Index
E3R E05204020Norm
ASVG §138Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice Hollabrunn in 2020 Hollabrunn, Winiwarterstraße 2a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. Jänner 2017, W167 2137290-1/4E, betreffend Zuerkennung von Arbeitslosengeld (mitbeteiligte Partei: J L, vertreten durch Advokat Mgr. Jozef Fox, Kancelaria Advokacka in PL-40-035 Katowice, ul. Jena Kochanowskiego 4/3), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte übte von 9. September 2008 bis 31. Dezember 2013 in Österreich eine arbeitslosenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus. Nach einem anschließenden Bezug von Krankengeld (aus der Krankenversicherung aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses) bis 2. Dezember 2014 bezog der Mitbeteiligte vom 3. Dezember 2014 bis 16. August 2015 und vom 19. August 2015 bis 29. Februar 2016 Arbeitslosengeld.
2 Mit Bescheid vom 15. März 2016 widerrief das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (AMS) die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes und verpflichtete den Mitbeteiligten zur Rückzahlung des Bezuges. Aufgrund der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten sprach das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 26. August 2016 aus, dass gemäß § 24 Abs. 2 AlVG die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 3. Dezember 2014 bis 16. August 2015 und vom 19. August 2015 bis 29. Februar 2016 widerrufen und gemäß § 25 Abs. 1 AlVG der durch den Widerruf entstandene Übergenuss in Höhe von € 14.102,40 vom Mitbeteiligten rückgefordert werde.
3 Begründend führte das AMS aus, der Wohnort des Mitbeteiligten im Sinn des Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei vor Bezug des Arbeitslosengeldes ab 3. Dezember 2014 in Polen gewesen. Während seiner Beschäftigung in Österreich sei der Mitbeteiligte regelmäßig jedes Wochenende zu seiner Familie nach Polen gefahren. In der Zeit des anschließenden „Krankenstandes“ sei er „stets in Polen gewesen“ und sei dort behandelt worden. Der Mitbeteiligte sei daher ein „echter Grenzgänger“ im Sinn des Art. 65 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gewesen, der sich nach Ende der Beschäftigung „der Arbeitsmarktverwaltung in Polen zur Verfügung zu stellen“ gehabt hätte. Im Zuge seiner Antragstellung auf Arbeitslosengeld habe der Mitbeteiligte hingegen angegeben, lediglich viermal im Jahr nach Polen zurückzukehren. Er habe daher im Sinn des § 25 Abs. 1 AlVG den Bezug durch unwahre Angaben herbeigeführt.
4 Mit dem nach einem Vorlageantrag des Mitbeteiligten ergangenen angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde Folge, behob die Beschwerdevorentscheidung vom 26. August 2016 ersatzlos und brachte damit zum Ausdruck, dass der Mitbeteiligte das Arbeitslosengeld in dem in der Beschwerdevorentscheidung genannten Zeitraum zu Recht bezogen habe und das AMS nicht berechtigt sei, einen durch den Bezug entstandenen Übergenuss an Arbeitslosengeld vom Mitbeteiligten zurückzufordern.
5 Dazu stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, der Mitbeteiligte sei deutscher Staatsangehöriger. Seine Ehefrau und zwei seiner volljährigen Söhne lebten in Polen. Ein weiterer Sohn des Mitbeteiligten lebe „mit Frau und Kind“ in Österreich. Vom 18. September 2008 bis 22. Juli 2014 sei der Mitbeteiligte mit einem Nebenwohnsitz und danach bis 17. März 2016 mit einem Hauptwohnsitz in Österreich an der selben Anschrift wie sein in Österreich aufhältiger Sohn gemeldet gewesen. Während „seiner Tätigkeit“ und während des Bezuges von Arbeitslosengeld in Österreich habe der Mitbeteiligte die Wochenenden „bei seiner Familie in Polen“ verbracht, während der Arbeitswoche aber „bei seiner Familie in Österreich“ gelebt. Seit 29. September 2013 sei der Mitbeteiligte in Polen „zuerst stationär, dann ambulant“ wegen einer psychotischen Störung in Behandlung gewesen.
6 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei vorrangig der Staat der letzten Beschäftigung für die Gewährung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung zuständig. Hinsichtlich „echter Grenzgänger“ bestehe dagegen nach Art. 65 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 eine Zuständigkeit des Wohnmitgliedstaats. Voraussetzung für diesen Statutenwechsel sei, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort der arbeitslosen Person auseinandergefallen seien. Der „Mittelpunkt der Interessen“ des Mitbeteiligten und damit sein „Wohnort“ im Sinn des Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei aber während seiner Beschäftigung und während des Bezuges von Arbeitslosengeld in Österreich gewesen. Das „Naheverhältnis“ des Mitbeteiligten zu seinem in Österreich lebenden Sohn bzw. dessen Familie, wo er sich von Montag bis Freitag aufgehalten habe, habe nämlich jenes zu seinen Angehörigen in Polen schon in „quantitativer Hinsicht“ überwogen. Daran könne auch die seit dem 20. September 2013 erfolgte psychiatrische Behandlung des Mitbeteiligten in Polen nichts ändern. Seine stationäre Aufnahme sei „durch die Umstände bedingt“ gewesen, weshalb daraus keine „bewusste Rückverlegung des Lebensmittelpunktes“ abgeleitet werden könne. Auch die anschließende regelmäßige ambulante Behandlung in Polen führe zu keiner anderen Beurteilung. Österreich sei daher als Wohnmitgliedstaat für die Leistungen der Arbeitslosenversicherung zuständig gewesen, sodass die Voraussetzungen für den Widerruf des Arbeitslosengeldes und die Rückforderung des Übergenusses nicht gegeben seien.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen:
8 Die Revision macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei bei seiner Beurteilung, wo sich der Wohnort des Mitbeteiligten nach Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 während seiner Beschäftigung in Österreich befunden habe, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
9 Damit ist die Revision im Ergebnis im Recht, weshalb sie sich als zulässig und berechtigt erweist.
10 Gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) 883/2004 unterliegt eine Person (grundsätzlich) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie eine Beschäftigung ausübt (lex loci laboris). Der für Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständige Mitgliedstaat ist somit der Mitgliedstaat, in dem zuletzt eine Beschäftigung ausgeübt worden ist, sodass grundsätzlich dieser Mitgliedstaat diese Leistungen zu gewähren hat (VwGH 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, Rn. 4, mwN).
11 Art. 65 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sieht dagegen unter den dort genannten Voraussetzung einen Statutenwechsel - also den Wechsel der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates bzw. der anzuwendenden Rechtsvorschriften - vor. Die Bestimmung lautet auszugsweise:
„(1) (...)
(2) Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen.
Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.
Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben.
(3) Der in Absatz 2 Satz 1 genannte Arbeitslose muss sich bei der zuständigen Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats als Arbeitsuchender melden, sich dem dortigen Kontrollverfahren unterwerfen und die Voraussetzungen der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erfüllen. Entscheidet er sich dafür, sich auch in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, als Arbeitsuchender zu melden, so muss er den in diesem Mitgliedstaat geltenden Verpflichtungen nachkommen.
(4) (...)
(5) a) Der in Absatz 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose erhält Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.
b) Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt.
(6) bis (8) (...)“
12 Gemäß Art. 1 lit. f der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist ein „Grenzgänger“ eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie nicht mindestens einmal wöchentlich zurückkehrt, wird in der Terminologie des Art. 65 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dagegen als „kein Grenzgänger“ oder „Nicht-Grenzgänger“ bezeichnet (vgl. VwGH 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, Rn. 7).
13 Zu Art. 65 Abs. 2 zweiter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, wonach sich ein vollarbeitsloser Arbeitnehmer (nämlich der weiterhin im Wohnmitgliedstaat wohnende Grenzgänger oder der in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrende Nicht-Grenzgänger) zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaats zur Verfügung stellen kann, hat der EuGH in seinem Urteil vom 11. April 2013, C-443/11, Jeltes, ua., Rn. 36, klargestellt, dass sie einem Arbeitnehmer, der zum Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehalten hat, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, die Möglichkeit bietet, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des betreffenden Staates zur Verfügung zu stellen, aber nicht, um dort Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, sondern nur, um dort Wiedereingliederungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Der vollarbeitslose Arbeitnehmer hat somit - abgesehen von den Konsequenzen einer Wahl des Wohnorts bzw. einer Rückkehr in diesen - kein Wahlrecht, welchen Mitgliedstaat er leistungszuständig machen möchte (vgl. VwGH 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, Rn. 9; 28.1.2015, 2013/08/0074).
14 Ein vollarbeitsloser Grenzgänger, der während seiner letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat (dem Beschäftigungsmitgliedstaat) gewohnt hat und weiterhin in diesem anderen Mitgliedstaat, dem Wohnmitgliedstaat, wohnt - also seinen Wohnort nicht in den Beschäftigungsmitgliedstaat verlegt, bevor der Wohnmitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zuständig geworden ist - muss sich somit gemäß Art. 65 Abs. 2 erster Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dessen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen und erhält gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Leistungen (Arbeitslosenunterstützung) nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. In Anbetracht dieser - nach den weiteren Regelungen der Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erfolgenden - Leistungserbringung ist der zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 somit der Wohnmitgliedstaat (vgl. VwGH 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, Rn. 11 und 12).
15 Anderes gilt dagegen, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 2. Juni 2016, Ra 2016/08/0047, auf dessen Begründung insoweit verwiesen wird, ausgeführt hat, für den vollarbeitslosen Nicht-Grenzgänger. Kehrt er in seinen Wohnmitgliedstaat zurück (siehe zum Begriff der „Rückkehr“ im Sinn des Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Rn. 22 des Erkenntnisses Ra 2016/08/0047), muss er sich - wie ein Grenzgänger - gemäß Art. 65 Abs. 2 erster Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Arbeitsverwaltung seines Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen und erhält Leistungen (Arbeitslosenunterstützung) nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Kehrt ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger jedoch (vorerst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurück, kann er sich gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (zunächst) der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaates zur Verfügung stellen und (zunächst) von diesem Leistungen nach den weiteren Regelungen des Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) 883/2004 beziehen.
16 Voraussetzung für den in Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ausnahmsweise vorgesehenen Statutenwechsel ist somit, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort (Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004) der (voll)arbeitslosen Person zum Zeitpunkt des Endes der Beschäftigung auseinandergefallen sind (vgl. VwGH 28.1.2015, 2013/08/0074; 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, Rn. 10).
17 Im vorliegenden Fall ist diese Voraussetzung für den Statutenwechsel zwischen den Parteien strittig. Das AMS geht davon aus, dass der Mitbeteiligte während der letzten Beschäftigung in Österreich seinen Wohnort in Polen gehabt habe und - unter Berücksichtigung des (unstrittigen) Aufenthaltes in Polen an den Wochenenden - ein echter Grenzgänger gewesen sei, für den daher Polen gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für die Gewährung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständig gewesen sei. Der Mitbeteiligte macht dagegen geltend, dass sich sein Wohnort während der Beschäftigung in Österreich befunden habe und somit der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort nicht auseinandergefallen seien.
18 Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 definiert den „Wohnort“ als den „Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person“. Dieser ist nach der Rechtsprechung des EuGH dadurch gekennzeichnet, dass es sich um den Ort handelt, in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen der betreffenden Person befindet. Ein Indiz zur Feststellung dieses Ortes ist etwa der Wohnort der Familie. Neben den familiären Verhältnissen sind, um festzustellen, ob ein Mitgliedstaat der Wohnstaat eines Arbeitnehmers ist, obwohl dieser in einem anderen Mitgliedstaat im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, die Dauer und Kontinuität des Wohnorts bis zur Abwanderung des Arbeitnehmers, die Dauer der Abwesenheit - unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände jedes Einzelfalls - und deren Zweck, die Art der in dem anderen Mitgliedstaat aufgenommenen Beschäftigung sowie die Absicht des Arbeitnehmers, wie sie sich aus den gesamten Umständen ergibt, zu berücksichtigen (vgl. VwGH 28.1.2015, 2013/08/0056, und die dort angeführte Rechtsprechung des EuGH).
19 Der Ausdruck „Wohnort“ nach Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 hat somit eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung. Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein für den „Wohnort“ in diesem Sinn nicht konstitutiv. Selbst der Umstand, dass ein Betroffener über einen langen und ununterbrochenen Zeitraum in einem Mitgliedstaat bleibt, führt nicht unbedingt dazu, dass er dort im Sinn von Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 wohnt (vgl. EuGH 5.6.2014, I/Health Service Executive, C-255/13, Rn. 43ff).
20 Wie die Revision zutreffend aufzeigt, kann der „Wohnort“ des Mitbeteiligten nach Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 daher - entgegen den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts - nicht durch eine Gegenüberstellung der zeitlichen Dauer des Aufenthaltes im Verlauf der Woche in Polen und in Österreich bestimmt werden. Auch den Eintragungen im Zentralen Melderegister nach dem Meldegesetz 1991 ist keine maßgebliche Bedeutung zuzumessen.
21 Es bedarf vielmehr einer näheren Auseinandersetzung mit den genannten für die Bestimmung des Wohnortes nach Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 relevanten Kriterien. Dabei ist zu beachten, dass der Mitbeteiligte während seiner Beschäftigung in Österreich familiäre Anknüpfungspunkte sowohl in Polen als auch in Österreich hatte. Entgegen der Annahme des AMS kann daher allein daraus, dass der Mitbeteiligte während der Beschäftigung in Österreich die Wochenenden bei seiner Ehegattin in Polen verbrachte, noch nicht abgeleitet werden, dass sich der „Mittelpunkt seiner Interessen“ und damit sein „Wohnort“ im genannten Sinn in Polen befand. Vielmehr sind zur Beurteilung genauere Feststellungen zu seinen tatsächlichen Lebensverhältnissen, nämlich sowohl zu seiner familiären Situation als auch zur sozialen Integration in Österreich bzw. Polen, erforderlich (vgl. in diesem Sinn nochmals VwGH 28.1.2015, 2013/08/0056). Indizien zur Bestimmung des Wohnortes könnten sich im vorliegenden Fall etwa durch die konkrete Ausgestaltung der Unterkünfte in Polen und in Österreich bzw. das Bestehen von Eigentums- bzw. Bestandverhältnissen, die eine dauerhafte Bindung des Mitbeteiligten erkennen lassen (vgl. in diesem Sinn VwGH 2.6.2016, Ra 2016/08/0047, Rn. 23), sowie aufgrund der Personen, mit denen der Mitbeteiligte - etwa auch aufgrund welcher Bindungen und Abhängigkeiten - zur Zeit seiner Beschäftigung an den Wochenenden in Polen bzw. während der Arbeitswoche in Österreich im Wohnverband gelebt hat, und auch durch die sonstige soziale Integration des Mitbeteiligten in Polen bzw. Österreich ergeben.
22 In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass der Ausdruck „Beschäftigung“ laut Art. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation bezeichnet, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. In diesem Sinn ist daher nicht nur eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit während eines aufrechten Dienstverhältnisses, sondern insbesondere auch die Zeit des Bezuges von Krankengeld aus der Krankenversicherung aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses nach §§ 138 ff ASVG - selbst wenn das Dienstverhältnis bereits gelöst wurde - als Ausübung einer Beschäftigung im Sinn der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzusehen (vgl. Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg.], Art. 1 VO 883/2004 Rz 4). Die Zeit des Bezuges von Krankengeld durch den Mitbeteiligten von 1. Jänner 2014 bis 2. Dezember 2014 ist daher als eine Zeit der (letzten) Beschäftigung im Sinn von Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzusehen.
23 Der Mitbeteiligte hat sich nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts „seit“ 29. September 2013 „zuerst stationär, dann ambulant“ in Polen in Behandlung befunden. Die Revision ist grundsätzlich damit im Recht, dass sich - insbesondere neben den bereits genannten Kriterien auch abhängig von der Dauer der stationären Behandlung in Polen bzw. des Aufenthaltsortes während der Zeit der ambulanten Behandlung, wozu Feststellungen fehlen - allenfalls ergeben könnte, dass sich der Wohnort des Mitbeteiligten (zumindest) seit Beginn der Behandlung (wieder) in Polen befand. Das kann allerdings nur dann gelten, wenn die Wahl der Behandlung in Polen auf einer persönlichen Entscheidung des Mitbeteiligten beruhte und nicht bloß durch zwingende äußere Umstände - etwa durch einen akut aufgetretenen, einen Ortswechsel verhindernden Krankheitszustand während eines (vorübergehenden) Aufenthaltes - verursacht wurde (vgl. in diesem Sinn nochmals EuGH 5.6.2014, I/Health Service Executive, C-255/13, insbesondere Rn. 56).
24 Da das Bundesverwaltungsgericht somit bei Beurteilung des Wohnortes im Sinn des Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 19. Dezember 2017
Gerichtsentscheidung
EuGH 61976CJ0076 Di Paolo VORABEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017080027.L00Im RIS seit
08.06.2021Zuletzt aktualisiert am
09.06.2021