TE Bvwg Erkenntnis 2018/1/10 W255 2166911-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.01.2018
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

10.01.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W255 2166911-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Ronald EPPEL, MA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2017, Zl. 1094869104/151776611, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.01.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste am 15.11.2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 15.11.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Dabei gab der BF im Wesentlichen an, afghanischer Staatsangehöriger und am XXXX in der Provinz XXXX, Distrikt XXXX, Dorf XXXX, geboren zu sein. Der BF habe Afghanistan vor einem Monat verlassen, da in Afghanistan Krieg durch die Taliban und die Daesh herrsche. Wenn man nach draußen gehe, sei es nicht sicher, ob man lebend zurückkehre. Es gebe genug, die kein Geld hätten und Leute entführen würden.

3. Am 03.05.2016 wurde der BF einer Untersuchung zwecks Feststellung seiner Minder- bzw. Volljährigkeit unterzogen. In seinem Gutachten kommt der vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) beauftragte Sachverständige zum Ergebnis, dass das spätest mögliche fiktive Geburtsdatum des BF XXXX laute.

4. Am 14.07.2017 wurde der BF vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, einvernommen. Dabei gab der BF an, dass er der Volksgruppe der Hazara angehöre und schiitischer Muslim sei. Der BF sei im achten Monat des Jahres 1377

XXXX in der Provinz XXXX, Distrikt XXXX, Dorf XXXX, geboren und dort aufgewachsen. Der BF sei mit acht Jahren eingeschult worden und habe sechs Schulstufen in XXXX durchlaufen. Der BF habe während der Schulzeit jeden Tag seinem Vater auf der Landwirtschaft geholfen und sich um sechs Schafe gekümmert. Sein Vater habe neben der Landwirtschaft für ein Jahr ein kleines Geschäft gemietet, dieses verkauft und im Jahr 2015 ein Taxi gekauft. Im Frühjahr 2015 sei der Vater des BF mit dem Taxi zwischen XXXX und XXXX gefahren und in der Gegend von XXXX von den Taliban getötet worden. Ein Taxifahrer, der hinter dem Vater des BF gefahren sei, habe die Distriktverwaltung über den Tod informiert, die Distriktverwaltung den Onkel väterlicherseits des BF und dieser die Mutter des BF. Vier Monate später habe der BF Afghanistan verlassen, da der Onkel väterlicherseits wollen habe, dass die Schwester des BF den Sohn des Onkels heirate. Die Mutter des BF habe sich gegen die Heirat ausgesprochen. Der Onkel habe die Mutter verprügelt und dem BF eine Ohrfeige verpasst, als dieser versucht habe, seine Mutter zu beschützen. Der BF und sein Onkel mütterlicherseits hätten die Mutter zum Arzt gebracht, wo sie zwei Tage lang geblieben sei. Die Mutter habe zum BF gesagt, dass sie sicher sei, dass der Onkel väterlicherseits die Absicht habe, sich die Grundstücke des Vaters des BF anzueignen und er einen Weg finden würde, den BF loszuwerden. Der Onkel habe auch Kontakt zu den Taliban. Daher habe der BF gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester Afghanistan Richtung Pakistan verlassen und sei von dort alleine weitergereist. Die Mutter und die Schwester des BF würden sich in Pakistan aufhalten. Der BF habe regelmäßig Kontakt mit seiner Mutter. Es gehe ihr gut. Der Onkel väterlicherseits lebe nach wie vor im Heimatdistrikt des BF, jedoch in einem anderen Dorf. Der BF fürchte sich im Falle der Rückkehr nach Afghanistan vor seinem Onkel väterlicherseits.

Der BF legte eine Kursbestätigung des XXXX vom 20.10.2016, ein Unterstützungsschreiben einer Privatperson vom 16.06.2017, eine Deutschkursteilnahmebestätigung des Vereins XXXX vom 10.07.2017, eine Bestätigung des Volksbildungsvereins XXXX vom 07.12.2016, eine Anmeldung in der XXXX für die Übergangsklasse 2017/18 (Lehrgang für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch) und eine Bestätigung des Vereins XXXX vom 13.07.2017 über die Teilnahme an der A1-Prüfung vor.

5. Das BFA wies den Antrag des BF auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 19.07.2017, Zl. 1094869104/151776611, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Das BFA erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde für die freiwillige Ausreise eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt (Spruchpunkt IV.).

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass der BF persönlich unglaubwürdig sei und seine Fluchtgründe nicht der Wahrheit entsprechen würden.

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass eine Gefährdungslage im Hinblick auf die unmittelbare Heimatprovinz des BF, nicht aber ganz Afghanistan vorliege, der BF über Familienangehörige in Afghanistan verfüge und sich seinen Lebensunterhalt in Kabul bestreiten könne.

Die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass der BF über keine Verwandten in Österreich verfüge, kaum Deutsch spreche, in einer von der Grundversorgung bereitgestellten Unterkunft wohne und illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist sei.

6. Gegen den unter Punkt 5. genannten Bescheid richtet sich die vom BF fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin wiederholte der BF im Wesentlichen sein Vorbringen, dass sein Vater während einer Taxifahrt auf der Strecke XXXX nahe von XXXX von den Taliban getötet worden sei und der Onkel väterlicherseits danach versucht habe, die Schwester des BF mit seinem Sohn zu verheiraten und sich die Grundstücke des Vaters des BF (bzw. des BF als Erbe seines Vaters) anzueignen. Der Onkel väterlicherseits habe die Mutter des BF brutal verprügelt, als sich diese gegen die Hochzeit ihrer Tochter ausgesprochen habe. Daraufhin habe die Familie des BF Afghanistan verlassen und sei nach Pakistan gereist. Dem BF drohe in Afghanistan Verfolgung von seinem Onkel väterlicherseits. Außerdem gehöre der BF als schiitischer Hazara einer Minderheit an, weshalb der BF einer gesteigerten Gefährdung ausgesetzt sei. Laut UNHCR gehöre der BF zu einer Personengruppe, welche durch regierungsfeindliche Kräfte besonders bedroht und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mannigfaltiger Verfolgung ausgesetzt sei. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem BF, der kein Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sei, unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände und des Fehlens eines hinreichenden unterstützenden sozialen oder familiären Netzwerks in Afghanistan nicht zu.

7. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 08.08.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Mit Schreiben vom 23.11.2017 wurden dem BF vom Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderfeststellungen betreffend Afghanistan übermittelt.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.01.2018 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des BF und seines Rechtsberaters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei gab der BF im Wesentlichen an, dass er im achten Monat des Jahres 1377 (XXXX) in der Provinz XXXX, Distrikt XXXX, Dorf XXXX, geboren und aufgewachsen sei. Der BF habe dort mit seinen Eltern und seiner Schwester gelebt. Der BF die 6. Schulklasse abgeschlossen und seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Er sei Hazara und schiitischer Muslim. Der Vater des BF sei bereits vor der Geburt des BF mit einer anderen Frau, als der Mutter des BF, verheiratet gewesen. Die Stiefmutter, die Halbschwester und der Halbbruder des BF hätten in Pakistan gelebt, während sich der BF mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner (leiblichen) Schwester in Afghanistan aufgehalten habe. Der BF habe Afghanistan am 15.10.2015 gemeinsam mit seiner Mutter und Schwester verlassen und sei nach Pakistan gereist. Sein Vater habe in Afghanistan zuletzt als Taxifahrer gearbeitet und sei während einer Taxifahrt von den Taliban in einem Ort namens XXXX getötet worden. Ca. drei Monate nach dem Tod des Vaters habe der Onkel väterlicherseits um die Hand der Schwester des BF (für seinen Sohn) angehalten. Die Mutter des BF habe den Antrag abgelehnt, daraufhin hätten die Probleme mit dem Onkel väterlicherseits begonnen. Er habe die Mutter geschlagen, sodass diese ins Krankenhaus gebracht werden habe müssen. Danach sei der BF mit seiner Mutter und Schwester geflüchtet. Der Vater des BF habe in XXXX viele Grundstücke gehabt. Diese habe sich der Onkel väterlicherseits aneignen wollen. Vor dem Tod des Vaters habe sich die Familie des BF sehr gut mit dem Onkel väterlicherseits verstanden und es habe keine Probleme gegeben. Der BF habe das ganze Land Afghanistan verlassen und sich nicht in einem anderen Landesteil niedergelassen, da es in Afghanistan keinen einzigen sicheren Ort gebe. Abgesehen davon habe er in den Städten XXXX, XXXX und XXXX keine Freunde oder Bekannte, die ihn dabei unterstützen könnten, ein Haus zu finden und an eine Arbeit zu kommen. Die Mutter und die Schwester des BF würden derzeit in XXXX, Pakistan, leben und sich ihren Lebensunterhalt durch Stick- und Schneidertätigkeiten verdienen. Ein Onkel mütterlicherseits habe bis vor einem Monat im Heimatdistrikt des BF gelebt und sei nun in Australien. Der BF fürchte sich im Falle der Rückkehr nach Afghanistan vor seinem Onkel. Zudem seien Hazara einer Gefährdung ausgesetzt. Aus XXXX seien bereits viele Hazara getötet worden, vor allem in der Gegend von XXXX. Der BF habe nie direkten Kontakt mit den Taliban gehabt, aber immer wieder von den Schwierigkeiten der Hazara mit den Taliban gehört. Auch sein Vater habe bis zur Tötung nie Kontakt mit den Taliban gehabt. Der BF habe Pakistan nach zwei Tagen verlassen, während seine Mutter und Schwester dort geblieben seien, weil seine Mutter den Wunsch gehabt habe, dass der BF etwas aus sich mache und eines Tages als Lehrer oder Arzt arbeite. Diese Möglichkeit hätte er in Pakistan nicht gehabt. Der Onkel väterlicherseits habe früher, als die Taliban in Afghanistan geherrscht hätten, mit ihnen zusammengearbeitet. Er habe den Taliban damals genau gesagt, wer im Dorf Waffen besitzt, damit die Taliban an diese Waffen kommen. Ob er auch zum Zeitpunkt des Todes des Vaters des BF mit den Taliban zusammengearbeitet habe, wisse der BF nicht.

Der BF habe in Griechenland auf seiner Fluchtreise nach Österreich erstmals seine Halbschwester und seinen Schwager persönlich kennengelernt und sei mit diesen nach Österreich gereist. Die Halbschwester und der Schwager des BF würden mit ihren Kindern in Österreich in derselben Unterkunft wie der BF, jedoch in einem anderen Zimmer leben. Der BF wisse nicht, warum seine Halbschwester und sein Schwager geflüchtet sind. Der BF besuche in Österreich die Schule, spiele am Wochenende Fußball und gehe Radfahren. Er habe in Österreich zehn Tage im Rathaus gearbeitet, auf einem Fußballfeld Rasen gemäht und Blätter gesammelt. Er habe auch bei einem Fest im Rathaus freiwillig bei Aufräumarbeiten mitgeholfen. Der BF habe hauptsächlich Kontakte zu den Bewohnern seines Heimes. Der BF legte eine Schulbesuchsbestätigung der HAK/HAS XXXX vom 13.12.2017, eine Vereinbarung der Stadtgemeinde XXXX über die Erbringung gemeinnütziger Beschäftigungen durch den BF vom XXXX, ein ÖSD Zertifikat A1 und eine Teilnahmebestätigung (Werte- und Orientierungskurs) vom 07.12.2016 vor.

Der Rechtsberater des BF brachte vor, dass die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des BF, XXXX, besonders schlecht und regierungsfeindliche aufständische Gruppen, insb. die Taliban, aktiv seien. Auch auf der Strecke zwischen XXXX und dem Herkunftsdorf des BF, auf der der Vater des BF Taxi gefahren und dabei getötet worden sei, seien die Taliban präsent und würden weitflächige Gebiete kontrollieren. Noch Mitte August des Jahres sei berichtet worden, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen in besagter Provinz weiter andauern würden. Auch aus dem aktuellsten Berichts- und Kartenmaterial von EASO vom Dezember 2017 ergebe sich, dass XXXX eine der gefährlichsten Provinzen sei. Diese Sicherheitslage indiziere für sich die reale Gefahr einer Art. 3 EMRK-Verletzung. Die Provinz sei angesichts der Taliban-Präsenz als Hazara von Kabul aus nicht sicher erreichbar. Die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara stelle auch eines jener besonderen Gefährdungsmomente dar, die im Vergleich zur übrigen Bevölkerung ein höheres Risiko einer Art. 3 EMRK-Verletzung indizieren und denen nach aktueller VwGH-Judikatur im Rahmen des subsidiären Schutzes besondere Bedeutung zukommen würde (vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0267). Eine IFA, insb. in Kabul, bestehe für den BF nicht. So habe der VfGH jüngst seine Judikaturlinie bekräftigt, wonach eine IFA dann nicht anzunehmen sei, wenn der Betroffene noch nie zuvor in besagtem Gebiet gelebt und dort keinerlei Anknüpfungspunkte habe (vgl. VfGH 22.09.2017, E 240/2017). Auch der BF habe nie außerhalb der Provinz XXXX gelebt. Angesichts der desaströsen Situation für Binnenvertriebene und Rückkehrer betreffend Unterkunft und Nahrungsmittelversorgung könne es vom BF nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in Kabul niederzulassen. Zum Beweis der Tatsache, dass in Afghanistan 59% der Bevölkerung an Nahrungsmittelunsicherheit leide sowie die Situation der hier relevanten Rückkehrer und Binnenvertriebenen noch um ein Vielfaches schlechter sei, weil diese regelmäßig am Rande des Verhungerns stehen, keinen Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben und in zutiefst inadäquaten Behausungen leben, werde ein Auszug aus Amnesty International vom Oktober 2017 vorgelegt. Weiters legte der Rechtsberater des BF Auszüge des EASO Country Origin Information Report zur Afghanistan Security Situation vom Dezember 2017, eine Mappe Afghanistans zur Veranschaulichung der Talibanpräsenz/-kontrolle und Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.08.2017 vor.

II. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des gegenständlich erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung, der Einvernahme des BF vor dem BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 03.01.2018, der Einsichtnahme in die Verwaltungsakte des Bundesverwaltungsgerichts betreffend die Halbschwester und den Schwager des BF (W255 2166915-1 und W255 2166918-1), der Einvernahmen der Halbschwester und des Schwagers des BF im Rahmen der zu ihren Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung vom 04.01.2018, der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Zur Person des BF:

1.1. Der BF heißt XXXX und ist am XXXX in der Provinz XXXX, Distrikt XXXX, Dorf XXXX (XXXX), geboren und gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester XXXX aufgewachsen.

1.2. Der BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Die Muttersprache des BF ist Dari.

1.3. Der BF besuchte in seiner Herkunftsprovinz sechs Jahre die Schule. Er arbeitete bereits während dieser Zeit und danach bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan auf der familieneigenen Landwirtschaft.

1.4. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

1.5. Der BF ist gesund und im erwerbsfähigen Alter.

1.6. Der BF hat 17 seiner knapp über 19 Lebensjahre in Afghanistan verbracht und ist mit den kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates bestens vertraut.

2. Zum familiären Hintergrund des BF:

2.1. Der Vater des BF (XXXX, StA. Afghanistan) war in erster Ehe (vor der Heirat mit der Mutter des BF) mit einer anderen Frau (ebenso einer afghanischen Staatsangehörigen) verheiratet. Dieser ersten Ehe entstammen der Halbbruder (XXXX, ca. XXXX Jahre alt, StA. Afghanistan) und die Halbschwester (XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan) des BF. Die Halbgeschwister des BF lebten mit ihrer Mutter (der Stiefmutter des BF) von 1987 bis 2015 in XXXX, Pakistan. Der Vater des BF verließ seine erste Frau und die Kinder aus erster Ehe 1992 und kehrte alleine nach Afghanistan zurück, wo er in weiterer Folge die Mutter des BF in zweiter Ehe heiratete. Dieser (zweiten) Ehe entstammen der BF und seine (leibliche) Schwester (XXXX, ca. XXXX Jahre alt, StA. Afghanistan). Der Vater des BF hielt nach seiner Rückkehr nach Afghanistan keinen Kontakt mehr zur Stiefmutter und den Halbgeschwistern des BF.

2.2. Der Vater des BF besaß viele landwirtschaftliche Grundstücke im Herkunftsdistrikt des BF, die er gemeinsam mit seinem Bruder, dem Onkel väterlicherseits des BF, vom Großvater des BF geerbt hatte. Diese landwirtschaftlichen Grundstücke wurden gemeinsam bewirtschaftet und der Ertrag zwischen dem Vater und dem Onkel väterlicherseits des BF aufgeteilt.

Neben der Landwirtschaft mietete der Vater des BF ein kleines Geschäft, verkaufte dieses im Jahr 2015 und kaufte sich ein Taxi, um als Taxifahrer Geld zu verdienen. Im Jahr 2015 war der Vater des BF als Taxifahrer tätig.

2.3. Die erste Ehefrau des Vaters des BF (= Stiefmutter des BF) und der Halbbruder des BF leben nach wie vor in XXXX, Pakistan, und sind beide erwerbstätig. Es geht ihnen gut.

2.4. Die Mutter und die (leibliche) Schwester des BF leben in XXXX, Pakistan, und sind beide als Schneiderinnen und Stickerinnen erwerbstätig. Der BF telefoniert regelmäßig mit seiner Mutter. Der Mutter und der Schwester geht es gut. Der Familie des BF ging es bereits in Afghanistan finanziell gut. Der Vater konnte aus den Einnahmen aus der Landwirtschaft, des von ihm gemieteten Geschäftes und seiner Tätigkeit als Taxifahrer Geld ansparen. Dieses ersparte Geld besitzt heute die Mutter des BF und hat einen Teil davon für die Flucht des BF nach Österreich ausgegeben. Die Mutter des BF kann den BF im Falle der Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorübergehend mit diesen Ersparnissen finanziell unterstützen.

2.5. Die Tante väterlicherseits des BF lebt im Heimatdorf des BF. Der BF steht nicht in Kontakt mit ihr.

2.6. Der Onkel mütterlicherseits des BF lebte bis Dezember 2017 im Heimatdorf des BF, ehe er nach Australien zu seinen dort lebenden Söhnen reiste.

2.7. Der BF hatte erstmals 2015 während seiner Reise nach Europa persönlich Kontakt mit seiner Halbschwester (XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan), dem Ehegatten der Halbschwester (= Schwager des BF) (XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan) und der Tochter der Halbschwester (XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan). Sie haben sich in Griechenland getroffen. Der BF ist gemeinsam mit seiner Halbschwester, seinem Schwager und deren Tochter von Griechenland nach Österreich gereist.

Die Halbschwester, der Schwager des BF und deren Tochter leben in Österreich und haben am selben Tag wie der BF (15.11.2015) Anträge auf internationalen Schutz in Österreich gestellt. Ihnen wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichts mit Erkenntnissen vom 04.01.2018, W255 2166915-1/7Z, W255 2166918-1/7Z und W255 2166914-1/6Z, jeweils der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Der BF, seine Halbschwester, sein Schwager und deren Tochter sind in Österreich in derselben Unterkunft untergebracht, jedoch in getrennten Zimmern. Sie sehen einander aufgrund der örtlichen Nähe oft, sehen sich aber nicht gegenseitig als "richtige" Geschwister an und führen keine enge Beziehung, wie es normalerweise bei Geschwistern der Fall ist. Die Halbschwester des BF hat aufgrund der Vergangenheit – ihr Vater hat ihre Familie früh verlassen, ist nach Afghanistan zurückgekehrt, hat den Kontakt abgebrochen und hat in Afghanistan eine neue Familie (jene des BF) gegründet – auch kein Interesse daran, eine enge Beziehung zu ihrem Halbbruder (= BF) in Österreich aufzubauen.

3. Zur Integration des BF in Österreich:

3.1. Der BF hat am 07.12.2016 an einem Werte- und Orientierungskurs des XXXX und von Februar 2016 bis Dezember 2016 sowie von 24.04.2017 bis 10.07.2017 an einem Deutschkurs für Asylweber teilgenommen. Er hat am 13.07.2017 die Deutschprüfung auf A1 Niveau bestanden. Der BF hat von 14.08.2017 bis 25.08.2017 gemeinnützige Leistungen (Säuberung von Straßen, Rad- und Gehwegen, Grünflächen und sonstige öffentliche Flächen sowie Schneeräumung und Streudienst) für die XXXX erbracht. Er besucht seit 06.11.2017 den Unterricht im Lehrgang für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch an der Handelsakademie und Handelsschule der XXXX. Der BF ist bisher in Österreich – abgesehen von der einwöchigen gemeinnützigen Tätigkeit, für die er einen Anerkennungsbeitrag erhalten hat –, keiner bezahlten Erwerbstätigkeit nachgegangen. Er ist nicht Mitglied eines Vereins. Der BF verfügt über keine weiteren als den unter II.2.7. und II.3. dargestellten familiären und sozialen Bindungen in Österreich. Seine Freizeit verbringt er hauptsächlich mit afghanischen Staatsangehörigen, die im selben Heim als Asylwerber untergebracht sind.

3.2. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

4. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

4.1. Im Frühling 2015 wurde der Vater des BF nahe von XXXX von den Taliban getötet, als er mit dem Taxi unterwegs war. Es war der erste persönliche Kontakt des Vaters des BF mit den Taliban.

4.2. Der BF verließ Afghanistan aus Angst vor Verfolgung durch seinen Onkel väterlicherseits. Der BF, seine Mutter und seine Schwester hatten bis zum Tod seines Vaters eine sehr gute Beziehung zum Onkel väterlicherseits. Vier Monate nach dem Tod des Vaters begann der Onkel väterlicherseits Druck auf die Mutter des BF dahingehend auszuüben, dass sie einer Heirat der Schwester des BF mit dem Cousin (Sohn des Onkels väterlicherseits) zustimmt. Die Mutter des BF sprach sich gegen diese Heirat aus, worauf sie – und der BF, der seine Mutter schützen wollte – vom Onkel väterlicherseits geschlagen wurden. Der Onkel väterlicherseits hatte und hat zudem Interesse daran, sich die landwirtschaftlichen Grundstücke, die der BF von seinem Vater nach dessen Tod geerbt hat, anzueignen.

Die Mutter des BF ist bis heute im Besitz jener Urkunden, die den BF als Eigentümer dieser landwirtschaftlichen Grundstücke ausweisen. Der Onkel konnte sich die im Eigentum des BF stehenden landwirtschaftlichen Grundstücke bis heute nicht offiziell aneignen, sich jedoch aufgrund der Abwesenheit des BF und dessen Mutter sowie des Todes des Vaters den Ertrag alleine zuführen.

4.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF je Probleme mit den Taliban hatte. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Onkel väterlicherseits des BF mit den Taliban kooperiert hat und der BF in diesem Zusammenhang einer Verfolgung ausgesetzt war oder im Falle der Rückkehr sein würde.

4.4. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Onkel väterlicherseits den BF im Falle der Rückkehr in einem anderen Landesteils Afghanistans, außerhalb der Heimatprovinz XXXX, suchen, finden und verfolgen würde.

4.5. Der BF verließ Afghanistan am 15.10.2015 gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester und reiste nach Pakistan, wo seine Mutter und Schwester bis heute leben. Der BF verließ Pakistan nach zwei Tagen und reiste über den Iran und die Türkei nach Griechenland. In Griechenland hatte der BF erstmals persönlich Kontakt mit seiner Halbschwester und seinem Schwager. Diese befanden sich ebenso wie der BF auf der Flucht von Pakistan nach Europa. Der BF reiste gemeinsam mit seiner Halbschwester, seinem Schwager und deren Tochter nach Österreich, wo er nach illegaler Einreise am 15.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

4.6. Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.

4.7. Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie schiitischer Muslim bzw. dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara sowie schiitische Muslim in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist oder im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt wäre.

4.8. Dem BF würde bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz XXXX ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

4.9. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle der Rückkehr in die Stadt XXXX ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr in die Stadt XXXX Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

4.10. Der BF ist volljährig, ledig, gesund und arbeitsfähig. Er verfügt über familiäre – auch finanzielle – Unterstützung von Pakistan aus. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr nach XXXX Gefahr liefe, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten oder sich seine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern würde. Es sind auch sonst keine Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

4.11. Der BF kann die Stadt XXXX von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.

5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand vom 25.09.2017:

1. Neueste Ereignisse – KI vom 25.09.2017 – Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil; die Regierung und die Taliban wechselten sich während des Berichtszeitraumes bei Kontrolle mehrerer Distriktzentren ab – auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen (UN GASC 21.9.2017). Der Konflikt in Afghanistan ist gekennzeichnet von zermürbenden Guerilla-Angriffen, sporadischen bewaffneten Zusammenstößen und gelegentlichen Versuchen Ballungszentren zu überrennen. Mehrere Provinzhauptstädte sind nach wie vor in der Hand der Regierung; dies aber auch nur aufgrund der Unterstützung durch US-amerikanische Luftangriffe. Dennoch gelingt es den Regierungskräften kleine Erfolge zu verbuchen, indem sie mit unkonventionellen Methoden zurückschlagen (The Guardian 3.8.2017).

Der afghanische Präsident Ghani hat mehrere Schritte unternommen, um die herausfordernde Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. So hielt er sein Versprechen den Sicherheitssektor zu reformieren, indem er korrupte oder inkompetente Minister im Innen- und Verteidigungsministerium feuerte, bzw. diese selbst zurücktraten; die afghanische Regierung begann den strategischen 4-Jahres Sicherheitsplan für die ANDSF umzusetzen (dabei sollen die Fähigkeiten der ANDSF gesteigert werden, größere Bevölkerungszentren zu halten); im Rahmen des Sicherheitsplanes sollen Anreize geschaffen werden, um die Taliban mit der afghanischen Regierung zu versöhnen; Präsident Ghani bewilligte die Erweiterung bilateraler Beziehungen zu Pakistan, so werden unter anderen gemeinsamen Anti-Terror Operationen durchgeführt werden (SIGAR 31.7.2017).

Zwar endete die Kampfmission der US-Amerikaner gegen die Taliban bereits im Jahr 2014, dennoch werden, laut US-amerikanischem Verteidigungsminister, aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage 3.000 weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt. Nach wie vor sind über 8.000 US-amerikanische Spezialkräfte in Afghanistan, um die afghanischen Truppen zu unterstützen (BBC 18.9.2017).

1.1. Sicherheitsrelevante Vorfälle

In den ersten acht Monaten wurden insgesamt 16.290 sicherheitsrelevante Vorfälle von den Vereinten Nationen (UN) registriert; in ihrem Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) für das dritte Quartal, wurden 5.532 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert – eine Erhöhung von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. Laut UN haben sich bewaffnete Zusammenstöße um 5% erhöht und machen nach wie vor 64% aller registrierten Vorfälle aus. 2017 gab es wieder mehr lange bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen. Im Gegensatz zum Vergleichszeitraums des Jahres 2016, verzeichnen die UN einen Rückgang von 3% bei Anschlägen mit Sprengfallen [IEDs – improvised explosive device], Selbstmordangriffen, Ermordungen und Entführungen – nichtsdestotrotz waren sie Hauptursache für zivile Opfer. Die östliche Region verzeichnete die höchste Anzahl von Vorfällen, gefolgt von der südlichen Region (UN GASC 21.9.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan von 1.1.-31.8.2017 19.636 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (Stand: 31.8.2017) (INSO o.D.).

Bild kann nicht dargestellt werden

(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D.)

1.2. Zivilist/innen

Landesweit war der bewaffnete Konflikt weiterhin Ursache für Verluste in der afghanischen Zivilbevölkerung. Zwischen dem 1.1. und 30.6.2017 registrierte die UNAMA 5.243 zivile Opfer (1.662 Tote und 3.581 Verletzte). Dies bedeutet insgesamt einen Rückgang bei zivilen Opfern von fast einem 1% gegenüber dem Vorjahreswert. Dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan fielen zwischen 1.1.2009 und 30.6.2017 insgesamt 26.512 Zivilist/innen zum Opfer, während in diesem Zeitraum 48.931 verletzt wurden (UNAMA 7.2017).

Im ersten Halbjahr 2017 war ein Rückgang ziviler Opfer bei Bodenoffensiven zu verzeichnen, während sich die Zahl ziviler Opfer aufgrund von IEDs erhöht hat (UNAMA 7.2017).

Die Provinz Kabul verzeichnete die höchste Zahl ziviler Opfer – speziell in der Hauptstadt Kabul: von den 1.048 registrierten zivilen Opfer (219 Tote und 829 Verletzte), resultierten 94% aus Selbstmordattentaten und Angriffen durch regierungsfeindliche Elemente. Nach der Hauptstadt Kabul verzeichneten die folgenden Provinzen die höchste Zahl ziviler Opfer: Helmand, Kandahar, Nangarhar, Uruzgan, Faryab, Herat, Laghman, Kunduz und Farah. Im ersten Halbjahr 2017 erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer in 15 von Afghanistans 34 Provinzen (UNAMA 7.2017)

Bild kann nicht dargestellt werden

(UNAMA 7.2017)

1.3. High-profile Angriffe:

Der US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR), verzeichnete in seinem Bericht für das zweite Quartal des Jahres 2017 mehrere high-profil Angriffe; der Großteil dieser fiel in den Zeitraum des Ramadan (Ende Mai bis Ende Juni). Einige extremistische Organisationen, inklusive dem Islamischen Staat, behaupten dass Kämpfer, die während des Ramadan den Feind töten, bessere Muslime wären (SIGAR 31.7.2017).

Im Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) wurden von den Vereinten Nationen folgende High-profile Angriffe verzeichnet:

Ein Angriff auf die schiitische Moschee in der Stadt Herat, bei dem mehr als 90 Personen getötet wurden (UN GASC 21.9.2017; vgl.: BBC 2.8.2017). Zu diesem Attentat bekannte sich der ISIL-KP (BBC 2.8.2017). Taliban und selbsternannte ISIL-KP Anhänger verübten einen Angriff auf die Mirza Olang Region im Distrikt Sayyad in der Provinz Sar-e Pul; dabei kam es zu Zusammenstößen mit regierungsfreundlichen Milizen. Im Zuge dieser Kämpfe, die von 3.-5.August anhielten, wurden mindestens 36 Menschen getötet (UN GASC 21.9.2017). In Kabul wurde Ende August eine weitere schiitische Moschee angegriffen, dabei wurden mindestens 28 Zivilist/innen getötet; auch hierzu bekannte sich der ISIL-KP (UN GASC 21.9.2017; vgl.: NYT 25.8.2017).

Manche high-profile Angriffe waren gezielt gegen Mitarbeiter/innen der ANDSF und afghanischen Regierungsbeamte gerichtet; Zivilist/innen in stark bevölkerten Gebieten waren am stärksten von Angriffen dieser Art betroffen (SIGAR 31.7.2017).

"Green Zone" in Kabul

Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017).

Eine Erweiterung der sogenannten Green Zone ist geplant; damit wird Verbündeten der NATO und der US-Amerikaner ermöglicht, auch weiterhin in der Hauptstadt Kabul zu bleiben ohne dabei Risiken ausgesetzt zu sein. Kabul City Compound – auch bekannt als das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Spezialkräfte, wird sich ebenso innerhalb der Green Zone befinden. Die Zone soll hinkünftig vom Rest der Stadt getrennt sein, indem ein Netzwerk an Kontrollpunkten durch Polizei, Militär und privaten Sicherheitsfirmen geschaffen wird. Die Erweiterung ist ein großes öffentliches Projekt, das in den nächsten zwei Jahren das Zentrum der Stadt umgestalten soll; auch sollen fast alle westlichen Botschaften, wichtige Ministerien, sowie das Hauptquartier der NATO und des US-amerikanischen Militärs in dieser geschützten Zone sein. Derzeit pendeln tagtäglich tausende Afghaninnen und Afghanen durch diese Zone zu Schulen und Arbeitsplätzen (NYT 16.9.2017).

Nach einer Reihe von Selbstmordattentaten, die hunderte Opfer gefordert haben, erhöhte die afghanische Regierung die Sicherheit in der zentralen Region der Hauptstadt Kabul – dieser Bereich ist Sitz ausländischer Botschaften und Regierungsgebäude. Die Sicherheit in diesem diplomatischen Bereich ist höchste Priorität, da, laut amtierenden Polizeichef von Kabul, das größte Bedrohungsniveau in dieser Gegend verortet ist und eine bessere Sicherheit benötigt wird. Die neuen Maßnahmen sehen 27 neue Kontrollpunkte vor, die an 42 Straßen errichtet werden. Eingesetzt werden mobile Röntgengeräte, Spürhunde und Sicherheitskameras. Außerdem werden 9 weitere Straßen teilweise gesperrt, während die restlichen sechs Straßen für Autos ganz gesperrt werden. 1.200 Polizist/innen werden in diesem Bereich den Dienst verrichten, inklusive spezieller Patrouillen auf Motorrädern. Diese Maßnahmen sollen in den nächsten sechs Monaten schrittweise umgesetzt werden (Reuters 6.8.2017).

Eine erweiterter Bereich, die sogenannte "Blue Zone" soll ebenso errichtet werden, die den Großteil des Stadtzentrums beinhalten soll – in diesem Bereich werden strenge Bewegungseinschränkungen, speziell für Lastwagen, gelten. Lastwagen werden an einem speziellen externen Kontrollpunkt untersucht. Um in die Zone zu gelangen, müssen sie über die Hauptstraße (die auch zum Flughafen führt) zufahren (BBC 6.8.2017; vgl. Reuters 6.8.2017).

1.4. ANDSF – afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Die Stärkung der ANDSF ist ein Hauptziel der Wiederaufbaubemühungen der USA in Afghanistan, damit diese selbst für Sicherheit sorgen können (SIGAR 20.6.2017). Die Stärke der afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army – ANA) und der afghanischen Nationalpolizei (Afghan National Police – ANP), sowie die Leistungsbereitschaft der Einheiten, ist leicht gestiegen (SIGAR 31.7.2017).

Die ANDSF wehrten Angriffe der Taliban auf Schlüsseldistrikte und große Bevölkerungszentren ab. Luftangriffe der Koalitionskräfte trugen wesentlich zum Erfolg der ANDSF bei. Im Berichtszeitraum von SIGAR verdoppelte sich die Zahl der Luftangriffe gegenüber dem Vergleichswert für 2016 (SIGAR 31.7.2017).

Die Polizei wird oftmals von abgelegen Kontrollpunkten abgezogen und in andere Einsatzgebiete entsendet, wodurch die afghanische Polizei militarisiert wird und seltener für tatsächliche Polizeiarbeit eingesetzt wird. Dies erschwert es, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. Die internationalen Truppen sind stark auf die Hilfe der einheimischen Polizei und Truppen angewiesen (The Guardian 3.8.2017).

1.5. Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Taliban

Die Taliban waren landesweit handlungsfähig und zwangen damit die Regierung erhebliche Ressourcen einzusetzen, um den Status Quo zu erhalten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive im April, haben die Taliban – im Gegensatz zum Jahr 2016 – keine größeren Versuche unternommen Provinzhauptstädte einzunehmen. Nichtsdestotrotz, gelang es den Taliban zumindest temporär einige Distriktzentren zu überrennen und zu halten; dazu zählen der Distrikt Taywara in der westlichen Provinz Ghor, die Distrikte Kohistan und Ghormach in der nördlichen Provinz Faryab und der Distrikt Jani Khel in der östlichen Provinz Paktia. Im Nordosten übten die Taliban intensiven Druck auf mehrere Distrikte entlang des Autobahnabschnittes Maimana-Andkhoy in der Provinz Faryab aus; die betroffenen Distrikte waren: Qaramol, Dawlat Abad, Shirin Tagab und Khwajah Sabz Posh. Im Süden verstärkten die Taliban ihre Angriffe auf Distrikte, die an die Provinzhauptstädte von Kandahar und Helmand angrenzten (UN GASC 21.9.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Die Operationen des ISIL-KP in Afghanistan sind weiterhin auf die östliche Region Afghanistans beschränkt – nichtsdestotrotz bekannte sich die Gruppierung landesweit zu acht nennenswerten Vorfällen, die im Berichtszeitraum von den UN registriert wurden. ISIL-KP verdichtete ihre Präsenz in der Provinz Kunar und setze ihre Operationen in Gegenden der Provinz Nangarhar fort, die von den ANDSF bereits geräumt worden waren. Angeblich wurden Aktivitäten des ISIL-KP in den nördlichen Provinzen Jawzjan und Sar-e Pul, und den westlichen Provinzen Herat und Ghor berichtet (UN GASC 21.9.2017).

Im sich zuspitzenden Kampf gegen den ISIL-KP können sowohl die ANDSF, als auch die Koalitionskräfte auf mehrere wichtige Erfolge im zweiten Quartal verweisen (SIGAR 31.7.2017): Im Juli wurde im Rahmen eines Luftangriffes in der Provinz Kunar der ISIL-KP-Emir, Abu Sayed, getötet. Im August wurden ein weiterer Emir des ISIL-KP, und drei hochrangige ISIL-KP-Führer durch einen Luftangriff getötet. Seit Juli 2016 wurden bereits drei Emire des ISIL-KP getötet (Reuters 13.8.2017); im April wurde Sheikh Abdul Hasib, gemeinsam mit 35 weiteren Kämpfern und anderen hochrangigen Führern in einer militärischen Operation in der Provinz Nangarhar getötet (WT 8.5.2017; vgl. SIGAR 31.7.2017). Ebenso in Nangarhar, wurde im Juni der ISIL-KP-Verantwortliche für mediale Produktionen, Jawad Khan, durch einen Luftangriff getötet (SIGAR 31.7.2017; vgl.: Tolonews 17.6.2017).

1.6. Politische Entwicklungen

Die Vereinten Nationen registrierten eine Stärkung der Nationalen Einheitsregierung. Präsident Ghani und CEO Abdullah einigten sich auf die Ernennung hochrangiger Posten – dies war in der Vergangenheit Grund für Streitigkeiten zwischen den beiden Führern gewesen (UN GASC 21.9.2017).

Die parlamentarische Bestätigung einiger war nach wie vor ausständig; derzeit üben daher einige Minister ihr Amt kommissarisch aus. Die unabhängige afghanische Wahlkommission (IEC) verlautbarte, dass die Parlaments- und Distriktratswahlen am 7. Juli 2018 abgehalten werden (UN GASC 21.9.2017).

2. Sicherheitslage

2.1. Allgemeines

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.1.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.2.2017).

INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).

Mit Stand September 2016, schätzen Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10% der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (USDOD 12.2016). Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (SIGAR 30.1.2017).

Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften (USDOD 12.2016). Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen – ausgeführt durch die Polizei und das Militär – landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (VOA 5.1.2017).

Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.8. – 17.11.2016) (UN GASC 13.12.2016; vgl. auch: SCR 30.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln, und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (USDOD 12.2016).

2.2. Kontrolle von Distrikten und Regionen

Den Aufständischen misslangen acht Versuche, die Provinzhauptstadt einzunehmen; den Rebellen war es möglich, Territorium einzunehmen. High-profile Angriffe hielten an. Im vierten Quartal 2016 waren 2,5 Millionen Menschen unter direktem Einfluss der Taliban, während es im 3. Quartal noch 2,9 Millionen waren (SIGAR 30.1.2017).

Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal, sind 57,2% der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw. –einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2% gegenüber dem dritten Quartal: zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen, mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit 5 von 6 Distrikten, und Helmand mit 8 von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.1.2017).

2.3. Rebellengruppen

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium (USDOD 12.2016).

Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistischen Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk, und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan - gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden (USDOD 12.2016).

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).

2.4. Taliban und ihre Offensive

Die afghanischen Sicherheitskräfte behielten die Kontrolle über große Ballungsräume und reagierten rasch auf jegliche Gebietsgewinne der Taliban (USDOD 12.2016). Die Taliban erhöhten das Operationstempo im Herbst 2016, indem sie Druck auf die Provinzhauptstädte von Helmand, Uruzgan, Farah und Kunduz ausübten, sowie die Regierungskontrolle in Schlüsseldistrikten beeinträchtigten und versuchten, Versorgungsrouten zu unterbrechen (UN GASC 13.12.2016). Die Taliban verweigern einen politischen Dialog mit der Regierung (SCR 12.2016).

Die Taliban haben die Ziele ihrer Offensive "Operation Omari" im Jahr 2016 verfehlt (USDOD 12.2016). Ihr Ziel waren großangelegte Offensiven gegen Regierungsstützpunkte, unterstützt durch Selbstmordattentate und Angriffe von Aufständischen, um die vom Westen unterstütze Regierung zu vertreiben (Reuters 12.4.2016). Gebietsgewinne der Taliban waren nicht dauerhaft, nachdem die ANDSF immer wieder die Distriktzentren und Bevölkerungsgegenden innerhalb eines Tages zurückerobern konnte. Die Taliban haben ihre lokalen und temporären Erfolge ausgenutzt, indem sie diese als große strategische Veränderungen in sozialen Medien und in anderen öffentlichen Informationskampagnen verlautbarten (USDOD12.2016). Zusätzlich zum bewaffneten Konflikt zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban kämpften die Taliban gegen den ISIL-KP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan) (UN GASC 13.12.2016).

Der derzeitig Talibanführer Mullah Haibatullah Akhundzada hat im Jänner 2017 16 Schattengouverneure in Afghanistan ersetzt, um seinen Einfluss über den Aufstand zu stärken. Aufgrund interner Unstimmigkeiten und Überläufern zu feindlichen Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, waren die afghanischen Taliban geschwächt. hochrangige Quellen der Taliban waren der Meinung, die neu ernannten Gouverneure würden den Talibanführer stärken, dennoch gab es keine Veränderung in Helmand. Die südliche Provinz – größtenteils unter Talibankontrolle – liefert der Gruppe den Großteil der finanziellen Unterstützung durch Opium. Behauptet wird, Akhundzada hätte nicht den gleichen Einfluss über Helmand, wie einst Mansour (Reuters 27.1.2017).

Im Mai 2016 wurde der Talibanführer Mullah Akhtar Mohammad Mansour durch eine US-Drohne in der Provinz Balochistan in Pakistan getötet (BBC News 22.5.2016; vgl. auch: The National 13.1.2017). Zum Nachfolger wurde Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt - ein ehemaliger islamischer Rechtsgelehrter - der bis zu diesem Zeitpunkt als einer der Stellvertreter diente (Reuters 25.5.2016; vgl. auch:

The National 13.1.2017). Dieser ernannte als Stellvertreter Sirajuddin Haqqani, den Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (The National 13.1.2017) und Mullah Yaqoub, Sohn des Talibangründers Mullah Omar (DW 25.5.2016).

2.5. Zivile Opfer

Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) dokumentiert weiterhin regierungsfeindliche Elemente, die illegale und willkürliche Angriffe gegen Zivilist/innen ausführen (UNAMA 10.2016). Zwischen 1.1. und 31.12.2016 registrierte UNAMA 11.418 zivile Opfer (3.498 Tote und 7.920 Verletzte) – dies deutet einen Rückgang von 2% bei Getöteten und eine Erhöhung um 6% bei Verletzten im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Jahres 2015 an. Bodenkonfrontation waren weiterhin die Hauptursache für zivile Opfer, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attentaten, sowie unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung (IED), und gezielter und willkürlicher Tötungen (UNAMA 6.2.2017).

UNAMA verzeichnete 3.512 minderjährige Opfer (923 Kinder starben und 2.589 wurden verletzt) – eine Erhöhung von 24% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres; die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn. Hauptursache waren Munitionsrückstände, deren Opfer meist Kinder waren. Im Jahr 2016 wurden 1.218 weibliche Opfer registriert (341 Tote und 877 Verletzte), dies deutet einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vorjahr an (UNAMA 6.2.2017).

Hauptsächlich waren die südlichen Regionen von dem bewaffneten Konflikt betroffen: 2.989 zivilen Opfern (1.056 Tote und 1.933 Verletzte) - eine Erhöhung von 17% gegenüber dem Jahr 2015. In den zentralen Regionen wurde die zweithöchste Rate an zivilen Opfern registriert: 2.348 zivile Opfer (534 Tote und 1.814 Verletzte) - eine Erhöhung von 34% gegenüber dem Vorjahreswert, aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Angriffe auf die Stadt Kabul. Die östlichen und nordöstlichen Regionen verzeichneten einen Rückgang bei zivilen Opfern: 1.595 zivile Opfer (433 Tote und 1.162 Verletzte) im Osten und 1.270 zivile Opfer (382 Tote und 888 Verletzte) in den nordöstlichen Regionen. Im Norden des Landes wurden 1.362 zivile Opfer registriert (384 Tote und 978 Verletzte), sowie in den südöstlichen Regionen 903 zivile Opfer (340 Tote und 563 Verletzte). Im Westen wurden 836 zivile Opfer (344 Tote und 492 Verletzte) und 115 zivile Opfer (25 Tote und 90 Verletzte) im zentralen Hochgebirge registriert (UNAMA 6.2.2017).

Laut UNAMA waren 61% aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreiben (hauptsächlich Taliban), 24% regierungsfreundlichen Kräften (20% den afghanischen Sicherheitskräften, 2% bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppen und 2% internationalen militärischen Kräften); Bodenkämpfen zwischen regierungsfreundlichen Kräften und regierungsfeindlichen Kräften waren Ursache für 10% ziviler Opfer, während 5% der zivilen Opfer vorwiegend durch Unfälle mit Munitionsrückständen bedingt waren (UNAMA 6.2.2017).

3. Sicherheitslage in den einzelnen Provinzen

3.1. Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden und (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten (Pajhwok o.D.z). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.523.718 geschätzt (CSO 2016).

Distrikt Kabul

Gewalt gegen Einzelpersonen

21

Bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe

18

Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen

50

Wirksame Einsätze von Sicherheitskräften

31

Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt

28

Andere Vorfälle

3

Insgesamt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten