TE OGH 2017/10/5 7Rs59/17y

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Veröffentlicht am 05.10.2017
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richter Mag. Heß-Palas und Mag. Zechmeister sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Poppenberger und Dr. Martin Janda in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopold M*****, geboren am *****, *****, *****, vertreten durch den Sachwalter Anton M*****, *****, *****, dieser vertreten durch Dr. Heinz-Eckard Lackner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt *****, *****, *****, wegen Pflegegeld (Stufe 3) über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 22. März 2017, 14 Cgs 104/16k-15, gemäß §§ 2 ASGG, 480 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe bestätigt, dass es zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger ab 1.7.2016 das Pflegegeld der Stufe 3 im Betrag von EUR 451,80 monatlich zu zahlen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit EUR 349,46 (darin EUR 58,24 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit dem angefochtenen Urteil erkannte das Erstgericht die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.7.2016 Pflegegeld der Stufe 3 zu bezahlen. Seiner Entscheidung legte es den auf den Seiten 1 bis 2 der Urteilsausfertigungen wiedergegebenen Sachverhalt zugrunde, auf den verwiesen und aus dem als für das Berufungsverfahren besonders wesentlich hervorgehoben wird:

Der Kläger ist besachwaltet. Es besteht gering verminderte Intelligenz und Entwicklungsretardierung. Aufgrund des perinatalen nachgewiesenen Hirnschadens liegt ein organisches Psychosyndrom vor. Der Kläger ist situativ und auf geografische Gegebenheiten nur grob orientiert. Abfragen nach situativen Gegebenheiten sind nicht möglich. Seine Konzentration ist nur kurzfristig intakt, das Gedächtnis teilweise eingeschränkt.

Krankheitsimmanent verhält sich der Kläger sehr stur und achtet auf keinerlei Hygiene; er befolgt die Anweisungen des Sachwalters und seiner pflegenden Familienangehörigen nicht. Insbesondere benutzt er zwar selbstständig die Toilette, er beschmutzt diese jedoch bei jeder Benutzung derart, dass die gesamte Toilette und der Boden mit Kot oder Urin verunreinigt sind. Der Kläger lässt auch stets das Licht brennen und dergleichen. Durch den Unwillen des Klägers, sich einzuordnen und Anweisungen zu befolgen sowie auf eine gewisse Sauberkeit zu achten, ist die Pflege durch die betreuenden Familienangehörigen massiv erschwert. [..] Die Verrichtung der Notdurft gelingt selbstständig, es bedarf jedoch aufgrund der Selbstverwahrlosungs- und Selbstvernachlässigungstendenzen des Klägers einer Nachkontrolle.

Die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Ausgehend von den Feststellungen gelangte das Erstgericht zu einem (insoweit unstrittigen) Betreuungs- und Hilfsbedarf für den Kläger von 107 Stunden monatlich.

Zusätzlich erachtete das Erstgericht die Voraussetzungen für den gemäß § 1 Abs 6 Z 1 VO mit 25 Stunden pauschal abzugeltenden Erschwerniszuschlag für gegeben.

Gemäß § 4 Abs 5 BPGG sei bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von pflegebedürftigen Personen ab dem vollendetem 15. Lebensjahr mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, insbesondere einer dementiellen Erkrankung, auf die besondere Intensität der Pflege in diesen Fällen Bedacht zu nehmen. Um den erweiterten Pflegebedarf entsprechend zu erfassen, sei zusätzlich jeweils ein Pauschalwert hinzuzurechnen, der den Mehraufwand für die aus der schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung erfließenden pflegeerschwerenden Faktoren der gesamten Pflegesituation pauschal abzugelten habe.

Den Grundsätzen des BPGG entsprechend sei für die Gewährung des Erschwerniszuschlags nicht ein Grad der Schwere der Behinderung, sondern letztlich die daraus resultierende Pflegeerschwernis maßgeblich. Gemäß § 4 Abs 6 BPGG müssten die aufgezählten Defizite insgesamt (in Summe und nicht jede einzelne für sich) eine schwere Verhaltensstörung zur Folge haben. Solche Faktoren liegen nach § 4 Abs 6 BPGG vor, wenn sich Defizite der Orientierung, des Antriebs, des Denkens, der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen, der sozialen Funktion und der emotionalen Kontrolle in Summe als schwere Verhaltensstörung äußern. Beim Kläger sei die soziale Funktion durch das beschriebene Verhalten, das sich in großer Sturheit und mangelnder Reinlichkeit und sozialer Einordenbarkeit äußern, gegeben, weshalb der Erschwerniszuschlag von 25 Stunden monatlich anzusetzen sei. Da der durchschnittliche monatliche Pflege- und Hilfsbedarf beim Kläger somit insgesamt 132 Stunden betrage, gebühre im Pflegestufe 3.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der beklagten Partei aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsabweisenden Sinn abzuändern (gemeint: Dem Kläger das Pflegegeld der Stufe 2 zuzusprechen und das darüber hinausgehende Mehrbegehren abzuweisen); hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Berufungsbeantwortung der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt.

In ihrer ausschließlich erhobenen Rechtsrüge wendet sich die Berufungswerberin nur gegen die Berücksichtigung des Erschwerniszuschlags bei der Berechnung des durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarfs des Klägers.

Die Rechtsmittelwerberin vermeint unter Hinweis auf die erläuternden Bemerkungen zur Änderung des BPGG zu § 4 Abs 3 bis 7 BPGG - „Die angeführten Bereiche steuern in Summe das Verhalten. Schwere Störungen im Verhalten führen zu bedrohlich wahrgenommenen Reaktionen im Alltag und massiven Belastungen sozialer Gefüge,“ - dass eine Verhaltensstörung in diesem Ausmaß beim Kläger nicht gegeben sei. Aus den Feststellungen sei nicht erkennbar, welcher pflegerische Mehraufwand durch den Unwillen des Klägers sich einzuordnen, Anweisungen zu befolgen und auf eine gewisse Sauberkeit zu achten, bedingt sein soll. Hilfestellung beim Duschen und Baden, Motivationsgespräche sowie Hilfe für die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände und Pflege der Leib- und Bettwäsche seien im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bei der Ermittlung des Pflegebedarfs ohnehin berücksichtigt worden. Der Erschwerniszuschlag im Ausmaß von 25 Stunden sei nicht gerechtfertigt, sodass der monatliche Pflege- und Hilfsbedarf des Klägers nur 107 Stunden betrage und ihm nur Pflegegeld der Stufe 2 zustehe.

Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung 10 ObS 99/10x unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien die in § 4 Abs 6 BPGG angeführten pflegeerschwerenden Faktoren näher umschrieben: Störung der Orientierung bedeute, dass ein Zurechtfinden in zeitlicher, räumlicher und situativer Dimension nicht mehr gegeben sei. Störungen des Antriebs bedeute, dass die Aktivität verändert sei. Es komme entweder zu Überreaktionen, bis hin zu Aggressivität oder zu fehlender Reaktion bis hin zum vollkommenen Rückzug. Störungen des Denkens bedeute, dass Gedächtnisleistung, Konzentration und Auffassungsfähigkeit eingeschränkt sind und daher logische Abfolgen nicht entwickelt und erfasst werden könnten. Störungen der emotionalen Kontrolle bedeute, dass die Reaktion auf Situationen, Herausforderungen, Belastungen, äußere Eindrücke nicht angemessen sei. Störung der sozialen Funktion bedeute, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen (zB Familie, Freundeskreis, Arbeitswelt) beeinträchtigt seien. Die angeführten Bereiche steuern in Summe das Verhalten. Schwere Störungen im Verhalten führten zu bedrohlich wahrgenommenen Reaktionen im Alltag und massiven Belastungen sozialer Gefüge. Die Verwendung der Formulierung „in Summe“ in § 4 Abs 6 BPGG bedeute nicht, dass jedes einzelne dieser Defizite vorliegen müsse. Vielmehr werde dadurch nur zum Ausdruck gebracht, dass diese insgesamt (in Summe und nicht jede einzelne für sich) eine schwere Verhaltensstörung zur Folge haben. Maßgeblich sei daher im Ergebnis, dass die in § 4 Abs 6 BPGG aufgezählten Defizite eine „schwere Verhaltensstörung“ zur Folge haben.

Der erkennende Senat ist der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und den Ausführungen von Greifeneder/Liebhart (Pflegegeld3 Rz 584 ff) gefolgt und hat in seiner Entscheidung 7 Rs 78/16s hervorgehoben, dass es beim Erschwerniszuschlag nach der Intention des Gesetzgebers nicht um eine Graduierung der Schwere der jeweiligen Behinderung im Sinn einer Diagnose bezogenen Betrachtungsweise gehe, sondern um die Berücksichtigung des Mehraufwands der aus dieser Behinderung erfließenden pflegeerschwerenden Faktoren, die in § 4 Abs 6 BPGG präzisiert sind. Wesentlich für die Berücksichtigung des Erschwernisfaktors seien die Auswirkungen der pflegeerschwerenden Faktoren in der Pflege, die natürlich auch unterschiedlich gewichtet sein könnten. Diese funktionsbezogene Betrachtungsweise entspreche auch dem grundsätzlichen Konzept des derzeitigen Pflegegeldeinstufungssystems. Es sollen durch den Erschwerniszuschlag pflegeerschwerende Faktoren berücksichtigt werden, die bislang noch nicht Berücksichtigung fanden.

Unter Berücksichtigung der in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung und Lehre vertretenen Auslegung des § 4 Abs 6 BPGG liegen die Voraussetzungen für die Berücksichtigung des Erschwerniszuschlags entgegen der Auffassung der Berufungswerberin im gegenständlichen Fall vor.

Das Erstgericht hat (unbekämpft) festgestellt, dass beim Kläger aufgrund eines perinatalen Hirnschadens ein organisches Psychosyndrom vorliegt, Abfragen nach situativen Gegebenheiten nicht möglich sind, die Konzentration nur kurzfristig intakt und das Gedächtnis teilweise eingeschränkt ist. Mag auch dieses Zustandsbild nicht mit einer Demenzerkrankung gleichgesetzt werden, übergeht die Rechtsmittelwerberin die weiteren Feststellungen, dass sich der Kläger sehr stur verhält, Anweisungen des Sachwalters und der pflegenden Familienangehörigen nicht befolgt und durch seinen Unwillen, sich einzuordnen und Anweisungen zu befolgen sowie auf eine gewisse Sauberkeit zu achten, die Pflege durch die betreuenden Familienangehörigen massiv erschwert ist. Darüber hinaus verweist das Erstgericht in seinen Feststellungen auch auf die beim Kläger bestehenden Selbstverwahrlosungs- und Selbstvernachlässigungstendenzen.

Der Berufungssenat kann sich in diesem Zusammenhang nicht der Auffassung der Rechtsmittelwerberin anschließen, dass mit den festgestellten Betreuungsleistungen einschließlich zehn Stunden monatlich für Motivationsgespräche und den Hilfsverrichtungen sämtlicher Pflegeaufwand abgedeckt sei. Vielmehr stellt sich das aus den Feststellungen ersichtliche Verhalten aufgrund der Auswirkungen der pflegeerschwerenden Faktoren in der Pflege als „schwere Verhaltensstörung“ dar. Mit ihrer Argumentation, dass die beispielhaft in den Feststellungen genannten Umstände wie die extreme Verunreinigung der Toilette nach jedem Toilettengang, Brennenlassen des Lichts etc. nicht erkennen ließen, in welchem Ausmaß die Betreuung beim Kläger erschwert wäre, negiert sie die wesentlichen Feststellungen, dass durch das Verhalten des Klägers insgesamt eine massive Erschwerung der Pflege durch die Familienangehörigen besteht, zumal Selbstverwahrlosungs- und Selbstvernachlässigungstendenz beim Kläger besteht. Ausgehend von den Feststellungen, dass der Kläger sich „sehr stur“ verhält und Anweisungen nicht befolgt, ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass jegliche erforderliche Betreuungsleistung durch das Verhalten des Klägers erschwert wird. In welchem konkreten zeitlichen Ausmaß sich diese Erschwerung ausdrückt, ist hingegen nicht wesentlich. Es sollen durch den Erschwerniszuschlag pflegeerschwerende Faktoren berücksichtigt werden, die bislang noch nicht Berücksichtigung fanden. Mit der Verwendung des Adjektivs „schwer“ wird ausgedrückt, dass eine bestimmte Mindestintensität der Verhaltensstörung erforderlich ist. Solange die EinstV keinen höheren pauschalen Erschwerniszuschlag als 25 Stunden pro Monat (im Schnitt somit weniger als eine Stunde pro Tag) vorsieht, wird andererseits auch kein allzu restriktiver Maßstab anzulegen sein (Greifeneder/Liebhart aaO Rz 585).

Es war daher der Berufung nicht Folge zu geben.

Die Maßgabebestätigung hatte zu erfolgen, weil das Erstgericht unterlassen hat, die Höhe des gebührenden monatlichen Pflegegelds in den Urteilsspruch aufzunehmen.

Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 2 und 77 ASGG iVm §§ 41, 50 ZPO.

Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil die Beurteilung ob eine den Erschwerniszuschlag rechtfertigende „schwere geistige oder psychische Behinderung“ vorliegt, nur anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden kann und somit eine                       Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zur Beurteilung stand.

Textnummer

EW0000859

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2017:0070RS00059.17Y.1005.000

Im RIS seit

18.01.2018

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2018
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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