TE OGH 2017/12/20 10ObS96/17s

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Veröffentlicht am 20.12.2017
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter KAD Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei V*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, 4021 Linz, Gruberstraße 77, vertreten durch Mag. Andreas Nösterer, Rechtsanwalt in Pregarten, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. Juni 2017, GZ 11 Rs 31/17h-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. März 2017, GZ 36 Cgs 155/16g-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben wie folgt:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß von 14,35 EUR täglich rückwirkend für den Zeitraum 1. 6. 2016 bis 31. 10. 2016 binnen vier Wochen zu gewähren.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß von 14,35 EUR täglich rückwirkend auch für den Zeitraum 1. 11. 2016 bis 9. 11. 2016 zu gewähren, wird abgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 340,27 EUR (darin enthalten 60,46 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 609,67 EUR (darin enthalten 101,61 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob Österreich nach der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im an die gesetzlich vorgesehene Karenz anschließenden Zeitraum von 1. 6. 2016 bis 9. 11. 2016 zum Export von (pauschalem) Kinderbetreuungsgeld verpflichtet ist, obwohl die in Deutschland wohnhafte Klägerin zum 31. 10. 2016 ihren berechtigten vorzeitigen Austritt aus dem Dienstverhältnis zu ihrem österreichischen Arbeitgeber erklärt hat.

Die Klägerin, die ab 2010 in einem Dienstverhältnis als Krankenschwester zur Klinikum Wels-Grieskirchen GmbH stand, erlitt bei der Geburt ihres Sohnes am 15. 5. 2014 innere Verletzungen, die zur Folge hatten, dass sie ihre vormalige Berufstätigkeit in der Notaufnahme nicht mehr ausüben kann. Sie befand sich zwei Jahre gemäß § 15 MSchG in Karenz. Daran anschließend vereinbarte sie mit ihrem Dienstgeber Karenz nach § 29 des Kollektivvertrags der oberösterreichischen Ordensspitäler von 1. 6. 2016 bis 9. 11. 2016. Wegen der bei der Geburt erlittenen Verletzungen trat sie im März 2016 aus ihrem Dienstverhältnis berechtigt vorzeitig aus und zwar zunächst mit Ende des vereinbarten Karenzurlaubs zum 9. 11. 2016 und in der Folge im Hinblick auf das von ihr in Deutschland ab 2. 11. 2016 beantragte Arbeitslosengeld bereits zum 31. 10. 2016. Der Vater des Kindes, der gemeinsam mit der Klägerin und dem Kind in Deutschland wohnt, war seit 5. 5. 2014 befristet bis 30. 4. 2017 bei einem in Linz ansässigen Unternehmen im Rahmen eines Industriepraktikums fünf Stunden wöchentlich berufstätig, wofür er eine monatliche Entschädigungszahlung von 160,52 EUR brutto erhielt.

Die Klägerin beanspruchte das pauschale Kinderbetreuungsgeld („Variante 30 + 6“), das von der beklagten Gebietskrankenkasse bis Ende Mai 2016 ausgezahlt wurde.

Mit Bescheid vom 4. 10. 2016 lehnte die beklagte Partei die Gewährung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum der Anschlusskarenz von 1. 6. 2016 bis 9. 11. 2016 ab.

Die Klägerin begehrt mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß von 14,53 EUR täglich von 1. 6. 2016 bis 9. 11. 2016. Sie habe auch in diesem Zeitraum einen Rechtsanspruch auf Karenzierung gehabt und sei in der österreichischen Pensionsversicherung teilversichert gewesen. Der Zeitraum der kollektivvertraglichen Anschlusskarenz sei trotz des berechtigten Austritts noch als „Beschäftigung“ nach Art 11 Abs 3 lit a (iVm Art 1 lit a) der VO 883/2004 zu qualifizieren. Österreich sei deshalb weiterhin nach der VO (EG) 883/2004 vorrangig für Familienleistungen zuständig.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Infolge der unterbliebenen Aufnahme einer Beschäftigung nach Beendigung des arbeitsrechtlichen Karenzurlaubs am 9. 5. 2016 und des Wohnsitzes in Deutschland bestehe kein Bezug mehr zu Österreich im Sinn der VO (EG) 883/2004.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Der Vater des Kindes sei in Österreich infolge des geringfügigen Umfangs keiner Beschäftigung im Sinn der VO (EG) 883/2004 nachgegangen. Die Verordnung verweise auf den nationalen Beschäftigungsbegriff. Dieser werde in § 24 Abs 2 KBGG definiert und stelle nur Zeiten einer Karenzierung zum Zweck der Kindererziehung bis zum Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gleich. Der hier zu beurteilende Zeitraum liege aber zur Gänze nach Vollendung des zweiten Lebensjahres des Kindes. Nach der Rechtsprechung könne – über die Definition der Erwerbstätigkeit in § 24 Abs 2 KBGG hinaus – auch eine Anschlusskarenz nach Vollendung des zweiten Lebensjahres des Kindes das Vorliegen einer Beschäftigung darstellen, sofern das Beschäftigungsverhältnis nur vorübergehend unterbrochen sei, nach nationalem Recht zumindest eine Teilversicherung vorliege und für die durchgehende Fiktion der Ausübung einer Beschäftigung ein einheitliches Sachverhaltselement gegeben sei. Zwar sei im vorliegenden Fall der aufrechte Bestand einer Teilversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit g ASVG zu bejahen und der Zeitraum der Karenz und der Anschlusskarenz für die durchgehende Fiktion der Ausübung einer Beschäftigung als einheitlicher Sachverhalt zu werten. Infolge des Austritts habe das Beschäftigungsverhältnis aber geendet, sodass das Kriterium der bloß „vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens sechs Monate andauernden Erwerbstätigkeit“ (§ 24 Abs 2 KBGG) schon vom Wortlaut her nicht mehr erfüllt sei. Werde die Erwerbstätigkeit nach der Geburt nicht mehr aufgenommen, könne nicht mehr von einer „vorübergehenden Unterbrechung“ gesprochen werden.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und ließ die Revision nicht zu. Da die Klägerin infolge ihres Austritts im Zeitraum von 1. 11. 2016 bis 9. 11. 2016 nicht mehr in Österreich beschäftigt gewesen sei, sei in diesem Zeitraum der Wohnsitzmitgliedstaat (Deutschland) für Familienleistungen gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 zuständig. Die Rechtsansicht des Erstgerichts sei zu billigen: Durch die Erklärung des Austritts sei bereits vor Ablauf der Karenz nach § 15 MSchG klar gewesen, dass das Beschäftigungsverhältnis nach der Anschlusskarenz nicht fortgesetzt werde. Das Beschäftigungsverhältnis sei daher im gesamten Zeitraum der Anschlusskarenz nicht bloß vorübergehend unterbrochen gewesen. Die Klägerin sei in diesem Zeitraum nicht mehr als Beschäftigte im Sinn der europäischen Sozialrechtskoordinierung zu qualifizieren und der Wohnsitzstaat Deutschland sei für Familienleistungen zuständig.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist – entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts – zulässig, weil zur Frage, ob der Zeitraum der kollektivvertraglichen Anschlusskarenz trotz eines berechtigten Austritts (§ 26 Z 1 AngG) als „Beschäftigung“ nach Art 11 Abs 3 lit a (iVm Art 1 lit a) VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren ist, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs besteht. Die Revision ist auch teilweise (hinsichtlich des Zeitraums vom 1. 6. 2016 bis 31. 10. 2016) berechtigt.

1.1 Dass die VO (EG) 883/2004 anzuwenden ist, ist unstrittig; ebenso dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO (EG) 883/2004 ist (RIS-Justiz RS0122905 [T3]).

1.2 Art 67 VO (EG) 883/2004 normiert eine Verpflichtung zum Export von Familienleistungen. Ob Österreich für die Erbringung von Familienleistungen (und für deren etwaigen Export in einen anderen Mitgliedstaat) zuständig ist, ist auf Grundlage der kollisionsrechtlichen Vorschriften der Art 11 ff VO (EG) 883/2004 zu beurteilen. Leistungszuständig ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nach den Art 11 der Verordnung anwendbar sind. Grundsätzlich sind auf eine Person, für die die Verordnung gilt, in jedem Zeitpunkt immer nur die Rechtsvorschriften eines Staats anzuwenden (Art 11 Abs 1 VO [EG] 883/2004).

2. Zum Zeitraum 1. 11. 2016 bis 9. 11. 2016:

Eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 65 erhält, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats (Art 11 Abs 3 lit c VO [EG] 883/2004). Nach Art 65 Abs 2 VO (EG) 883/2004 muss sich eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat oder weiterhin in diesem wohnt oder in ihn zurückkehrt, der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen. Die Klägerin, die von 2. 11. 2016 bis 9. 11. 2016 Arbeitslosengeld in Deutschland beanspruchte, unterliegt in diesem Zeitraum somit (allein) den Rechtsvorschriften ihres Wohnsitzstaats Deutschland, der für alle Versicherungszweige zuständig ist. Eine Zuständigkeit Österreichs zur Erbringung oder zum Export von Familienleistungen besteht in diesem Zeitraum nicht, dies auch nicht am 1. 11. 2016, weil die Klägerin ihren vorzeitigen Austritt bereits zum 31. 10. 2016 erklärt hat.

3. Zum Zeitraum 1. 6. 2016 bis 31. 10. 2016:

3.1 Nach Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 ist
– unabhängig vom Wohnsitz – in erster Linie jener Mitgliedstaat zuständig, in dem eine Person einer Beschäftigung nachgeht oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt (Beschäftigungsstaat). Kann nicht an einer Beschäftigung angeknüpft werden, so ist gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig.

Es stellt sich daher die Frage, ob die Klägerin in dem – in die Anschlusskarenz fallenden – Zeitraum von 1. 6. 2016 bis 31. 10. 2016 in Österreich einer Beschäftigung iSd Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 nachging.

3.2 Nach Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 wird der Begriff „Beschäftigung“ dahin definiert, dass darunter jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation gemeint ist, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt.

Gemäß Art 11 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Zeiten während derer zwar keine aktive Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, aber eine unter Art 11 Abs 2 VO zu subsumierende Leistung bezogen wird, sind daher als Ausübung einer Beschäftigung zu werten.

3.3 Als weitere Begriffsbestimmung enthält der Beschluss F1 der Verwaltungskommission vom 12. 6. 2009 zur Auslegung des Art 68 der VO (EG) 883/2004 die Regelung, wonach der Ausübung einer Erwerbstätigkeit etwa ein unbezahlter Urlaub zum Zweck der Kindererziehung gleichgestellt ist, solange ein solcher unbezahlter Urlaub nach nationalem Recht einer Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist.

Die Bestimmung des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 stellt einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der Beschäftigung dar. Beim Bezug von Leistungen, die unter Art 11 Abs 2 Satz 1 der VO zu subsumieren sind, ist daher unabhängig von der nationalen Systematik von der Ausübung einer Beschäftigung auszugehen.

Hievon abgesehen ist es den Mitgliedstaaten überlassen, den Beschäftigungsbegriff näher zu definieren. Jeder Staat hat in Bezug auf die Familienleistungen somit die Möglichkeit, seine Elternkarenz als gleichgestellte Situation zu bestimmen oder der Erwerbsausübung nicht gleichzustellen (10 ObS 117/14z, SSV-NF 29/13).

3.4 Eine solche Definition ist für den Bereich des pauschalen und des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 KBGG enthalten (RIS-Justiz RS0130043). Zugleich dient diese Regelung auch dazu, die innerstaatlichen Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug des Kinderbetreuungsgeldes festzulegen.

Im vorliegenden Fall ist § 24 Abs 2 KBGG in der von 1. 1. 2014 bis 28. 2. 2017 geltenden Fassung (§ 50 Abs 14 KBGG) anzuwenden (und nicht idF der mit 1. 3. 2017 in Kraft getretenen Novelle BGBl I 2016/53, die erst für Geburten nach dem 28. 2. 2017 gilt (§ 50 Abs 14 KBGG idF BGBl I 2016/53).

Nach § 24 Abs 2 KBGG versteht man unter Erwerbstätigkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes

„... die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 6 Monate andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbots nach dem Mutterschutzgesetz 1979 (MSchG), BGBl. Nr. 221, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 6 Monate andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter-Karenzgesetz (VKG), BGBl. Nr. 651/1989, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.“

Der hier zu beurteilende Zeitraum liegt jedoch nach dem Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes.

3.5 Zu der Frage, ob und welche Karenzfälle nach Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes von dieser Gleichstellungsbestimmung erfasst sind, lässt sich die bisherige Rechtsprechung wie folgt zusammenfassen:

3.5.1 In der Entscheidung 10 ObS 117/14z, SSV-NF 29/13 wurde im Fall einer vereinbarten Karenz in der Dauer von zweieinhalb Jahren (zwei Jahre gesetzliche Karenz und daran anschließend eine „freiwillige“ Karenz) und einem zweieinhalbjährigen Kinderbetreuungsgeldbezug der gesamte Zeitraum von zweieinhalb Jahren als einheitlicher Sachverhalt beurteilt, in dem die Fiktion der Ausübung einer Beschäftigung gilt; dies aber vor allem in Hinblick darauf, dass das Beschäftigungsverhältnis von der dortigen Klägerin fortgesetzt wurde und es nicht zu einem kurzfristigen Wechsel in der Zuständigkeit nach Art 11 der VO (EG) 883/2004 (für sechs Monate die Tschechische Republik und dann nach Aufnahme der Beschäftigung wieder Österreich) kommen soll.

3.5.2 Diese Rechtsprechung wurde mit der Entscheidung 10 ObS 135/16z fortgeschrieben. Nach dieser Entscheidung ermöglicht nicht nur die gesetzliche Karenzierung nach dem MSchG bzw dem VKG die Fiktion durchgehender Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch eine kollektivvertraglich vorgesehene Anschlusskarenz bis zum dritten Lebensjahr des Kindes. Um das Vorliegen einer Beschäftigung auch nach dem zweiten Lebensjahr des Kindes zu bejahen, darf das Beschäftigungsverhältnis aber nur vorübergehend unterbrochen sein, nach nationalem Recht muss zumindest eine Teilversicherung vorliegen und für die durchgehende Fiktion der Ausübung der Erwerbstätigkeit muss ein einheitliches Sachverhaltselement gegeben sein.

3.6 Mit 1. 3. 2017 trat § 24 Abs 3 KBGG idF BGBl Nr I 53/2016 in Kraft (§ 50 Abs 15 KBGG), der sich ebenfalls mit der Frage der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellten Situation befasst. Nach dieser Regelung soll ausschließlich bei Erfüllung der nationalen Gleichstellungserfordernisse des Abs 2 zweiter Satz eine gleichgestellte Situation im Sinn des Art 68 iVm Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 vorliegen, wobei diese der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation für alle Eltern spätestens mit Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes endet. Eine Scheinkarenz löst keine österreichische Zuständigkeit aus, dasselbe gilt für Zeiten, in denen mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen kein gesetzlicher Anspruch auf österreichische Karenz besteht, etwa bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer in- oder ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil.

3.6.1 Nach den Gesetzesmaterialien wird mit dieser „Klarstellung“ festgeschrieben, dass ausschließlich die gesetzliche Karenz nach dem MSchG und VKG (und nach gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften) gleichstellungsfähig sei. Weiters wird ausgeführt:

Andere Vereinbarungen wie z.B. privatrechtliche Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind nicht einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt und können daher keine Zuständigkeit Österreichs für die Zahlung von Familienleistungen auslösen. ... Die zeitliche Einschränkung der Gleichstellung auf den 2. Geburtstag des Kindes ergibt sich aus dem zeitlich begrenzten arbeitsrechtlichen Anspruch auf Karenz nach dem MSchG und VKG. Diese Begrenzung mit der gesetzlichen Karenzzeit ist – entgegen der Ansicht des Obersten Gerichtshofes – auch europarechtskonform. Sie ergibt sich aus dem Wortlaut des Beschlusses Nr F1 der Verwaltungskommission („solange dieser Urlaub nach den einschlägigen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist“) und aus der Tatsache, dass keine europarechtliche Verpflichtung besteht, dass ein Staat seine Leistungsverpflichtung aufgrund individueller Vereinbarungen der Eltern mit ihren Arbeitgebern verlängert. Zudem darf nicht übersehen werden, dass ein Kinderbetreuungsgeldbezug über den 2. Geburtstag des Kindes hinaus auch nicht (mehr) vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Die Eltern bestimmen selbst die Wahl der Variante (ea KBG oder KBG-Konto) und legen auch die gewünschte Anspruchsdauer fest. Zudem muss es aufgrund der verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsverpflichtung für alle Eltern dieselbe zeitliche Export-Grenze geben. Privilegierungen Einzelner durch verlängerte Freistellungsansprüche in z.B. sondergesetzlichen, kollektivvertraglichen oder einzelvertraglichen Regelungen wirken sich daher nicht aus. Weiters kann die Dauer der Gleichstellung beim Kinderbetreuungsgeld und damit die Dauer des Leistungsexports auch nicht dem Verhandlungsgeschick der betroffenen Eltern oder dem Wohlwollen der einzelnen Arbeitgeber überlassen werden (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11 f).

3.6.2 Holzmann-Windhofer (in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz [2017] 154) weist nur darauf hin, dass das Gesetz ausdrücklich auf die höchstmögliche gesetzliche Karenz bis zum zweiten Geburtstag des Kindes abstelle. Darüber hinausgehende sogenannte Karenzverlängerungen mit dem Arbeitgeber seien nicht umfasst, einerseits weil diese keine gesetzliche Karenz nach dem MSchG und VKG darstellen, andererseits weil sie die gesetzliche Höchstgrenze überschreiten.

3.6.3 Sonntag (Unions- und verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes – Kritische Untersuchung der Reaktion des Gesetzgebers auf oberstgerichtliche Rechtsprechung zum Kinderbetreuungsgeld, ASok 2017, 2) vertritt hingegen die Ansicht, die Ausführungen in den Materialien zu § 24 KBGG gingen weitgehend am Thema vorbei, weil bei der unionsrechtlichen Beurteilung Motive des Gesetzgebers, aus fiskalischen Gründen den Leistungsexport einzuschränken, gänzlich irrelevant seien. Die vom Obersten Gerichtshof vorgenommene Gleichstellung der freiwilligen Karenz durch die weiterlaufende Teilversicherung sei auch nach Einfügung des § 24 Abs 3 KBGG gegeben. § 24 Abs 3 KBGG sei unionsrechtswidrig.

3.6.4 Felten (in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6/1) führt aus, dass mit § 24 Abs 3 KBGG die einer Erwerbstätigkeit gleichzustellenden Situationen ausdrücklich wieder eingeschränkt werden. Der Gesetzgeber berufe sich zwar zu Recht darauf, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen autonom festzulegen. Dem sei zwar zuzustimmen, dabei dürfe der Gesetzgeber freilich keine diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen definieren. Aus diesem Grund habe der Oberste Gerichtshof ursprünglich eine weite Definition des Beschäftigungsbegriffs vertreten, da die in Rede stehenden Einschränkungen in erster Linie Personen benachteiligen, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben. Es müsse daher bezweifelt werden, dass § 24 Abs 3 KBGG nF unionsrechtskonform sei.

3.6.5 Auch nach Burger-Ehrnhofer (Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonusgesetz3 [2017], § 24 KBGG Rz 17) stellt die Einschränkung der Gleichstellung einer Karenz zur Kinderbetreuung auf Zeiten einer gesetzlichen Karenz und die damit verbundene Ausklammerung von Zeiten einer über den Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes hinausgehend vereinbarten Karenz nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wohl weiterhin eine Unionsrechtswidrigkeit dar.

3.7 Den Ausführungen in der außerordentlichen Revision kommt Berechtigung zu:

Eine Person in der Situation der Klägerin, die ihren Wohnsitz in Österreich hat, behält den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld in der von ihr beantragten pauschalen Variante 30 + 6 auch nach dem zweiten Geburtstag des Kindes, während eine Person, die ihren Wohnsitz nach Deutschland (oder einem anderen Mitgliedstaat) verlegt hat, diesen Anspruch bei enger Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG verlieren würde. Gemäß Art 7 der VO (EG) 883/2004 dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Mit diesem Grundsatz ordnet der europäische Gesetzgeber an, dass der Anspruch weder dem Grunde noch der Höhe nach von einem Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden dürfe (Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg], Art 7 Rz 3).

Art 7 betrifft somit auch § 24 Abs 2 KBGG, insoweit diese Regelung als Kollisionsregelung diskriminierende Anspruchsvoraussetzungen schafft, die zum Entzug des Kinderbetreuungsgeldes wegen des Wohnorts in einem anderen Mitgliedstaat führen.

Eine zur Vermeidung einer Kollision von nationalem Recht und Unionsrecht vorzunehmende unionsrechtskonforme Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG scheidet aus, weil eine derartige Auslegung ihre Grenzen in dessen eindeutigem Wortlaut findet.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg durch irgendein verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (RIS-Justiz RS0109951 [T3]).

Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass § 24 Abs 2 KBGG aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts so zu verstehen ist, dass die von der Klägerin in Anspruch genommene Karenzzeit nach Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes nicht schon deshalb zum Entfall des Anspruchs auf pauschales Kinderbetreuungsgeld führt (Variante 30 + 6), weil § 24 Abs 2 KBGG die Gleichstellung mit der Beschäftigung auf den Zeitraum bis zum zweiten Geburtstag des Kindes einschränkt.

3.8 Zu beurteilen bleibt, ob die von der Rechtsprechung in den Entscheidungen 10 ObS 117/14z und 10 ObS 135/16z aufgestellten Kriterien erfüllt sind, um – über die Definition der Erwerbstätigkeit in § 24 Abs 2 KBGG hinaus – das Vorliegen einer Beschäftigung auch nach dem Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes bejahen zu können. Während die Kriterien des Vorliegens einer Teilversicherung nach nationalem Recht und des einheitlichen Sachverhaltselements für die durchgehende Fiktion der Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht in Frage stehen, ist strittig, ob eine „vorübergehende Unterbrechung“ vorliegt, obwohl die Klägerin ihren berechtigten vorzeitigen Austritt erklärt hat, weil sie wegen der bei der Geburt erlittenen inneren Verletzungen ihre Tätigkeit als Krankenschwester in der Notfallaufnahme nicht mehr ausüben kann.

3.8.1 In der jüngst ergangenen Entscheidung 10 ObS 51/17y, in dem eine gesetzliche Karenz nach dem MSchG (und keine Anschlusskarenz) sowie ein Austritt nach § 15r Z 3 MSchG zu beurteilen war, wurde die schädliche Wirkung des Mutterschaftsaustritts mit der Begründung verneint, dass es sich dabei um ein Recht der Dienstnehmerin handelt, das bei Inanspruchnahme einer Karenz nach den §§ 15a, 15c, 15d oder 15q MSchG bis spätestens drei Monate vor Ende der Karenz in Anspruch genommen werden könne. Es liege auch in einem solchen Fall eine bloß vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit vor.

3.8.2 Mit dem Problem der Beendigung eines Dienstverhältnisses nach Ende des Beschäftigungsverbots bzw einer Karenz beschäftigt sich Naderhirn – wenngleich rein innerstaatlich und nicht in Bezug auf Art 11 der VO (EG) 883/2004 – in einer Entscheidungsbesprechung zu 10 ObS 155/15i (ZAS 2017/5, 29). Sie vertritt die Ansicht, das wörtliche Abstellen auf die „vorübergehende Unterbrechung“ würde zu Ungleichbehandlungen verschiedener Gruppen von Elternteilen führen, weil es bei Elternteilen, für die kein Beschäftigungsverbot gilt (zB Väter, selbständig erwerbstätige Personen, Adoptivmütter/väter) unerheblich wäre, ob die Erwerbstätigkeit nach der Geburt des Kindes wieder aufgenommen wird. Das wörtliche Verständnis des Begriffs der vorübergehenden Unterbrechung würde zu einer mittelbaren Diskriminierung von Frauen führen.

3.8.3 Bei der hier allein maßgeblichen kollisionsrechtlichen Beurteilung der Frage der Gleichstellung mit einer Beschäftigung ist § 24 Abs 2 KBGG aber vor dem Hintergrund der unionsrechtlichen Definition des Beschäftigungsbegriffs zu sehen und es sind aus diesem Begriff Rückschlüsse abzuleiten (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg] Art 68, Rz 6/1). Vor diesem Hintergrund können die in § 24 Abs 2 KBGG enthaltenen Worte „vorübergehende Unterbrechung“ nur so verstanden werden, dass damit die Karenzzeit an sich als vorübergehende Unterbrechung einer (zuvor zumindest sechs Monate andauernden) Erwerbstätigkeit angesprochen wird und weder ein Austritt nach § 15r Z 3 MSchG bei Inanspruchnahme einer Karenz nach den §§ 15a, 15c, 15d oder 15q MSchG (10 ObS 51/17y) noch ein vorzeitiger berechtigter Austritt wegen bei der Geburt erlittener Verletzungen (Dienstunfähigkeit nach § 26 Z 1 AngG) die Gleichstellung der Karenz mit der tatsächlich ausgeübten Erwerbstätigkeit aufheben soll. Dass die Klägerin ihre Berufstätigkeit als Krankenschwester bei ihrem vormaligen Dienstgeber unmittelbar nach Ende der Anschlusskarenz nicht mehr aufnehmen konnte, steht daher dem Kriterium der „vorübergehenden Unterbrechung“ der Erwerbstätigkeit nicht entgegen.

3.9 Dass die Tätigkeit des Vaters des Kindes nicht als Beschäftigung im Sinn des Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 zu qualifizieren ist, wird im Revisionsverfahren nicht mehr in Frage gestellt.

Zusammenfassend ist daher Österreich für den Zeitraum 1. 6. 2016 bis 31. 10. 2016 als leistungszuständiger Staat anzusehen.

Der Revision kommt somit für diesen Zeitraum Berechtigung zu. Die Urteile der Vorinstanzen waren dahin abzuändern, dass der Klage in diesem Zeitraum stattzugeben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

Textnummer

E120462

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00096.17S.1220.000

Im RIS seit

29.01.2018

Zuletzt aktualisiert am

27.12.2018
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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