend teilweise in Fahrzeugen und teilweise im Fußweg schlepperunterstützt nach Österreich verbracht worden.

Zu den Gründen ihrer Ausreise aus dem Heimatland befragt, führte die Zweitbeschwerdeführerin aus, ihr Ehemann habe Schwierigkeiten aufgrund der Annahme eines Arbeitsangebotes eines amerikanischen Unternehmens gehabt. Auf dem Weg zu ihren Eltern hätten unbekannte Personen ihr Fahrzeug beschossen, sodass die Heckscheibe zerbrochen sei. Als sie einen Polizeistützpunkt erreicht hätten, hätten die Verfolger von ihnen abgelassen. Sie habe infolge der Ereignisse ihre ungeborenen Kinder verloren und leide seither an psychischen Problemen.

3.2 Nach Zulassung des Verfahrens wurde die Zweitbeschwerdeführerin am 31.03.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, im Beisein eines Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs bestätigte die Zweitbeschwerdeführerin, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben.

Zur Person befragt führte die Zweitbeschwerdeführerin insbesondere aus, sie habe im Irak das Bakkalaureatsstudium der arabischen Sprache abgeschlossen und zuletzt in der Verwaltung eines türkischen Unternehmens im Irak gearbeitet, welches Nahrungsmittel in den Irak importiert habe. Im Irak habe sie in der Stadt XXXX nördlich von Bagdad gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Erstbeschwerdeführer, gelebt. Ihre Eltern würden derzeit ebenso wie ihre zwei Brüder und zwei Schwestern in Bagdad im Bezirk XXXX leben.

Zu den Gründen für das Verlassen seines Heimatstaates befragt, gab die Zweitbeschwerdeführerin an, ihr Ehemann, der Erstbeschwerdeführer, sei persönlich bedroht worden und habe sich die Drohung auch gegen sie gerichtet. Etwa am 15.03.2014 habe sie gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer das gemeinsame Haus verlassen, nachdem ein Drohbrief unter der Türe durchgeschoben worden sei. In diesem Brief sei eine Frist von einem Tag zum Verlassen des Hauses eingeräumt worden. Am frühen Nachmittag wären sie losgefahren und dann beschossen worden.

3.3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.05.201 wurde der Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Zweitbeschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Zweitbeschwerdeführerin in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Zweitbeschwerdeführerin zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu ihrer Person aus, der seitens des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vorgetragene Ausreisegrund werde nicht als glaubwürdig erachtet und habe die Zweitbeschwerdeführerin keine im Kontext der Genfer Flüchtlingskonvention maßgeblichen weiteren Fluchtgründe glaubhaft machen können. Im Rückkehrfall verfüge die Zweitbeschwerdeführerin über familiäre Anknüpfungspunkte und es bestünden keine Anhaltspunkte für eine drohende unmenschliche Behandlung oder Strafe oder anderweitige Sanktionen.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, die Zweitbeschwerdeführerin habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. der Zweitbeschwerdeführerin sei der Status einer subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak über Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Der Zweitbeschwerdeführerin sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 zu erteilen.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 09.05.2017 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

5. Gegen die vorstehend angeführten, den Beschwerdeführern am 11.05.2016 durch Hinterlegung zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege ihrer seinerzeitigen rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachte gemeinsame Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und den Beschwerdeführern dem Status von Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und die Rückkehrentscheidung aufzuheben. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt, die Feststellung der Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw. der Unzulässigkeit der Abschiebung begehrt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt. Darüber hinaus begehren die Beschwerdeführer, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren, einen landeskundigen Sachverständigen zu beauftragen, der sich mit der aktuellen Lage im Irak befassen solle, ferner wird beantragt, das Bundesverwaltungsgericht solle "recherchieren, ob die Fluchtgründe der Beschwerdeführer der Wahrheit entsprechen, insbesondere die vorgelegten Beweismittel und ihre Angaben im Irak zu untersuchen".

In der Sache bringen die Beschwerdeführer nach Wiederholung der bereits im Verfahren erster Instanz geschilderten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt hätte aufgetretene Widersprüche zwischen den Angaben bei der Erstbefragung und der folgenden Einvernahme nicht verwerten dürfen. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides erschöpfe sich in Mutmaßungen des belangten Bundesamtes und es wären erforderliche Ermittlungen zum Vorbringen des Erstbeschwerdeführers rechtsirrig unterlassen worden.

6. Die Beschwerdevorlagen langten am 01.06.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssachen wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

7. Mit Schriftsatz vom 03.10.2016 brachte der nunmehrige rechtsfreundliche Vertreter der Beschwerdeführer Urkunden in Vorlage.

8. Am 13.01.2017 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der Beschwerdeführer sowie einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde den Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert, welche den Beschwerdeführer ausgefolgt und eine Stellungnahme hiezu freigestellt wurde. Seitens des Beschwerdeführers wurden Urkunden betreffend ihre Integration in Österreich sowie zahlreiche Lichtbilder betreffend ihre Lage im Irak in Vorlage gebracht, ferner wurden drei Schreiben von Familienmitgliedern in arabischer Sprache in Vorlage gebracht, die vom Bundesverwaltungsgericht im Anschluss an die Verhandlung einer Übersetzung zugeführt wurden.

9. Mit Schriftsatz 07.02.2017 nahmen die Beschwerdeführer zu den ihnen ausgefolgten herkunftsstaatsbezogenen Dokumenten Stellung, mit weiteren Schriftsätzen vom 22.03.2017 und vom 26.04.2017 brachte der rechtsfreundliche Vertreter der Beschwerdeführer neuerlich Urkunden in Vorlage.

10. XXXX

11. Mit Schriftsatz vom 19.06.2017 brachte der rechtsfreundliche Vertreter der Beschwerdeführer neuerlich Urkunden in Vorlage.

12. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.06.2017 wurde Primar Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Arzt zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung von Befund und Gutachten zum Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin betreffend den Tod ihrer ungeborenen Kinder beauftragt. Das Gutachten langte am 02.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

13. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte den Beschwerdeführern mit Note vom 08.08.2017 die in ihrer Angelegenheit eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.07.2017 zur Stellungnahme. Am 25.08.2017 langte die diesbezügliche Stellungnahme der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurden infolgedessen seitens des Bundesverwaltungsgerichtes weitere Ermittlungen der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl beauftragt.

14. Mit Not des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.10.2017 wurde den Beschwerdeführern das Gutachten des Sachverständigen Primar Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Arzt sowie aktualisierte länderkundliche Informationen zur Lage im Irak zur Stellungnahme übermittelt. Die diesbezügliche Äußerung langte am 27.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

15. Am 04.12.2017 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht schließlich den Beschwerdeführern die eingeholte weitere Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2017 samt einer weiteren Anfragebeantwortung von ACCORD vom 30.10.2017 zur Stellungnahme. Am 18.12.2017 langte die diesbezügliche Stellungnahme der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Er wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort zuletzt in der Stadt XXXX nördlich von Bagdad in einem im Eigentum stehenden Haus. Der Erstbeschwerdeführer ist Moslem und stammt aus einer sunnitischen Familie, er selbst bekennt sich zu keiner bestimmten Glaubensrichtung des Islam. Er ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet, gesund und steht – von der Einnahme von Medikamenten aufgrund einer Sportverletzung des Knies – nicht in medizinischer Behandlung.

Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Bagdad zwölf Jahre die Grundschule und eine allgemeinbildende höhere Schule, an welcher er die Matura erfolgreich ablegte. Nach Erlangung der Matura im Jahr 2003 absolvierte der Erstbeschwerdeführer auf der al-Mustansiriyya-Universität ein Lehramtsstudium für Biologie, welches er am 30.06.2012 erfolgreich abschloss. Im Betrieb seines Vaters, wo er mitarbeitete, erlernte er ferner den Beruf des Spenglers. Da der Beschwerdeführer keine Arbeit als Lehrer fand, machte er sich in seinem erlernten Beruf als Spengler und als Bauunternehmer selbständig und war bis zuletzt dermaßen sowie als Makler beruflich tätig.

Die Eltern des Erstbeschwerdeführers leben derzeit in Bagdad gemeinsam mit einem Bruder und einer Schwester im Bezirk XXXX , ein weiterer Bruder des Erstbeschwerdeführers ist verschollen, drei weitere Schwestern lebten in XXXX bzw. in Bagdad in den Bezirken XXXX sowie XXXX , zwei weitere Brüder des Erstbeschwerdeführers leben im Bezirk XXXX . Der Vater des Erstbeschwerdeführers war als Bauunternehmer beruflich tätig und ist nunmehr im Ruhestand. Das Unternehmen wurde von den Brüdern des Erstbeschwerdeführers weitergeführt. Der Erstbeschwerdeführer steht in Kontakt mit seinen Familienangehörigen.

Am 09.06.2014 verließ der Erstbeschwerdeführer gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin den Irak legal von Bagdad ausgehend mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 08.04.2015 nach Betretung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , ist Staatsangehörige des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Sie wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort zuletzt in der Stadt XXXX nördlich von Bagdad in einem im Eigentum ihres Ehemannes stehenden Haus. Die Zweitbeschwerdeführerin ist Moslemin und stammt aus einer sunnitischen Familie, sie selbst bekennt sich zu keiner bestimmten Glaubensrichtung des Islam. Sie ist mit dem Erstbeschwerdeführer verheiratet und von einem verminderten Lungenvolumen abgesehen physisch gesund. Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an einer schweren depressiven Episode und einer posttraumatischen Belastungsstörung, von ihr geht keine Fremdgefährdung aus und sie ist von suizidalen Handlungen klar distanziert. Die Einnahme eines selektiven Serotoninaufnahmehemmers (Adjuvin 50 mg) und eines Neuroleptikas (Quetialan 25 mg) wurde der Zweitbeschwerdeführerin empfohlen. Medikamente mit den Wirkstoffen Sertralin und Quetiapin sind in Bagdad erhältlich, ebenso ist psychiatrische Behandlung in Krankenanstalten (Ibn Rushd Psychiatry & Addiction Hospital) oder bei niedergelassenen Ärzten verfügbar.

Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte in Bagdad zwölf Jahre die Grundschule und eine allgemeinbildende höhere Schule, an welcher sie die Matura erfolgreich ablegte. Nach Erlangung der Matura absolvierte die Zweitbeschwerdeführerin das Universitätsstudium der Arabistik. Sie war zuletzt in der Verwaltung eines türkischen Unternehmens beruflich tätig, welches Nahrungsmittel in den Irak importiert.

Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin sowie zwei Brüder und drei Schwestern leben derzeit in Bagdad im Bezirk XXXX in einem Haus. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin ist in Pension, ihre Mutter ist im März 2017 verstorben. Die Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin sind als Lehrerin für bildnerische Erziehung sowie im Irakischen Justizministerium und im irakischen Telekommunikationsministerium beruflich tätig. Ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin ist Oberst bei den irakischen Streitkräften, ein weiterer Bruder ist Sportlehrer. Die Zweitbeschwerdeführerin steht in Kontakt mit ihren Familienangehörigen, die Familie der Zweitbeschwerdeführerin ist wohlhabend.

Am 09.06.2014 verließ die Zweitbeschwerdeführerin gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer den Irak legal von Bagdad ausgehend mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo sie am 08.04.2015 nach Betretung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Die Beschwerdeführer gehörten keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatten in ihrem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder ihres Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer vor seiner Ausreise ein Dienstverhältnis mit der Al Kafa’ah Company oder der Unaoil Monaco SAM oder einem mit diesen Unternehmen verbundenen Unternehmen einging. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise Drohungen und/oder Übergriffen seitens schiitischer Milizen aufgrund einer tatsächlichen oder dem Erstbeschwerdeführer nur unterstellten beruflichen Tätigkeit für ein ausländliches Unternehmen im Irak ausgesetzt war.

Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

1.3. Den Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der Beschwerdeführer festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschlichen Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Die Beschwerdeführer sind gesunde und arbeitsfähige Menschen mit hervorragender Ausbildung in der Schule sowie an der Universität und sowie mit Berufserfahrung im Herkunftsstaat. Die Beschwerdeführer verfügen über eine gesicherte Existenzgrundlage in ihrem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und – insbesondere in Anbetracht der wohlhabenden finanziellen Ausstattung ihrer Familien – eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft. Den Beschwerdeführern ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Die Beschwerdeführer verfügen über irakische Ausweisdokumente im Original (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis).

1.4. Die Beschwerdeführer halten sich seit dem 07.04.2015 in Österreich auf. Sie reisten rechtswidrig in Österreich ein und stellten nach Betretung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 08.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Beschwerdeführer sind seither Asylwerber und verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel. Sie sind strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer beziehen seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und waren zunächst in der Gemeinde XXXX untergebracht. Seit dem 09.12.2015 leben sie in einer privaten Unterkunft in der Gemeinde XXXX , wobei die Miete von der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber getragen wird. Ihre Unterkunftgeber sehen die Beschwerdeführer als gute Mitbewohner und Nachbarn an, zu denen sich eine Freundschaft auf verschiedenen Ebenen entwickelt habe. Die Beschwerdeführer helfen ihren Unterkunftsgebern in Haus und Garten und betreiben mit diesen gemeinsam Sport.

Die Beschwerdeführer sind für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig, sie verfügen über keine Verwandten im Bundesgebiet.

Die Beschwerdeführer sind nicht legal erwerbstätig. Sie unterhalten jedoch im Bundesgebiet mannigfache soziale Kontakte zu österreichischen Staatsangehörigen und haben zahlreiche Aktivitäten zur ihrer Integration im Bundesgebiet gesetzt. Der Erstbeschwerdeführer engagiert sich etwa ehrenamtlich beim Roten Kreuz in der Bezirksstelle Neulengbach, arbeitet bei der Team-Österreich-Tafel mit, fungiert als Blutspender und hat einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Der Bezirksstellenleiter attestiert ihm Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein. Der Erstbeschwerdeführer beteiligt sich ferner an einem integrativen Buchprojekt.

Der Erstbeschwerdeführer hat am sechsmonatigen Kurs "Integrativ" im Ausmaß von 20 Wochenstunden teilgenommen und im Rahmen dieses Kurses am 30.03.2017 eine Prüfung über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau B1 abgelegt. Er unterstützt andere Asylwerber mit Übersetzungsdienstleistungen.

Die Zweitbeschwerdeführerin beschäftigt sich autodidaktisch mit Kunst und ist im Bundesgebiet künstlerisch tätig. Sie ist Mitglied im Turnverein XXXX und engagiert sich im Eltern-Kind-Zentrum Neulegbach ehrenamtlich. Die Zweibeschwerdeführerin hat am die 03.03.2016 die Prüfung über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau A2 abgelegt.

Der Erstbeschwerdeführer hat am 19.01.2017 einen Vorvertrag mit der XXXX über eine unbefristete Tätigkeit als Vertriebsmitarbeiter zu einem Nettoentgelt vom EUR 1.748,65 abgeschlossen. Die Zweitbeschwerdeführerin hat am 06.02.2017 einen Vorvertrag mit der XXXX über eine unbefristete Tätigkeit als Bürogehilfin zu einem Nettoentgelt vom EUR 721,48 abgeschlossen.

1.5. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida – durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017).

Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).

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(Al-Jazeera 27.9.2017)

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück (siehe hiezu die untenstehende Karte). Details dazu siehe Punkte

1.1. und 2.4.

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Sie haben sich vor und nach den Wahlen zu Bündnissen zusammengeschlossen (AA 7.2.2017).

Wahlen & Premierminister

Die letzten nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da‘wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).

Abadis Reformen sind bislang nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).

Schiitische Milizen, Rolle des Ex-Premierminister Maliki und Einfluss des Iran

Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da‘wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen – einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der schiitisch dominierte Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes vom November 2016, das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch Al-Hashd al-Shaabi) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreterkräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NY Times 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle. Unter anderem aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen – in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte und der Armee gleichgestellte Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein innerschiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen Auseinandersetzungen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch, eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die – trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren – außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Grünen Zone führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).

Der gemeinsame Gegner IS schweißte 2014 das Land und teilweise auch die Bevölkerung etwas zusammen, doch die Bruchlinien bleiben insbesondere mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS akut: Nicht nur zwischen Schiiten und Sunniten oder innerhalb der schiitischen Kräfte, sondern auch zwischen der KRI (Kurdische Region im Irak) und der Zentralregierung, innerhalb der kurdischen Gruppierungen sowie zwischen de facto allen Mehrheitsbevölkerungen und Religionen und den Minderheiten in ihrem Bereich. Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).

Quellen:

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AI - Amnesty International (28.5.2008): Jahresbericht 2008, , http://www.amnesty.de/jahresbericht/2008/irak, Zugriff 9.8.2017

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Al Arabiya (15.7.2014): Iraq parliament elects Salim Jabouri as speaker,

http://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2014/07/15/Iraq-parliament-elects-Salim-al-Juburi-as-speaker-TV.html, Zugriff am 9.5.2016

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Al Monitor (26.1.2017): Can public outcry in southern Iraq end Maliki’s political ambitions?,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/01/southern-iraq-muqtada-maliki-abadi-reform-shiite-protest.html, Zugriff 2.8.2017

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Al-Monitor (21.7.2017): If Iran has its way, Abadi won't see a second term in Iraq,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/07/iran-iraq-prime-minister-abadi-khamenei-pmu-shiite-militias.html, Zugriff 9.8.2017

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Al-Monitor (24.8.2017): Iraq's Hakim moves out of Iran's shadow, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/ammar-hakim-supreme-islamic-council-iraq-iran.html, Zugriff 28.8.2017

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BBC (12.7.2017): Iraq profile – timeline, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-14546763, Zugriff 4.8.2017

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BPB - Bundeszentrale für politische Bildung (9.11.2015):

Innerstaatliche Konflikte Irak, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54603/irak, Zugriff 9.8.2017

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Carnegie – Middle East Center (28.4.2017): The Popular Mobilization Forces and Iraq’s Future, http://carnegie-mec.org/2017/04/28/popular-mobilization-forces-and-iraq-s-future-pub-68810, Zugriff 21.7.2017

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Spiegel (18.4.2015): Secret Files Reveal the Structure of Islamic State,

http://www.spiegel.de/international/world/islamic-state-files-show-structure-of-islamist-terror-group-a-1029274.html, Zugriff 9.8.2017

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Euronews (27.4.2017): Jesiden und Kurden schlagen Alarm: Angst vor weiteren Luftschlägen der Türkei in Sinjar, http://de.euronews.com/2017/04/27/jesiden-und-kurden-schlagen-alarm-angst-vor-weiteren-luftschlaegen-der-tuerkei, Zugriff 10.8.2017

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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