Entscheidungsdatum
02.01.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W246 2140682-1/12E
Schriftliche Ausfertigung des am 17.11.2017 mündlich verkündeten Erkenntnisses:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Heinz VERDINO als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.10.2016, Zl. 1075045706-150732799, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 17.11.2018 erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 24.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 25.06.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er u.a. an, seine Heimat bereits als Kind mit seiner Familie wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen zu haben. Er selbst habe damals keine eigenen Fluchtgründe gehabt.
3. Am 03.09.2015 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
4. Mit Bescheid vom 07.09.2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 70/2015, als unzulässig zurück und führte aus, dass für die inhaltliche Prüfung des Antrages Ungarn zuständig sei. Gleichzeitig ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl über den Beschwerdeführer gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 70/2015, die Außerlandesbringung an und erklärte seine Abschiebung nach § 61 Abs. 2 leg.cit. für zulässig.
5. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 29.09.2015 gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 84/2015, statt und behob den bekämpften Bescheid.
6. Am 21.06.2016 erfolgte eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.
Dabei gab der Beschwerdeführer an, dass seine Familie damals in den Iran gereist sei, weil sie Probleme mit den Mudschaheddins wegen der Grundstücke der Familie des Beschwerdeführers gehabt habe. Sein Vater sei im Jahr 2001 in den Iran gegangen und im Jahr 2004 nach Afghanistan zurückgekehrt, weil er die Grundstücke wiedererlangen habe wollen. Dann sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen, bei der ein Onkel und ein Cousin des Beschwerdeführers ums Leben gekommen seien. Der Vater des Beschwerdeführers sei verletzt worden, habe aber in den Iran fliehen können.
7. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 24/2016, und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan in Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. ab. Weiters erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg.cit., erließ ihm gegenüber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 25/2016, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016, und stellte gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg.cit. zulässig sei (Spruchpunkt III.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg.cit. die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen damit, dass sich im Fall des Beschwerdeführers keine Hinweise auf eine Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe ergeben hätten.
Zu Spruchpunkt II. führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar sei, weil bei ihm keine individuellen Umstände vorliegen würden, wonach er bei einer Rückkehr in eine derart extreme Notlage geraten würde, die eine unmenschliche Behandlung iSd Art. 3 EMRK darstellen würde. Eine wirtschaftliche Notlage des Beschwerdeführers sei nicht hervorgekommen. Er sei gesund sowie arbeitsfähig und könnte bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Hilfe der Unterstützung seines Familienverbandes seinen Lebensunterhalt bestreiten.
Schließlich führt der angefochtene Bescheid aus, dass die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gegenüber den privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich überwiegen würden und ein Eingriff in seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte daher als gerechtfertigt anzusehen sei.
8. Mit Verfahrensanordnung vom 11.10.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 25/2016, die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
9. Der Beschwerdeführer erhob gegen den oben genannten Bescheid vom 10.10.2016 fristgerecht Beschwerde, welche am 03.11.2016 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte.
Die Beschwerde rügt insbesondere die mangelnde Ermittlungstätigkeit des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Der asylrelevante Sachverhalt, konkret die als Anlass zur Flucht der Familie in den Iran bestehende blutige Fehde rund um das Familienvermögen in Afghanistan samt bis heute andauernder Bedrohung sämtlicher Familienmitglieder des Beschwerdeführers, wäre vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingehender zu ermitteln gewesen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verkenne mit seinen Ausführungen die Gefahr einer über Generationen andauernden Blutfehde, die sich auch gegen unbeteiligte Familienmitglieder richten könne.
10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.11.2017 u.a. in Anwesenheit der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der er ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde.
Dabei gab der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertreterin an, dass in seinem Fall ein kumulatives Gefährdungsprofil nach den UNHCR-Richtlinien vorliegen würde. Es handle sich bei ihm um eine Person, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als "verwestlicht" wahrgenommen werden würde, die vermeintlich gegen soziale Sitten verstoße und die vom Islam abgefallen sei. Weiters sei er in eine Blutfehde verwickelt, wobei er selbst nicht der Auslöser dieser Blutfehde sei. Er habe nachvollziehbar dargelegt, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan asylrechtlich relevante Verfolgung drohen würde, weshalb ihm der Asylstatus zuzuerkennen sei.
In eventu lägen aber jedenfalls Gründe hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vor. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan im Alter von ca. vier Jahren verlassen und sei danach nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei ihm nicht möglich, er würde dort als Ausländer angesehen werden, zumal er einen erkennbaren Dialekt spreche. Außer einer Tante mütterlicherseits habe der Beschwerdeführer keine Verwandten mehr in Afghanistan; zu dieser Tante bestehe aber kein Kontakt und wisse er nicht, wo sie lebe. Es sei nicht davon auszugehen, dass ihn seine im Iran aufhältigen Familienmitglieder im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung in Kabul-Stadt oder Mazar-e Sharif finanziell unterstützen würden.
Der Beschwerdeführer legte in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht neben mehreren Unterlagen zum Nachweis seiner Integration in Österreich einen Bericht "Afghanistan – Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner vom 04. Mai 2016" (Beilage ./7 des Verhandlungsprotokolls), einen Artikel von Stahlmann, Überleben in Afghanistan? Asylmagazin 3/2017 (Beilage ./8) sowie ein Referat von Ruttig vom 12.04.2017, Notiz Afghanistan – Alltag in Kabul, (Beilage ./9) vor.
Nach Schluss der Verhandlung verkündete der Richter das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Das Verhandlungsprotokoll vom 17.11.2017 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen samt Hinweis auf die mündliche Verkündung mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.11.2017 übermittelt.
11. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beantragte mit Schreiben vom 21.11.2017 fristgerecht eine schriftliche Ausfertigung des am 17.11.2017 mündlich verkündeten Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Ghezelbash, einer Untergruppe der Volksgruppe der Tadschiken, und schiitischer Muslim.
Er ist in einem Dorf in der Provinz Balkh in Afghanistan geboren, von wo aus er gemeinsam mit seiner Familie im Alter von ca. vier Jahren in den Iran gegangen ist. Im Iran besuchte der Beschwerdeführer für ca. neun Jahre die Schule. Der Beschwerdeführer übte in Afghanistan und im Iran keine berufliche Tätigkeit aus. Er war nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von ca. vier Jahren nie mehr in Afghanistan aufhältig.
Die Kernfamilie des Beschwerdeführers, bestehend aus seinen Eltern und seinen vier Brüdern, ist nach wie vor im Iran aufhältig; eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in den USA, eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in Italien. Die im Iran aufhältigen Familienangehörigen des Beschwerdeführers leben v.a. von den Einkommen seiner Brüder aus einer Schneiderwerkstatt und einer Schuhmacherwerkstatt.
Der Beschwerdeführer hat eine Tante und zwei Cousins mütterlicherseits (die Söhne dieser Tante), die seiner Vermutung nach aktuell in Afghanistan leben. Der Beschwerdeführer steht mit diesen Familienangehörigen nicht in Kontakt. Der genaue Aufenthaltsort dieser Familienangehörigen kann nicht festgestellt werden. Auch ansonsten verfügt der Beschwerdeführer über keine familiären oder sonstigen sozialen Kontakte in Afghanistan.
Der Beschwerdeführer spricht Dari mit einem erkennbaren "Farsi-Akzent", wie er für den Iran typisch ist.
1.1.2. Der Beschwerdeführer reiste aus dem Iran aus und im Frühjahr 2015 nach Österreich ein, wo er am 24.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.1.3. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.1.4. Das vom Beschwerdeführer behauptete Fluchtvorbringen (betreffend seine Verfolgung in Afghanistan auf Grund einer aus einem Grundstücksstreit resultierenden Blutfehde) kann nicht festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer führt sein Leben entgegen der islamischen Denkweise und Sitten, was sich u.a. darin äußert, dass er Alkohol trinkt – er ist ein "westlich orientierter" Mann; der Vater des Beschwerdeführers unterstützt seine Lebensweise nicht, weshalb zwischen ihnen auch kein gutes Verhältnis besteht. Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich beinahe sein gesamtes Leben im Iran und in der Folge in Europa aufgehalten hat und daher "westlich orientiert" ist, bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus dem Iran und Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.
1.2. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Provinz Balkh ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb der Provinz Balkh, insbesondere in der Stadt Kabul oder in der Stadt Mazar-e Sharif, liefe der Beschwerdeführer Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017 samt Aktualisierung von September 2017 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
Sicherheitslage in den einzelnen Provinzen
Kabul
Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham-Autobahn verbunden. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten (Pajhwok o.D.z). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.523.718 geschätzt (CSO 2016).
Im Zeitraum 1.9.2015 - 31.5.2016 wurden im Distrikt Kabul 151 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).
Provinz Kabul
Im Zeitraum 1.9.2015 - 31.5.2016 wurden in der gesamten Provinz Kabul 161 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren (USDOD 12.2015). Aufständischengruppen planen oft Angriffe auf Gebäude und Individuen mit afghanischem und amerikanischem Hintergrund: Afghanische und US-amerikanische Regierungseinrichtungen, ausländische Vertretungen, militärische Einrichtungen, gewerbliche Einrichtungen, Büros von Nichtregierungsorganisation, Restaurants, Hotels und Gästehäuser, Flughäfen sowie Bildungszentren (Khaama Press 13.1.2017). Nach einem Zeitraum länger andauernder relativer Ruhe in der Hauptstadt explodierte im Jänner 2017 in der Nähe des afghanischen Parlaments eine Bombe; bei diesem Angriff starben mehr als 30 Menschen (DW 10.1.2017). Die Taliban bekannten sich zu diesem Vorfall und gaben an, hochrangige Beamte des Geheimdienstes wären ihr Ziel gewesen (BBC News 10.1.2017).
In der Provinz Kabul finden regelmäßig militärische Operationen statt (Afghanistan Times 8.2.2017; Khaama Press 10.1.2017; Tolonews 4.1.2017; Bakhtar News 29.6.2016). Taliban-Kommandanten der Provinz Kabul wurden getötet (Afghan Spirit 18.7.2016). Zusammenstöße zwischen Taliban und Sicherheitskräften finden statt (Tolonews 4.1.2017a).
Regierungsfeindliche Aufständische greifen regelmäßig religiöse Orte, wie z.B. Moscheen, an. In den letzten Monaten haben eine Anzahl von Angriffen, gezielt gegen schiitische Muslime, in Hauptstädten wie Kabul und Herat stattgefunden (Khaama Press 2.1.2017; vgl. auch: UNAMA 6.2.2017).
Balkh
Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Hauptstadt Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana [Anm.:
Provinzhauptstadt Faryab] und Pul-e-Khumri [Anm.: Provinzhauptstadt Baghlan]. Sie hat folgende administrative Einheiten: Hairatan Port, Nahra-i-Shahi, Dihdadi, Balkh, Daulatabad, Chamtal, Sholgar, Chaharbolak, Kashanda, Zari, Charkont, Shortipa, Kaldar, Marmal, und Khalm. Die Provinz grenzt im Norden an Tadschikistan und Usbekistan. Die Provinz Samangan liegt sowohl östlich als auch südlich von Balkh. Die Provinz Kunduz liegt im Osten, Jawzjan im Westen und Sar-e Pul im Süden (Pajhwok o.D.y). Balkh grenzt an drei zentralasiatische Staaten an: Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan (RFE/RL 9.2015). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.353.626 geschätzt (CSO 2016).
Im Zeitraum 1.1.2015 - 31.8.2015 wurden in der Provinz Balkh 226 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 21.1.2016).
Die zentral gelegene Provinz Balkh – mit ihrer friedlichen Umgebung, historischen Denkmälern und wunderschönen Landschaft – wird als einer der friedlichsten und sichersten Orte Afghanistans geschätzt (Xinhua 12.12.2016; DW 4.8.2016). Obwohl Balkh zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan zählt, versuchen dennoch bewaffnete Aufständische die Provinz zu destabilisieren. In den letzten Monaten kam es zu Vorfällen in Schlüsselbezirken der Provinz (Khaama Press 17.1.2017; vgl. auch: Khaama Press 14.12.2016; Xinhua 11.11.2016; Xinhua 1.10.2016). Laut dem Gouverneur Noor würden Aufständische versuchen, in abgelegenen Gegenden Stützpunkte zu errichten (Khaama Press 30.3.2016). Zusammenstöße zwischen Taliban und Sicherheitskräften finden statt (Khaama Press 30.3.2016; vgl. auch: Tolonews 26.5.2016; Tolonews 18.4.2016). In der Provinz wurden militärische Operationen durchgeführt (Kabul Tribune 5.1.2017). Dabei hatten die Taliban Verluste zu verzeichnen (Khaama Press 14.12.2016; Tolonews 26.5.2016). Auf Veranlassung des Provinzgouverneurs Atta Noor wurde auch in abgelegenen Gegenden großangelegte militärische Operationen durchgeführt (Khaama Press 17.1.2017; vgl. auch: Khaama Press 14.12.2016; Khaama Press 7.3.2016).
Die Stadt Mazar-e Sharif ist eine Art ‚Vorzeigeprojekt‘ Afghanistans für wichtige ausländische Gäste (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014). Balkh ist, in Bezug auf Angriffe der Taliban, zentralasiatischer Aufständischer oder IS-Kämpfer, die sicherste Provinz in Nordafghanistan. Grund dafür ist das Machtmonopol, das der tadschikisch-stämmige Gouverneur und ehemalige Warlord Atta Mohammed Noor bis in die abgelegensten Winkel der Provinz ausübt. Nichtsdestotrotz ist die Stabilität stark abhängig von den Beziehungen des Gouverneurs zum ehemaligen Warlord und nunmehrigen ersten Vizepräsidenten Abdul Rashid Dostum. Im Juni 2015 haben sich die beiden Rivalen darauf geeinigt, miteinander zu arbeiten, um die Sicherheit in Nordafghanistan wiederherzustellen. Die Stabilität der Provinz Balkh war ein Hauptfokus der NATO-Kräfte (RFE/RL 8.7.2015). Im Distrikt Balkh wird die Reduzierung von Rebellenaktivitäten der Leistungsfähigkeit der ANSF und des neuen Distriktpolizeichefs zugeschrieben (APPRO 1.2015).
Bei einem Angriff auf das deutsche Konsulat in Mazar-e Sharif waren am 10.11.2016 sechs Menschen getötet und fast 130 weitere verletzt worden (Die Zeit 20.11.2016). Nach Polizeiangaben attackierte am späten Abend ein Selbstmordattentäter mit seinem Auto das Gelände des deutschen Generalkonsulats in Mazar-e Sharif. Die Autobombe sei gegen 23:10 Uhr Ortszeit am Tor der diplomatischen Einrichtung explodiert, sagte der Sicherheitschef der Provinz Balkh. Bei den Toten soll es sich um Afghanen handeln. Alle deutschen Mitarbeiter des Generalkonsulats seien bei dem Angriff unversehrt geblieben (Die Zeit 10.11.2016). Das Gebäude selbst wurde in Teilen zerstört. Der überlebende Attentäter wurde dem Bericht zufolge wenige Stunden später von afghanischen Sicherheitskräften festgenommen (Die Zeit 20.11.2016).
Außerhalb von Mazar-e Sharif, in der Provinz Balkh, existiert ein Flüchtlingscamp – auch für Afghan/innen, die Schutz in der Provinz Balkh suchen. Mehr als 300 Familien haben dieses Camp zu ihrem temporären Heim gemacht (RFE/RL 8.7.2015).
Religionsfreiheit
Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7 - 89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch:
CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).
Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).
Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:
CSR 8.11.2016).
Im Strafgesetzbuch gibt es keine Definition für Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, für Frauen lebenslange Haft, sofern sie die Apostasie nicht bereuen. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte. Dennoch hatten Individuen, die vom Islam konvertierten, Angst vor Konsequenzen. Christen berichteten, dass sie aus Furcht vor Vergeltung Situationen vermieden, in denen es gegenüber der Regierung so aussehe, als ob sie missionieren würden (USDOS 10.8.2016).
Nichtmuslimische Minderheiten, wie Sikh, Hindu und Christen, sind sozialer Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, und in manchen Fällen sogar Gewalt. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht systematisch (USDOS 10.8.2016). Dennoch bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften vereinzelt Ämter auf höchster Ebene (CSR 8.11.2016). Im Mai 2014 bekleidete ein Hindu den Posten des afghanischen Botschafters in Kanada (RFERL 15.5.2014). Davor war Sham Lal Bathija als hochrangiger Wirtschaftsberater von Karzai tätig (The New Indian Express 16.5.2012).
Schiiten
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 19% geschätzt (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die ethnischen Hazara (USDOS 10.8.2016). Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan gibt es einige schiitische Belutschen (BFA Staatendokumentation 7.2016).
Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten (Ulema), als auch im Hohen Friedensrat sind Schiiten vertreten; beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe (AA 9.2016). Afghanische Schiiten und Hazara sind dazu geneigt weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein, als ihre religiösen Brüder im Iran (CRS 8.11.2016).
Die Situation der afghanisch schiitisch-muslimischen Gemeinde hat sich seit dem Ende des Taliban-Regimes wesentlich gebessert (USCIRF 30.4.2015). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung gegen die schiitische Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch gab es Berichte zu lokalen Vorfällen (USDOS 10.8.2016).
Ethnische Hazara sind gesellschaftlicher Diskriminierungen ausgesetzt (USDOS 13.4.2016). Informationen eines Vertreters einer internationalen Organisation mit Sitz in Kabul zufolge sind Hazara entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt (Vertrauliche Quelle 29.9.2015).
Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern – manche Paschtunen sind über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert (CRS 8.11.2016). Im November 2016 hat ein Kämpfer der IS-Terrormiliz während einer religiösen Zeremonie in der Bakir-al-Olum-Moschee – einer schiitischen Moschee in Kabul – am schiitischen Feiertag Arbain einen Sprengstoffanschlag verübt (Tolonews 22.11.2016; vgl. auch: FAZ 21.11.2016). Bei diesem Selbstmordanschlag sind mindestens 32 Menschen getötet und 80 weitere verletzt worden (Khaama Press 22.11.2016). In Kabul sind die meisten Moscheen trotz Anschlagsgefahr nicht besonders geschützt (FAZ 21.11.2016). Am 23. Juli 2016 wurde beim schwersten Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte die zweite Großdemonstration der Enlightenment-Bewegung durch den ISKP angegriffen. Dabei starben über 85 Menschen, rund 240 wurden verletzt. Dieser Schlag richtete sich fast ausschließlich gegen Schiiten (AA 9.2016).
Einige Schiiten bekleiden höhere Ämter (CRS 8.11.2016) sowie andere Regierungsposten. Schiiten verlautbarten, dass die Verteilung von Posten in der Regierung die Demographie des Landes nicht adäquat berücksichtige. Das Gesetz schränkt sie bei der Beteiligung am öffentlichen Leben nicht ein – dennoch verlautbarten Schiiten, dass die Regierung die Sicherheit in den Gebieten, in denen die Schiiten die Mehrheit stellten, vernachlässige. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen, während die Ismailiten hauptsächlich in Kabul, den zentralen und nördlichen Provinzen leben (USDOS 10.8.2016).
Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Manche Mitglieder der ismailitischen Gemeinde beschweren sich über Ausgrenzung von Position von politischen Autoritäten (USDOS 10.8.2015).
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2016 mehr als 33.3 Millionen Menschen (CIA 12.11.2016). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (Staatendokumentation des BFA 7.2016). Schätzungen zufolge sind 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch-iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4% der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2017).
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet."
(Staatendokumentation des BFA 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 13.4.2016).
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung verankert. Fälle von Sippenhaft oder sozialer Diskriminierung sind jedoch nicht auszuschließen und kommen vor allem in Dorfgemeinschaften auf dem Land häufig vor (AA 9.2016). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 13.4.2016).
Tadschiken
Die darisprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan (CRS 12.1.2015). Die Tadschiken machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus (GIZ 1.2017). Der Name t?jik (Tadschike) bezeichnete sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (Staatendokumentation des BFA 7.2016).
Der Hauptführer der ‚Nordallianz‘, eine politisch-militärische Koalition, ist Dr. Abdullah Abdullah, dessen Mutter Tadschikin und dessen Vater Paschtune ist. Er selbst identifiziert sich politisch gesehen als Tadschike, da er ein hochrangiger Berater von Ahmad Shah Masoud war. Mittlerweile ist er ‚Chief Executive Officer‘ in Afghanistan (CRS 12.1.2015).
Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (Brookings 31.10.2016).
Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge
Einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge verkomplizieren rückkehrende Flüchtlinge die Situation der bereits mehr als eine Million Binnenvertriebenen, deren Anzahl sich aufgrund des Aufstandes im Jahr 2016 erhöht hat. Nach Meinung des IWF wird dies die Kapazitäten des Landes überfordern (DAWN 28.1.2017).
Die Zahl der Internvertriebenen im Jahr 2017 betrug 9.759 (Stand 4. Februar 2017) (UN OCHA 5.2.2017). 636.503 Menschen wurden insgesamt im Jahr 2016 aufgrund des Konfliktes vertrieben (UN OCHA 29.1.2017). Mehr als die Hälfte dieser Menschen (56%) waren Kinder unter 18 Jahren. Von Binnenvertreibung betroffen waren 31 Provinzen in unterschiedlichem Ausmaß; alle 34 Provinzen beherbergten Binnenvertriebene. Im Jahr 2016 stammten die meisten Binnenvertriebenen aus den Provinzen Kunduz, Uruzgan, Farah und Helmand. Gleichzeitig nahmen die Provinzen Helmand, Takhar, Farah, Kunduz und Kandahar die meisten Binnenvertriebenen auf. Viele Menschen suchen also in der Nähe ihrer Heimat Schutz. Binnenvertriebene tendieren dazu, aus ländlichen Gebieten in die Provinzhauptstädte zu ziehen, oder in die angrenzenden Provinzen zu gehen. Sobald der Konflikt zu Ende ist, versuchen sie bald wieder nach Hause zu kehren (AAN 28.12.2016).
Der verhängnisvollste Monat war Oktober, in welchem die Taliban mehrere Provinzhauptstädte gleichzeitig angriffen: Kunduz City, Farah City, Maimana und Lashkar Gah. Der Anstieg der IDP-Zahlen ist auch auf den Rückzug internationaler Truppen zurückzuführen, die durch Luftangriffe unterstützten; mittlerweile haben die Taliban ihre Angriffstaktik geändert und sind zu Bodenoffensiven übergegangen. Bodenoffensiven sind nicht nur die Ursache für Tote und Verletzte innerhalb der Zivilbevölkerung, sondern zwingen die Menschen aus ihren Heimen zu fliehen (AAN 28.12.2016).
Im Rahmen von humanitärer Hilfe wurden Binnenvertriebene je nach Region und Wetterbedingungen unterschiedlich unterstützt: Bargeld, Pakete für Familien, winterliche Ausrüstung, Nahrungspakete, Hygienepakete, Decken, Zelte und andere Pakete, die keine Nahrungsmittel enthielten usw. Auch wurde Aufklärung in Bereichen wie Hygiene betrieben (UN OCHA 5.2.2017; vgl. auch: UN OCHA 29.1.2017; UN OCHA 1.11.2016; UN OCHA 1.10.2016; vgl. ACBAR 7.11.2016).
Unterschiedliche Organisationen, wie z.B. das Internationale Rote Kreuz (IRC) oder das Welternährungsprogramm (WFP) usw., sind je nach Verantwortungsbereichen für die Verteilung von Gütern zuständig.
Dazu zählten: Nahrung, Zelte sowie andere Güter, die keine Nahrungsmittel waren (IOM 17.4.2016; vgl. auch ACBAR 15.5.2016).
UNHCR unterstützt Rückkehrer/innen mit finanziellen Beihilfen in vier Geldausgabezentren, außerdem mit Transiteinrichtungen und elementaren Gesundheitsleistungen. Zusätzlich wurden sie in anderen Bereichen aufgeklärt, wie z.B. Schuleinschreibungen, Gefahren von Minen etc. (UNHCR 6.2016).
2017
Im Jänner 2017 wurde ein humanitärer Plan für US$ 550 Millionen aufgestellt, mit dem Ziel, im Jahr 2017 die vulnerabelste und marginalisierteste Bevölkerung des Landes zu unterstützen. Ziel sind strategische und lebensnotwendige Interventionen: Nahrung, Unterkunft, Gesundheitsvorsorge, Ernährung, sauberes Wasser und Hygiene. Im Rahmen des "Afghanistan 2017 Humanitarian Response Plan" sollen etwa 5,7 Millionen Menschen erreicht werden (UN News Centre 23.1.2017).
2016
Im September 2016 suchten die Vereinten Nationen um 152 Millionen US Dollar an, um lebensnotwendige Hilfe für Internvertriebene, nicht-dokumentierte Rückkehrer/innen und registrierte Flüchtlingen bieten zu können. Von den zugesagten 42 Millionen US Dollar wurden 40,2 Millionen US Dollar bereits entgegengenommen. Somit stand die gesamte humanitäre Unterstützung für Afghanistan im November 2016 bei 401 Millionen US Dollar (UN GASC 13.12.2016).
Rückkehr
Seit Jänner 2016 sind mehr als 700.000 nicht registrierte Afghanen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt (Thomson Reuters Foundation 12.1.2017); viele von ihnen sind laut Internationalem Währungsfonds (IMF) hauptsächlich aus Pakistan, aus dem Iran, Europa und anderen Regionen nach Afghanistan zurückgekehrt. Viele Afghan/innen, die jahrzehntelang im Ausland gelebt haben, kehren in ihr Land zurück und sind Konflikten, Unsicherheit und weitreichender Armut ausgesetzt. Aufgrund schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen sind Rückkehrer/innen im Allgemeinen arm. Auch wenn reichere Rückkehrer/innen existieren, riskiert ein typischer rückkehrender Flüchtling in die Armut abzurutschen (RFL/RE 28.1.2017). Die meisten Rückkehrer/innen (60%) entschlossen sich – laut UNHCR – dazu, in den städtischen Gegenden Kabuls, Nangarhars und von Kunduz niederzulassen (UNHCR 6.2016).
IOM verlautbarte eine Erhöhung von 50.000 Rückkehrer/innen gegenüber dem Vorjahr. UNHCR hat im Jahr 2016 offiziell 372.577 registrierte Afghanen in die Heimat zurückgeführt. Laut UNHCR und IOM waren der Großteil der Rückkehrer junge Männer aus dem Iran, die auf der Suche nach Arbeit oder auf dem Weg nach Europa waren (Thomson Reuters Foundation 12.1.2017). Der Minister für Flüchtlinge und Repatriierung sprach sogar von einer Million Flüchtlingen, die im letzten Jahr nach Afghanistan zurückgekehrt sind; davon sind über 900.000 freiwillig in ihre Heimat zurückgekehrt (Khaama Press 17.1.2017).
Afghanische Rückkehrer/innen, afghanische Flüchtlinge und nicht registrierte Afghan/innen
Pakistan
Pakistan hat seit 1978 nicht weniger als eine Million Afghan/innen beherbergt. In den Jahren 1986 bis 1991 waren etwa drei Millionen Flüchtlinge in Pakistan. Zwischen 2002 und 2015 unterstützte UNHCR 3,9 Millionen Afghan/innen bei der Rückkehr. Der Großteil davon kehrte bis Ende 2008 zurück, danach ging die Rückkehrrate signifikant zurück (HRW 13.2.2017).
Wegen zunehmender Spannungen zwischen der afghanischen und pakistanischen Regierung (Die Zeit 13.2.2017) waren im Jahr 2016
249.832 Afghan/innen entweder freiwillig oder durch Abschiebung aus Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt (Stand: 7.1.2017) (IOM 8.1.2017).
Bis Ende 2017 soll eine weitere halbe Million Afghan/innen aus Pakistan zurückkehren. Die Anzahl der Rückkehrer/innen ist in den letzten zwei Jahren stetig gestiegen (DAWN 12.1.2017). In der ersten Jännerwoche 2017 kehrten 1.643 nicht registrierte Afghan/innen aus Pakistan (freiwillig oder im Rahmen von Abschiebungen) nach Afghanistan zurück (IOM 8.1.2017). In der zweiten Jännerwoche sind insgesamt 1.579 nicht registrierte Afghan/innen über Nangarhar und Kandahar entweder freiwillig oder im Zuge von Abschiebungen zurückgekehrt. IOM hat im Berichtszeitraum 79% nicht registrierte Afghan/innen unterstützt; dies beinhaltete Essen und Unterbringung in Transitzentren in Grenznähe sowie Haushaltsgegenstände und andere Artikel für Familien, spezielle Unterstützung für Personen mit speziellen Bedürfnissen, eine Ein-Monatsration vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme – WFP) und andere relevante Hygieneartikel. Im Rahmen einer Befragung gaben 76% der Befragten Ende 2016 an, Nangarhar als Niederlassungsprovinz zu wählen, für 16% war dies Kabul, für 4% war es Laghman, 2% gingen nach Kunar und weitere 2% nach Logar (IOM 15.1.2017).
Im Februar 2017 veröffentlichte Human Rights Watch (HRW) einen Bericht, in dem von "Zwangsrückführungen" afghanischer Flüchtlinge gesprochen wird (HRW 13.2.2017). Der HRW-Bericht basiert auf 115 Interviews mit afghanischen Rückkehrer/innen nach Afghanistan sowie afghanischen Flüchtlingen und nicht registrierten Afghan/innen in Pakistan (DAWN 13.2.2017; vgl. auch: HRW 13.2.2017). UNHCR hatte im Juni 2016 die finanzielle Unterstützung für jede(n) Rückkehrer/in von US$ 200,-- auf US$ 400,-- erhöht (HRW 13.2.2017). HRW argumentiert, dies sei ein Faktor, der afghanische Flüchtlinge dazu bewogen habe, nach Afghanistan zurückzukehren. Laut UNHCR wurden
4.500 Rückkehrer/innen bei ihrer Ankunft interviewt, von denen keiner die Bargeldzuschüsse als primären Faktor für die Rückkehrentscheidung angab (DAWN 13.2.2017). Als Gründe für die Rückkehr wurde unter anderem Folgendes angegeben: Einrichtung formeller Grenzkontrolle in Torkham; große Besorgnis über die Gültigkeit der Proof of Registration Card (PoR-Cards); Kampagne der afghanischen Regierung in Pakistan ("home sweet home”), die Afghan/innen bat, nach Hause zurückzukehren (UNHCR 3.2.2017).
Iran
Seit 1. Jänner 2016 sind insgesamt 461.112 nicht-registrierte Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. In der zweiten Jännerwoche 2017 sind insgesamt 9.378 nicht registrierte Afghan/innen nach Afghanistan durch Herat oder Nimroz zurückgekehrt; von diesen sind 3.531 freiwillig und 5.847 im Zuge von Abschiebungen zurückgekehrt. 2% der nicht registrierten Afghan/innen, die in den Transitzentren in Herat oder Nimroz ankamen, wurden von IOM unterstützt. Dazu zählten 101 UMF (Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge), denen IOM eine besondere Unterstützung zukommen ließ, inklusive medizinischer Behandlung, sicherer Unterkünfte und der Suche nach Familienangehörigen (IOM 15.1.2017).
Ein UNHCR-Vertreter berichtete, dass afghanische Flüchtlinge in Gegenden zurückkehrten, in denen der Friede wiederhergestellt wurde. Dennoch sei es schwierig, alle afghanischen Flüchtlinge eines Jahres zu verteilen, da der Iran afghanische Migrant/innen zurückschickt und Afghanistan eine Anzahl wohnungsloser Menschen hat, die zusätzlich die Situation verkomplizieren (Pakistan Observer 2.1.2017). Die IOM-Transitzentren in Grenznähe bieten elementare Unterkünfte, Schutz für unbegleitete Minderjährige, Haushaltsgegenstände (Töpfe und Pfannen) sowie Transportmöglichkeiten für Familien, um sich in ihren Wunschgebieten ansiedeln zu können (DAWN 12.1.2017).
Unterstützung durch verschiedene Organisationen vor Ort
Eine steigende Zahl von Institutionen bietet Mikrofinanzleistungen an. Die Voraussetzungen hierfür unterscheiden sich, wobei zumeist der Fokus auf die Situation/Gefährdung des Antragenden und die Nachhaltigkeit des Projekts gelegt wird. Rückkehrer und insbesondere Frauen erhalten regelmäßig Unterstützung durch Mikrofinanzleistungen. Jedoch sind die Zinssätze in der Regel vergleichsweise hoch (IOM 2016).
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme – WFP) hat in Afghanistan eine neunmonatige Operation eingeleitet, um die wachsende Zahl der Rückkehrer/innen aus Pakistan und Binnenvertriebene zu unterstützen, indem ihnen Notfallsnahrung und andere Mittel zur Verfügung gestellt werden:
Sowohl das WFP als auch andere UN-Organisationen arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen sowie Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen. Die Organisation bietet 163.000 nicht-registrierten Rückkehrer/innen, 200.000 dokumentierten Rückkehrer/innen und 150.000 binnenvertriebenen Flüchtlingen Nahrungs- und Finanzhilfe an; auch 35.000 Flüchtlinge in den Provinzen Khost und Paktika wurden unterstützt. Das WAFP hat seine Unterstützungen in Ostafghanistan verstärkt, um Unterernährung zu vermeiden; das WFP unterstützte mehr als 23.000 Kleinkinder aus Rückkehrer-Familien. Ziel des WFP ist es, 550.000 Menschen durch Notfallsorganisationen zu helfen (UN News Centre 15.11.2016).
Einige Länder arbeiten auch eng mit IOM in Afghanistan im Rahmen des Programms Assisted Voluntary Return zusammen, insbesondere, um die Reintegration zu erleichtern. IOM bietet Beratung und psychologische Betreuung im Aufnahmeland, Unterstützung bei Reiseformalitäten, Ankunft in Kabul und Begleitung der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Gewährung eines Anstoßkredits an. Obwohl IOM Abschiebungen nicht unterstützt und keine Abschiebungsprogramme durchführt, gibt IOM auch abgeschobenen Asylbewerber/innen Unterstützung nach der Ankunft im Land (AA 9.2016). Mit Ausnahme von IOM gibt es keine weiteren Organisationen, die Unterstützung bei der Reintegration von Rückkehrer/innen in Afghanistan anbieten (IOM 2016).
1.3.2. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 12.06.2015 zur Situation von afghanischen Staatsangehörigen, die aus dem Iran oder Pakistan nach Afghanistan zurückkehren (a-9219):
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In einem im August 2014 veröffentlichten Artikel für die British & Irish Agencies Afghanistan Group (BAAG), ein Dachverband von in Afghanistan tätigen britischen und irischen Hilfsorganisationen, berichtet die freiberufliche Forscherin und Autorin Vanessa Thevathasan über die Lage junger afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran und Pakistan. Laut Thevathasan seien viele nach ihrer Rückkehr aufgrund des anhaltenden Konflikts und der schlechten Sicherheitslage zu Binnenvertriebenen geworden. Sie seien gezwungen, in Zelten zu leben, und hätten nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser.
Die Mehrheit der AfghanInnen sichere sich den Lebensunterhalt durch Subsistenzlandwirtschaft und informellen Handel. In den Städten seien die meisten entweder selbstständig oder GelegenheitsarbeiterInnen. Die Verankerung dieses informellen Sektors sowie der Mangel an grundlegenden Diensten habe Afghanistans Fähigkeit untergraben, der Forderung der internationalen Gemeinschaft nach einer organisierten Rückkehr und Reintegration afghanischer Flüchtlinge nachzukommen. Die Situation sei besonders für zurückkehrende afghanische Jugendliche hart [ ]
Stars and Stripes, eine Nachrichtenwebsite, deren Aufgabe es laut eigenen Angaben ist, die US-Militärgemeinde mit unabhängigen Nachrichten und Informationen zu versorgen, schreibt in einem Artikel vom Jänner 2015, dass sich immer noch mehr als 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge im Ausland aufhalten würden, vor allem in den Nachbarländern Pakistan und Iran. Angesichts wirtschaftlicher Probleme und der zunehmenden Gewalt sei das Ausmaß der freiwilligen Rückkehr auf 16.000 Personen im Jahr 2014 zurückgegangen. Im Jahr zuvor seien noch mehr als doppelt so viele Personen zurückgekehrt.
Zurückkehrende Flüchtlinge hätten Zugang zu einer Reihe internationaler Hilfsmaßnahmen, etwa Zuschüssen von rund 200 US-Dollar als Hilfe zur Deckung von Transport- und Reintegrationskosten, temporären Unterkünfte, Unterweisungen in den Bereichen rechtliche Hilfe und (Aus-)Bildung, sowie Impfungen für Kinder. Die afghanische Regierung habe zurückkehrenden Flüchtlingen und anderen vertriebenen Personen Land zugewiesen, allerdings sei die Fähigkeit der Regierung, andere Dienste wie (Aus-)Bildung und Gesundheitsversorgung bereitzustellen, begrenzt.
Einem für die Provinz Herat zuständigen Offiziellen zufolge würden Flüchtlinge alles verlieren, wenn sie versuchen würden, wieder nach Afghanistan zu kommen. Die afghanische Regierung verfüge nicht über die nötigen Ressourcen, um allen zu helfen.
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Die Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), eine unabhängige Forschungsorganisation mit Sitz in Kabul, geht in einem Bericht vom Juli 2009 auf die Erfahrungen junger AfghanInnen bei ihrer Rückkehr aus Pakistan und dem Iran ein. Wie der Bericht anführt, sei die soziale Ablehnung durch AfghanInnen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben seien, eine schwierige Erfahrung für einige RückkehrerInnen der zweiten Generation gewesen. Es gebe zwei wichtige Gründe, warum Flüchtlinge der zweiten Generation bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mit dieser sozialen Exklusion konfrontiert seien: Zum einen könnten einige Flüchtlinge als ‚Eindringlinge‘ in die afghanische Gesellschaft angesehen werden, zum zweiten könnte es sich um das erste Mal handeln, dass sie als AfghanInnen mit tiefgreifenden ethnischen und Stammes-Unterschieden unter ihren Landsleuten konfrontiert würden.
Rund ein Viertel der befragten RückkehrerInnen, die meisten aus dem Iran, aber auch einige aus Pakistan, hätten berichtet, dass sie bzw. Familienangehörige oder Freunde von anderen AfghanInnen wegen ihrer Rückkehr aus einem anderen Land geächtet worden seien. Bei den RückkehrerInnen, die dies berichtet hätten, habe es sich vor allem um alleinstehende, gebildete und weibliche Personen gehandelt. Zurückgekehrte Frauen seien relativ einfach anhand ihrer Kleidung auszumachen und ihre Erscheinung und ihr Verhalten könnten im Widerspruch zu den lokalen kulturellen Erwartungen und sozialen Codes stehen. Bei diesen RückkehrerInnen handle es sich eindeutig um ‚AußenseiterInnen‘, die leichte Ziele für Schikanierungen seitens anderer AfghanInnen darstellen würden. Insbesondere dann, wenn Flüchtlinge der zweiten Generation sich sehr stark in die pakistanische oder iranische Lebensweise integriert hätten und nicht wüssten, was für AfghanInnen "normal" sei, bzw. sich nicht dementsprechend verhalten könnten, könnten sie als ‚verwöhnt‘, ‚Nichtstuer‘ oder ‚nicht afghanisch‘ betrachtet werden.
Im Großen und Ganzen scheine es eine generelle negative Einstellung gegenüber einigen RückkehrerInnen zu geben, denen von einigen in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen werde, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben. Einer der Gründe für diese Vorwürfe sei Angst im Zusammenhang mit der Konkurrenz um Ressourcen. RückkehrerInnen der zweiten Generation, bei denen es wahrscheinlich sei, dass sie sich in einer besseren sozioökonomischen Lage befinden würden als Personen, die in Afghanistan geblieben seien, würden von ihren Landsleuten, die ihr ‚Territorium‘ in den Bereichen Bildung, Arbeit, Eigentum und sozialer Status bedroht sehen würden, manchmal als unerwünschte Eindringlinge angesehen. Darüber hinaus scheine es eine stereotype Wahrnehmung von zurückgekehrten Mädchen und Frauen zu geben, wonach diese ‚freier‘ seien. Dies hänge mit der generellen Wahrnehmung der AfghanInnen von pakistanischen und iranischen Frauen zusammen. Afghanische Flüchtlinge der zweiten Generation würden diese Frauen oftmals als ‚freier‘ ansehen, sowohl in negativer (z.B. Scham in Verbindung mit einem weniger moralischen Verhalten) als auch in positiver Hinsicht (z.B. besserer Zugang zu Bildung und Arbeit). Die jungen RückkehrerInnen, die in Pakistan und im Iran aufgewachsen seien, würden von den in Afghanistan Verbliebenen ähnlich betrachtet.
Wie der Bericht weiters anführt, werde Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen von Flüchtlingen der zweiten Generation noch intensiver erlebt als von Flüchtlingen der ersten Generation oder AfghanInnen, die bereits Erfahrungen in Afghanistan gemacht hätten und sich dieser Realität bewusster seien
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In einer im September 2013 eingereichten Masterarbeit an der japanischen Ritsumeikan Asia Pacific University geht Ahmadi Yaser Mohammad Ali ebenfalls auf die Lage afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran ein. Die nötigen Informationen für die Arbeit wurden unter anderem mittels Interviews mit 17 Haushaltsvorständen (im Alter von 24 bis 70) in zwei Stadtvierteln von Kabul, in denen viele RückkehrerInnen aus dem Iran leben würden, gesammelt. Wie Ali anführt, hätten sich viele der Befragten darüber beschwert, dass die afghanische Gesellschaft eine negative Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus dem Iran habe. Allerdings sei dieses Problem vor allem von Flüchtlingen der zweiten Generation angesprochen worden.
Mit Verweis auf den weiter oben bereits zitierten AREU-Bericht von 2009 erläutert Ali, dass Flüchtlinge der zweiten Generation aufgrund der Diskriminierung, mit der sie im Iran konfrontiert gewesen seien, unter großem Druck gestanden hätten, in der Öffentlichkeit iranisches Persisch zu sprechen. Wegen ihres Akzents würden sie bei ihrer Rückkehr leicht als RückkehrerInnen ausgemacht, was zu sozialer Ausgrenzung führen könne. Einem Bericht der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission zufolge seien diese RückkehrerInnen auch mit Diskriminierung und Erniedrigung seitens einiger staatlicher Einrichtungen, darunter auch Bildungseinrichtungen, konfrontiert. In manchen Fällen seien sie aufgrund ihres Akzents und ihrer Kleidung ihrer Rechte beraubt worden.
Wie Ali weiters anführt, habe die afghanische Regierung im Jahr 2001 ein Dekret erlassen, das die Diskriminierung von RückkehrerInnen verbiete. Trotz dieses Dekrets seien sich alle Befragten einig gewesen, dass RückkehrerInnen aus dem Iran von der Bevölkerung und der Regierung diskriminiert und schikaniert würden. Im Gegensatz dazu sei in der nationalen afghanischen Entwicklungsstrategie der afghanischen Regierung aus dem Jahr 2008 angeführt worden, dass es kein Muster von Diskriminierungen von RückkehrerInnen gegeben habe, auch wenn die Reintegration dieser Personen eine Herausforderung darstelle [ ]"
1.3.3. Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen Hila ASEF vom 15.09.2017 zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran und aus Pakistan (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
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Berichten der internationalen Hilfsorganisationen zufolge leben geschätzte drei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan sowie zirka 2,5 Millionen im Iran. Darunter befinden sich viele im Exil geborene Afghanen der zweiten und dritten Generation.
Besonders im Iran sind afghanische Staatsangehörige nicht erwünscht, wo sie sehr benachteiligt sind und kaum über eine Perspektive verfügen. Bereits seit November 2013 schickt der Iran tausende Afghanen zum Kampf gegen die IS nach Syrien. Im Gegenzug verspricht die iranische Regierung afghanischen Flüchtlingen das Bleiberecht im Iran oder finanzielle Anreize. Einigen Afghanen soll aber auch mit der Abschiebung gedroht worden sein, falls sie sich weigern sollten, nach Syrien zu gehen. Am 2. Mai 2016 verabschiedete das Teheraner Parlament ein Gesetz, wonach im Falle eines Todes die Angehörigen der afghanischen Kämpfer die iranische Staatsbürgerschaft erhalten. Damit bestätigte die iranische Regierung erstmals die Existenz ausländischer Söldner.
Zur Situation von Rückkehrern in Afghanistan:
Afghanische Rückkehrer geraten beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan in gravierende Schwierigkeiten. Diese verfügen über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwert die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr der meisten in ihre Heimatregionen. Es wird berichtet, dass viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut verlassen müssen und in die Städte ausweichen, insbesondere nach Kabul, wo es ihnen nach der Rückkehr auch wirtschaftlich schlechter geht als im Exilland.
Es darf nicht ungesagt bleiben, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Afghanistan nach einer Abwesenheit bemerken, dass sie weitgehend von de