TE Bvwg Erkenntnis 2017/12/27 I403 1313215-3

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Veröffentlicht am 27.12.2017
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Entscheidungsdatum

27.12.2017

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

I403 1313215-3/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. MAROKKO, vertreten durch: ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD Wien, Außenstelle Wien vom 22.05.2017, Zl. 821572409-1575249, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.08.2017 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I., Spruchpunkt II. und den ersten Satz des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen den zweiten und dritten Satz des Spruchpunktes III. sowie Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer für unzulässig erklärt. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 2 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein Staatsangehöriger Marokkos, stellte am 20.11.1998 in der österreichischen Botschaft in Prag einen Antrag auf internationalen Schutz. Er habe seinen Herkunftsstaat verlassen, weil er Berber und Christ sei. Er habe einen Abschluss in der Studienrichtung Internationales Recht und sei drei Jahre in der Forschung tätig gewesen. Zudem sei er Mitglied der Partei PUSFP, die in Opposition zum Regime stehe, und weiters sieben Jahre lang Sprecher des Studenten-Syndikats XXXX gewesen. Die Volksgruppe der Berber würde seit 1972 unter Druck gesetzt und verfolgt, sodass er in der politischen Gesellschaft keine Rechte mehr hätte. So habe er eine These über die Berber-Kultur als komparative Studie verfassen wollen, was vom Dekan der Fakultät abgelehnt worden sei. Er habe dann sein Thema in "Islamische Integristen, Entstehung und Folgen, eine theoretische, ideologische und religiöse Analyse" geändert und sei nach der Veröffentlichung des Berichtes gezwungen worden, seine Recherchen einzustellen. Bei einer Rückkehr hätte er wegen seiner Ansichten mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen bzw. würde von den Islamisten massakriert.

Mit Aktenvermerk vom 15. Jänner 1999 wurde der Asylantrag gemäß § 31 iVm § 16 AsylG 1997 wegen Drittstaatssicherheit Tschechiens für gegenstandslos erklärt und der Botschaft am 15. Jänner 1999 mitgeteilt, dass eine Asylgewährung in Österreich nicht wahrscheinlich sei.

Am 27. Dezember 2005 brachte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich ein und begründete ihn im Wesentlichen damit, dass er Marokko im Jahre 1996 verlassen habe, weil er sich als Mitglied der marokkanischen Studentenvereinigung politisch betätigt habe. Er sei von 1982 bis 1989 an der Universität in Rabat gewesen. Er habe eine Diplomarbeit über den fundamentalistischen Islam in Marokko schreiben wollen, weil er gute Beziehungen zu solchen Gruppierungen gehabt habe. Diese hätten ihn jedoch daran gehindert, indem sie ihn mit dem Umringen bedroht hätten. Während einer Demonstration sei er in aller Öffentlichkeit von einem Islamisten mit einem langen Messer bedroht worden. Zudem sei er öfters geschlagen und gedemütigt worden, weshalb er sich entschieden habe, Marokko zu verlassen. Er habe auch Probleme mit der marokkanischen Regierung gehabt, weil er als Berber für die Unabhängigkeit der Westsahara von Marokko eingetreten sei. In einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 10. Jänner 2007 gab er an, dass seine Schwierigkeiten mit den Islamisten in seiner Studienzeit begonnen hätten. Er sei Marxist/Leninist gewesen und habe deswegen mit dem Regime und den Islamisten Schwierigkeiten gehabt. In Marokko würden seine Mutter sowie seine vier Schwestern und seine drei Brüder leben.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 12. Juni 2007, Zahl: 05 23.040-BAS, den Asylantrag des Beschwerdeführers ab und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Marokko zulässig sei. Der Beschwerdeführer wurde aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Marokko ausgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 25. September 2007, Zl. 313.215-1/5E-III/67/07, abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof erkannte mit Beschluss vom 18. Dezember 2007, Zl. AW 2007/01/1021-3, der dagegen erhobenen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu. Mit Beschluss vom 31. Jänner 2008, Zl. 2007/01/1305-5, lehnte der Verwaltungsgerichthof allerdings die Behandlung der Beschwerde ab.

Am 17. April 2012 wurde der Beschwerdeführer aufgrund einer Verpflichtung aus der Verordnung (EG) Nr. 343/2000 des Rates, aus Tschechien rückübernommen und stellte am gleichen Tag erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Einvernahme vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion XXXX am gleichen Tag gab er an, dass sich in Marokko seit seiner letzten Antragstellung die Regierung geändert habe und nun die Islamisten an der Macht seien. In seiner Studienzeit sei er ein aktives Mitglied einer linken Partei und gegen die Islamisten, die nun an der Macht seien, gewesen. Weiters bedrohe ihn sein Bruder mit dem Umbringen, weil er den Antragsteller für den Tod seines Vaters und dafür, dass seine Familie Marokko verlassen habe, verantwortlich mache. Zudem habe der Antragsteller "vor zirka zwei Monaten" eine telefonische Drohung in arabischer Sprache durch einen ihm unbekannten Mann erhalten. Bei einer Rückkehr befürchte der Antragsteller ermordet zu werden oder wegen seiner politischen Haltung ins Gefängnis zu kommen. Er habe auch mit "Sanktionen" der Islamisten zu rechnen und Angst vor seinem Bruder, der ihn bedroht habe. Der Antragsteller stelle erst jetzt einen neuerlichen Antrag, weil er sich bisher in Tschechien aufgehalten habe und der Meinung gewesen sei, sich dort auch weiterhin aufhalten zu können. Sein Vater sei im Jahre 2000 verstorben und seine Mutter und seine Geschwister würden in Montreal, Kanada leben. Er legte einen marokkanischen Personalausweis Nr. Z XXXX vor, ausgestellt am XXXX 2005 und gültig bis XXXX 2015. Am 19. April 2012 wurden dem Beschwerdeführer im Rahmen einer weiteren Einvernahme aktuelle Sachverhaltsannahmen des Bundesasylamtes zur Lage in Marokko übergeben und ihm eine Frist zur Stellungnahme bis 30. April 2012 eingeräumt.

Am 2. Mai 2012 langte beim Bundesasylamt das Ergebnis einer kriminaltechnischen Untersuchung des am 27. Mai 2005 ausgestellten marokkanischen Personalausweises, Behördenzahl Z XXXX, des Beschwerdeführers ein. Nach dieser hätten sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer falschen oder verfälschten Urkunde ergeben.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. Mai 2012, Zl. 12 04.634-EWEST, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und der Antragsteller gemäß § 10 Absatz 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Marokko ausgewiesen. Dieser Bescheid wurde gemäß § 8 Abs. 2 iVm § 23 Abs. 1 ZustellG rechtswirksam zugestellt und mit 10. Mai 2012 rechtskräftig.

Am 29. Oktober 2012 wurde der Beschwerdeführer erneut aus Tschechien nach Österreich rücküberstellt und in Schubhaft genommen. Der Antragsteller stellte einen weiteren (vierten) Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 9. November 2012 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, dass er nicht in ärztlicher Behandlung sei und keine Medikamente nehme. Er habe einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, weil er Angst um sein Leben in Marokko habe. Er werde dort von seinem Bruder bedroht. Zudem werde er von einer bewaffneten Gruppierung namens JIHAD AL ANSA bedroht. Als der Beschwerdeführer in Tschechien gewesen sei, habe die Polizei, ein Offizier namens XXXX (phonetisch), von ihm verlangt zu einer Moschee zu gehen, da ein "Scheich aus London" kommen würde, um einen Vortrag zu halten. Er habe erfahren sollen, worum es in diesem Vortrag gehen würde. Nach diesem Vortrag habe der Beschwerdeführer auf Facebook und E-Mail Morddrohungen erhalten, da "sie" wissen würden, dass er für die tschechische Polizei arbeite. Von seinem Bruder werde er bedroht, weil er wegen seiner politischen Einstellung die ganze Familie "kaputt" gemacht habe. Das Bundesasylamt teilte dem Beschwerdeführer mit, dass sein Vorbringen nicht geeignet sei, einen neuen asylrelevanten Sachverhalt zu begründen. Es werde beabsichtigt den Antrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

Mit mündlich verkündetem Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. November 2012, Zl 12 15.724-EAST Ost, wurde der faktische Abschiebeschutz des Antragstellers gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben und der mündlich verkündete Bescheid in der Niederschrift gemäß § 22 Abs. 10 AsylG 2005 und § 62 Abs. 2 AVG beurkundet. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 19. November 2012, Zl. B11 313.215-2/2012/3E, wurde dieser mündlich verkündete Bescheid allerdings aufgehoben, da noch nicht abschließend beurteilt werden könne, ob der vorliegende Antrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein wird.

Der Beschwerdeführer wurde am 16. Jänner 2017 niederschriftlich durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) einvernommen und gab an, als Student aktiv bei einer kommunistischen Bewegung gewesen zu sein. Er werde als Berber diskriminiert, habe Probleme mit seinem Bruder und werde von den Islamisten verfolgt. Der Beschwerdeführer gab zudem an, noch auf eine Entschädigung der Tschechischen Republik zu warten, da er dort inhaftiert, dann aber freigesprochen worden sei.

Das BFA wies mit im Spruch genannten Bescheid vom 22. Mai 2017 den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab und erkannte ihm den Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG wies das BFA auch den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Marokko ab (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Marokko zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter IV. wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.

Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 16. Juni 2017 übermittelt und auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtet.

Am 09. August 2017 wurde eine mündliche Verhandlung an der Außenstelle Innsbruck des Bundesverwaltungsgerichtes abgehalten. Das BFA entsandte keinen Vertreter.

Mit Eingabe vom 12. Oktober 2017 wurden von der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers Unterlagen zu Verfahren den Beschwerdeführer betreffend aus der Tschechischen Republik übermittelt und darauf hingewiesen, dass das gegen den Beschwerdeführer von der Tschechischen Republik verhängte Einreiseverbot 2003 abgelaufen sei.

Diese Stellungnahme wurde dem BFA mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Oktober 2017 übermittelt und darauf hingewiesen, dass im Bescheid vom Bestehen eines Einreiseverbotes ausgegangen sei. Um eine entsprechende Äußerung innerhalb einer Frist von drei Wochen wurde gebeten. Eine solche Stellungnahme des BFA langte bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht ein.

Auf Rückfrage der erkennenden Richterin wurde mit Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung vom 21. Dezember 2017 erklärt, dass der Beschwerdeführer beabsichtige, im Jänner oder Februar 2018 eine Deutschprüfung abzulegen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist marokkanischer Staatsangehöriger. Seine Identität steht fest. Er gehört der Volksgruppe der Berber an und hat in Marokko Philosophie und Rechtswissenschaften studiert. Der Beschwerdeführer verließ Marokko 1995/1996 und ist seither nicht mehr nach Marokko zurückgekehrt. Er hielt sich von 1995/1996 bis 2005 in der Tschechischen Republik, von 2005 bis 2007 in Österreich, dann wieder bis 2012 in der Tschechischen Republik auf. Seit 2012 befindet er sich durchgehend in Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet an Morbus Crohn. Im November 2016 wurde bei ihm eine wiederkehrende depressive Episode diagnostiziert, weswegen ihm Mirtazapin verschrieben wurde. Dieses Medikament ist auch in Marokko erhältlich.

Eine Schwester und die Mutter des Beschwerdeführers leben in Kanada, ein Bruder lebt in der Tschechischen Republik. Drei Schwestern und ein Bruder halten sich in Marokko auf, doch besteht zu ihnen kein Kontakt.

Der Beschwerdeführer ist seit Jänner 2015 an der Universität Wien eingeschrieben. Er spricht gut Deutsch und hat sich ehrenamtlich engagiert. Er verfügt über einen sehr engen Freundeskreis in Österreich. Ein Familienleben führt er in Österreich nicht. Der Beschwerdeführer hat keinerlei Bindungen mehr zu Marokko.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

In der Tschechischen Republik wurde der Beschwerdeführer 1997 wegen eines Vergehens gegen das Suchtmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer verbrachte allerdings insgesamt fünf Jahre (von 1997 bis 2002) in Haft, wobei er in Bezug auf die zweite Anklage (wegen Betrugs) mit rechtskräftigem Urteil vom 05.02.2005 freigesprochen wurde. Der Beschwerdeführer beantragte eine Haftentschädigung, dies wurde aber wegen Verjährung zurückgewiesen.

Gegen den Beschwerdeführer bestand bis zum Jahr 2003 ein von der Tschechischen Republik verhängtes Einreiseverbot. Aktuell liegt kein Einreiseverbot vor.

Der Beschwerdeführer gibt an, in Marokko wegen seiner Sympathie für den Kommunismus durch seinen Bruder, die Islamisten und die Regierung bedroht zu sein. Diese Fluchtgründe wurden bereits in den vorangegangenen Asylverfahren geprüft. Die aktuelle Situation in Marokko unterscheidet sich von den früheren Asylentscheidungen dadurch, dass Marokko wie die anderen Länder Nordafrikas die Phase des "Arabischen Frühlings" durchlaufen hat und dass es im Herbst 2016 nach dem Tod eines Straßenverkäufers zu Protesten der Zivilbevölkerung gegen den Regierungsapparat gekommen war. Eine derartige Verschärfung der Situation, welche dazu führen würde, dass davon auszugehen wäre, dass jeder politische Kritiker in Marokko mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Opfer von staatlicher Verfolgung würde, ist aber weder dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation noch den Stellungnahmen des Beschwerdeführers zu entnehmen.

Der Beschwerdeführer brachte im gegenständlichen Verfahren nicht glaubhaft und substantiiert vor, dass er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Verfolgung in Marokko zu erwarten hätte.

1.2. Zur Situation in Marokko:

Politische Lage

Laut der Verfassung vom 1.7.2011 ist Marokko eine konstitutionelle, demokratische und soziale Erbmonarchie, mit direkter männlicher Erbfolge und dem Islam als Staatsreligion. Abweichend vom demokratischen Grundprinzip der Gewaltenteilung kontrolliert der König in letzter Instanz die Exekutive, die Judikative und teilweise die Legislative (GIZ 6.2017a; vgl. ÖB 9.2015). Im Zusammenhang mit den Protestbewegungen in Nordafrika im Frühjahr 2011 leitete der König im Jahr 2011 eine Verfassungsreform und vorgezogene Neuwahlen ein. Die in Marokko überwiegend auf ökonomisch-soziale Verbesserungen, aber nicht auf "Regimewechsel" gerichteten Proteste wurden so aufgefangen (AA 2.2017a). Die Verfassung vom 1.7.2011 brachte im Grundrechtsbereich einen deutlichen Fortschritt für das Land; in Bezug auf die Königsmacht jedoch nur eine Abschwächung der absolutistischen Stellung. Das Parlament wurde als Gesetzgebungsorgan durch die neue Verfassung aufgewertet und es ist eine spürbare Verlagerung des politischen Diskurses in die Volksvertretung hinein erkennbar. Die Judikative wird als unabhängige Staatsgewalt gleichberechtigt neben Legislative und Exekutive gestellt. Das System der checks und balances als Ergänzung zur Gewaltenteilung ist jedoch in der Verfassung vergleichsweise wenig ausgebildet (ÖB 9.2015). Einige Schlüsselministerien sind in Marokko der Kontrolle des Parlamentes und des Premierministers entzogen. Dies betrifft folgenden vier Ressorts: Inneres, Äußeres, Verteidigung, Religiöse Angelegenheiten und Stiftungen. Soziale Reformen während der Regentschaft Mohamed VI sollten mehr Wohlstand für alle bringen - doch faktisch nahm die ohnehin starke Kontrolle der Königsfamilie und ihrer Entourage über die Reichtümer und Ressourcen des Landes weiter zu (GIZ 6.2017a).

Das marokkanische Parlament besteht aus zwei Kammern, dem Unterhaus (Chambre des Représentants, Madschliss an-Nuwwab) und dem Oberhaus (Chambre des conseillers, Madschliss al-Mustascharin). Die Abgeordneten des Unterhauses werden alle fünf Jahre in direkten allgemeinen Wahlen neu gewählt (jüngste Wahl: 7.10.2016). Das Unterhaus besteht aus 395 Abgeordneten. Entsprechend einer gesetzlich festgelegten Quote sind mindestens 12% der Abgeordneten Frauen. Das Oberhaus besteht aus mindestens 90 und maximal 120 Abgeordneten, die in indirekten Wahlen für einen Zeitraum von sechs Jahren bestimmt werden (GIZ 6.2017a). In Marokko haben am 7.10.2016 Wahlen zum Repräsentantenhaus stattgefunden. Als stärkste Kraft ging die seit 2011 an der Spitze der Regierung stehende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD – Parti de la Justice et du Développement) hervor (AA 2.2017a; vgl. GIZ 6.2017a). Sie erreichte 125 Sitze (GIZ 6.2017a). Ihr Vorsitzender, der bisherige Regierungschef Abdelilah Benkirane, wurde von König Mohammed VI. mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt (AA 2.2017a). An zweiter Stelle rangiert mit 102 Sitzen die liberal-konservative Partei für Authentizität und Moderne (PAM – Parti Authenticité et Modernité). Sie konnte ihre Stimmengewinne mehr als verdoppeln und gilt daher als heimliche Siegerin. Dahinter gereiht ist mit 46 Sitzen die traditionsreiche Unabhängigkeitspartei (PI – Parti de l'Istiqlal), dahinter andere Parteien (GIZ 6.2017a).

Auf dem Gipfel der Afrikanischen Union (AU) in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba am 30.1.2017 wurde Marokko wieder in die AU aufgenommen (DS 31.1.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (2.2017a): Marokko - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Marokko/Innenpolitik_node.html, Zugriff 30.6.2017

-

DS - Der Standard (31.1.2017): Marokko wieder in der AU, doch Westsahara-Streit bleibt,

http://derstandard.at/2000051784210/Afrikanische-Union-diskutiert-Wiederaufnahme-von-Marokko, Zugriff 30.6.2017

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH (6.2017a), LIPortal - Marokko - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/marokko/geschichte-staat/, Zugriff 30.6.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

Sicherheitslage

Marokko ist grundsätzlich ein politisch stabiles Land mit gut ausgebauter Sicherheitspräsenz (BMEIA 5.7.2017). Das französische Außenministerium rät zu normaler Aufmerksamkeit im Land (das einzige in Nordafrika), außer in den Grenzregionen zu Algerien, wo zu erhöhter Aufmerksamkeit geraten wird. Die Westsahara bildet natürlich eine Ausnahme, diese darf nur nach Genehmigung durch die marokkanischen Behörden und nur auf genehmigten Strecken bereist werden. Zusätzlich besteht für die Grenzregionen zu Mauretanien in der Westsahara eine Reisewarnung (FD 5.7.2017). Seitens des BMEIA besteht eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für Reisen in das Landesinnere des völkerrechtlich umstrittenen Territoriums der Westsahara und in entlegene Saharazonen Südmarokkos, insbesondere an der Grenze zu Algerien. Erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt in den übrigen Landesteilen (BMEIA 5.7.2017).

Auch in Marokko besteht jedoch ein Risiko terroristischer Anschläge mit islamistischem Hintergrund, die insbesondere auf ausländische Staatsangehörige abzielen können (AA 5.7.2017, vgl. BMEIA 5.7.2017). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die instabile Sicherheitslage in den Regionen Nordafrika, Sahel und Nah-/Mittelost auf Marokko auswirkt. Es muss mit Anschlägen durch Kämpfer aus diesen Regionen gerechnet werden sowie mit Aktionen von Personen oder Gruppierungen, die innerhalb Marokkos agieren und sich von der Propaganda terroristischer Gruppierungen beeinflussen lassen. So ereignete sich zuletzt im April 2011 in Marrakesch eine Bombenexplosion mit terroristischem Hintergrund, die 17 Todesopfer und mehrere Verletzte – zumeist Touristen – forderte (AA 5.7.2017).

Marokko steht im Kampf gegen den Terrorismus im Lager des Westens. Die marokkanischen Dienste gelten als gut unterrichtet und operationell fähig; die laufende Aushebung von Terrorzellen spricht für deren Effizienz. AQIM und andere islamisch-fundamentalistische Gruppierungen, Salafisten und IS-Kämpfer werden als Staatsfeinde Nummer eins betrachtet. Besondere Sorge gilt seit Ausbruch der Mali-Krise einer vermuteten Verbindung der Polisario mit fundamentalistischen Elementen aus dem Sahel (AQIM, Ansareddine, Mujao) sowie aus Syrien und dem Irak. Die marokkanischen Behörden befürchten einen Rückfluss von Kämpfern nach Marokko aus Syrien und dem Irak und das Entstehen von grenzüberschreitenden Terrornetzwerken. Die – auch im öffentlichen Raum kaum kaschierten - Überwachungsmaßnahmen erstrecken sich auch auf die Überwachung des Internets und elektronischer Kommunikation (ÖB 9.2015).

Demonstrationen, insbesondere in Großstädten, können sich spontan und unerwartet entwickeln, so zum Beispiel aktuell im Norden Marokkos in Al Hoceima und umliegenden Orten. Die Proteste richten sich meist gegen soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Behördenwillkür (AA 5.7.2017). Im Oktober 2016 flammten in verschiedenen Landesteilen Proteste gegen soziale und wirtschaftliche Missstände auf. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Anwohnern und der Polizei, als die Behörden mit dem Abriss von informellen Siedlungen in Sidi Bibi, einer Stadt in der Nähe von Agadir, begannen. Tausende Menschen gingen in größeren Städten, u.

a. in der Hauptstadt Rabat sowie in Marrakesch, auf die Straße, nachdem der Fischhändler Mouhcine Fikri in Al-Hoceima (Region Tanger-Tétuan-Al Hoceima) getötet worden war. Er hatte versucht, seine von Staatsbediensteten beschlagnahmte Ware zurückzuerhalten. Auch in Al-Hoceima fanden große Demonstrationen statt (AI 22.2.2017). Seitdem kommt es v.a. in Al-Hoceima immer wieder zu Protesten. Dort ist das Zentrum einer Protestbewegung gegen soziale und wirtschaftliche Missstände entstanden. Ende Mai 2017 wurde der Anführer der Protestbewegung, Nasser Zafzafi, verhaftet (DS 29.5.2017). Dies führte zu weiteren Protesten. Auch Ende des Ramadans, am 27. und 28.6.2017, kam es zu Ausschreitungen, bei denen zahlreiche Polizisten und auch Demonstranten verletzt wurden und Demonstranten verhaftet wurden (DS 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.7.2017): Marokko - Reise- und Sicherheitshinweise,

http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/MarokkoSicherheit_node.html, Zugriff 5.7.2017

-

BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (5.7.2017): Reiseinformation Marokko, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/marokko/, Zugriff 5.7.2017

-

DS - Der Standard (29.5.2017): Anführer der Proteste in Marokko festgenommen,

http://derstandard.at/2000058382533/Hunderte-Marokkaner-demonstrierten-in-Protesthochburg-Al-Hoceima?ref=rec, Zugriff 5.7.2017

-

DS - Der Standard (28.6.2017): Marokko: Fast 80 Polizisten bei Ausschreitungen verletzt,

http://derstandard.at/2000060215022/Marokko-Fast-80-Polizisten-bei-Ausschreitungen-verletzt?ref=rec, Zugriff 5.7.2017

-

FD - France Diplomatie (5.7.2017): Conseils aux Voyageurs - Maroc

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Sécurité,

http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays/maroc/, Zugriff 5.7.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Justiz ist laut Verfassung unabhängig (USDOS 3.3.2017). In der Praxis wird diese Unabhängigkeit jedoch durch Korruption (USDOS 3.3.2017; vgl. ÖB 9.2015; AA 10.3.2017) und außergerichtliche Einflüsse unterlaufen. Behörden respektieren Anordnungen der Gerichte fallweise nicht (USDOS 3.3.2017). Rechtsstaatlichkeit ist vorhanden, aber noch nicht ausreichend entwickelt. Unabhängigkeit der Justiz, Verfassungsgerichtsbarkeit, Transparenz durch Digitalisierung, Modernisierung der Justizverwaltung befinden sich noch im Entwicklungsprozess, der, teils von der Verfassung gefordert, teils von der Justizverwaltung angestoßen wurde. Die eher traditionell und konservativ eingestellte Richterschaft setzt Neuerungen oftmals nur sehr zurückhaltend um. Geltende Gesetze und Vorschriften werden auch aus administrativen Schwächen oft nicht einheitlich und flächendeckend angewandt (AA 10.3.2017).

Formal besteht Gleichheit vor dem Gesetz. Das extreme Gefälle in Bildung und Einkommen, die materielle Unterentwicklung ländlicher Gebiete und der allgegenwärtige gesellschaftliche

Klientelismus behindern allerdings die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes (AA 10.3.2017). Gesetzlich gilt die Unschuldsvermutung. Der Rechtsweg ist formal sichergestellt. Angeklagte haben das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, auf rechtzeitigen Zugang zu ihrem Anwalt und das Recht, Berufung einzulegen. Das marokkanische Recht sieht Pflichtverteidiger für mittellose Angeklagte vor. Der Zugang zu juristischem Beistand ist in der Praxis noch immer unzulänglich (AA 10.3.2017; vgl. USDOS 3.3.2017). NGOs kritisieren, dass die Beschuldigten zu Geständnissen gedrängt werden. Im Rahmen der Strafrechtsreform und der Entwicklung seiner Untersuchungsbehörden bemüht sich Marokko darum, Beschuldigtenrechte besser zu wahren und andere Möglichkeiten des Tatbeweises zu nutzen. Im Bereich der Strafzumessung wird häufig kritisiert, dass bestehende Möglichkeiten zur Vermeidung von Haft bei minderschweren Delikten (z.B. Geldstrafen, Sozialstunden) nicht genutzt werden. Auch die Möglichkeit der Entlassung auf Bewährung (libération conditionnelle) wird kaum genutzt (AA 10.3.2017).

Seit dem 1.7.2015 ist die Militärgerichtsbarkeit in Verfahren gegen Zivilisten nicht mehr zuständig. Im Juli 2016 wurden durch das Revisionsgericht die Urteile eines Militärgerichts gegen 23 sahrauische Aktivisten im Zusammenhang mit dem Tod von Sicherheitskräften bei der Räumung des Protestlagers Gdim Izik aufgehoben. Neue Verfahren finden vor einem Zivilgericht statt (AA 10.3.2017).

Verwaltungsentscheidungen können vor Verwaltungsgerichten appelliert werden, der Instanzenzug führt zum Kassations-Gerichtshof. Die Verfassung sieht eine Reihe von Räten und Kommissionen vor, denen konsultative und überwachende Funktionen zukommt (Oberster Justizrat, Gleichstellungs-Rat, Hohe Rundfunk-Behörde, Wettbewerbsrat, Nationalstelle für korrekte Verwaltung und Korruptionsbekämpfung, Familien- und Jugendbeirat). Diese Gremien stehen aber teilweise noch am Beginn der Tätigkeit bzw. muss ihr rechtlicher Unterbau erst geschaffen werden, sodass noch schwer absehbar ist, inwieweit sie für Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Achtung der Grundrechte in der Praxis Bedeutung gewinnen (ÖB 9.2015).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.3.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: März 2017)

-

ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

-

USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/337215/479978_de.html, Zugriff 30.6.2017

Sicherheitsbehörden

Der Sicherheitsapparat verfügt über einige Polizei- und paramilitärische Organisationen, deren Zuständigkeitsbereiche sich teilweise überlappen. Die Nationalpolizei (DGSN) ist für die Umsetzung der Gesetze zuständig und untersteht dem Innenministerium. Bei den "Forces auxiliaires" handelt es sich um paramilitärische Hilfskräfte, die dem Innenministerium unterstellt sind und die Arbeit der regulären Sicherheitskräfte unterstützen. Die Gendarmerie Royale ist zuständig für die Sicherheit in ländlichen Gegenden und patrouilliert auf Autobahnen. Sie untersteht dem Verteidigungsministerium (USDOS 3.3.2017; vgl. AA 10.3.2017). Es gibt zwei Nachrichtendienste: den Auslandsdienst DGED ("Direction Générale des Etudes et de Documentation") und den Inlandsdienst DGST ("Direction Générale de la Surveillance du Territoire") (AA 10.3.2017; vgl. ÖB 9.2015). Im April 2015 wurde zusätzlich das "Bureau central d'investigations judiciaires" (BCIJ) geschaffen. Es untersteht dem Inlandsdienst DGST. Von der Funktion entspricht es etwa dem deutschen Bundeskriminalamt mit originären Zuständigkeiten und Ermittlungskompetenzen im Bereich von Staatsschutzdelikten sowie Rauschgift- und Finanzdelikten im Rahmen von Verfahren der Organisierten Kriminalität (AA 10.3.2017).

Die zivile Kontrolle über die Sicherheitskräfte [Anm.: durch den König] ist abgesehen von Einzelfällen effektiv (USDOS 3.3.2017), jedoch sind die Sicherheitskräfte weitgehend der zivilen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit entzogen (AA 10.3.2017). Es besteht kein systematischer Mechanismus, Menschenrechtsverletzungen und Korruption wirksam zu untersuchen und zu bestrafen, was Straffreiheit bei Vergehen durch die Sicherheitskräfte begünstigt (USDOS 3.3.2017). Inhaftierte Islamisten werfen dem Sicherheitsapparat, insbesondere dem Inlandsgeheimdienst DGST, vor, Methoden anzuwenden, die rechtsstaatlichen Maßstäben nicht immer genügen (z.B. lange U-Haft unter schlechten Bedingungen, kein Anwaltszugang). Die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien dokumentieren diese Vorwürfe nur bruchstückhaft (AA 10.3.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.3.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: März 2017)

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ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/337215/479978_de.html, Zugriff 30.6.2017

Folter und unmenschliche Behandlung

Folter ist gemäß Verfassung unter Strafe gestellt (USDOS 3.3.2017; vgl. AA 10.3.2017). Marokko ist Vertragsstaat der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen und hat auch das Zusatzprotokoll unterzeichnet (AA 10.3.2017). Ein Nationaler Präventionsmechanismus zum Schutz vor Folter ist allerdings noch immer nicht eingerichtet worden (AI 22.2.2017). Die marokkanische Regierung lehnt den Einsatz von Folter ab und bemüht sich um aktive Prävention. Systematische Folter findet nicht statt. Gleichwohl berichten NGOs über Fälle von nicht gesetzeskonformer Gewaltanwendung gegenüber Inhaftierten durch Sicherheitskräfte. Betroffen sind laut Bericht des VN-Menschenrechtsausschusses vom Oktober 2016 vor allem Terrorverdächtige und Personen, die Straftaten verdächtig sind, die die Sicherheit oder die territoriale Integrität des Staats gefährden. Ein Einsatz von systematischer, staatlich angeordneter Folter wird auch von NGOs nicht bestätigt. Die marokkanische Menschenrechtsorganisation OMDH ("Organisation Marocaine des Droits de l’Homme") geht vom Fehlverhalten einzelner Personen aus (AA 10.3.2017). Berichte über Folter sind in den letzten Jahren zurückgegangen, aber dennoch langen immer wieder Berichte über Misshandlungen von Gefangenen durch Sicherheitskräfte bei Regierungsinstitutionen oder NGOs ein (USDOS 3.3.2017).

Wenn auch eine systematische Anwendung von Folter und anderen erniedrigenden Behandlungsweise nicht anzunehmen ist, werden Folter und folterähnliche Methoden punktuell praktiziert. Diese Umstände werden von Menschenrechts-NGOs und von unabhängigen Beobachtern wiederholt angeprangert, wie insbesondere CNDH (Nationaler Rat für Menschenrechte), UN Sonderbeauftragter für Folter Juan Mendez, Arbeitsgruppe über willkürliche Verhaftungen, die frühere UN-HCHR Navi Pillay. Justizminister Ramid hat die Staatsanwälte aufgerufen, Hinweisen und Anzeigen auf Folter rigoros nachzugehen, gleichzeitig aber auch auf den Verleumdungstatbestand hingewiesen, falls sich Anschuldigungen als haltlos erweisen. Marokko hat das Fakultativprotokoll zur Antifolter-Konvention Ende 2014 ratifiziert, eine Durchführungsgesetzgebung (nationaler Mechanismus) muss aber erst erfolgen (ÖB 9.2015).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.3.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: März 2017)

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AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2014/15 - Kingdom of Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/336547/479222_de.html, Zugriff 30.6.2017

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ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/337215/479978_de.html, Zugriff 30.6.2017

Korruption

Das Gesetz sieht für behördliche Korruption Strafen vor, doch setzt die Regierung die gesetzlichen Regelungen nicht effektiv um. Staatsbedienstete sind häufig in Korruptionsfälle verwickelt und gehen straffrei aus. Korruption stellt bei der Exekutive, inklusive der Polizei, bei der Legislative und in der Justiz ein ernstes Problem dar. Es gibt Berichte von Korruption im Bereich der Regierung, und von deren Untersuchung in einigen Fällen, aber mangelnder strafrechtlicher Verfolgung. Die Antikorruptionsbehörde Instance centrale de prévention de la corruption (ICPC) ist für den Kampf gegen die Korruption zuständig. Sie wird nur in wenigen Fällen tätig, vor allem in mittleren und höheren Ebenen der Verwaltung werden kaum Ermittlungen durchgeführt (USDOS 3.3.2017).

Die Bekämpfung der Korruption wird in Marokko unter anderem durch eine langsame Justiz, Zentralismus und die Verflechtung von Politik und Wirtschaft erschwert. Im Alltag ist Korruption allgegenwärtig. Ob im Krankenhaus, in der Schule, an der Universität oder bei der KFZ-Zulassung – fast überall in Marokko werden Extrazahlungen fällig, wenn man eine Dienstleistung braucht. Da das Steuersystem wenig entwickelt und die öffentliche Hand dementsprechend finanziell schwach ist, betrachten viele Marokkaner – einschließlich der verantwortlichen Politiker – die Bestechungsgelder als eine Art Steuerersatz. Als korruptionsanfällig gilt auch die Armee (GIZ 6.2017a).

Marokko belegt im Korruptionswahrnehmungsindex 2016 den 90. von insgesamt 176 Plätzen (TI 25.1.2017).

Quellen:

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH (6.2017a), LIPortal - Marokko - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/marokko/geschichte-staat/, Zugriff 30.6.2017

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TI - Transparency International (25.1.2017): Corruptions Perceptions Index 2016,

https://www.transparency.org/news/feature/corruption_perceptions_index_2016, Zugriff 30.6.2017

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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/337215/479978_de.html, Zugriff 30.6.2017

NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Menschenrechtsorganisationen publizieren Berichte über Menschenrechtsfälle. Die Einstellung der Regierung gegenüber lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen variiert jedoch, abhängig von der politischen Orientierung der Organisation und der Sensitivität der jeweiligen Angelegenheit. Lokale und internationale NGOs sind immer wieder Einschränkungen bei ihren Aktivitäten ausgesetzt (USDOS 3.3.2017; vgl. AA 10.3.2017). Die Regierung trifft sich gelegentlich mit Vertretern von NGOs und beantwortet Anfragen und Empfehlungen seitens der NGOs (USDOS 3.3.2017).

Der Bereich NGOs/Menschenrechtsverteidiger stellt sich als breit gefächerte Landschaft (ca. 90.000 Vereinigungen) dar, mit einer aktiven und sich artikulierenden Menschenrechts-Verteidigerszene, die mit dem CNDH (Nationaler Rat für Menschenrechte) korreliert und dessen Arbeit ergänzt oder diesem sogar voraneilt. Sichtbarste und mit Veranstaltungen und Berichten hervortretende Protagonisten der Menschenrechtsszene sind die OMDH (Organisation Marocaine des Droits Humains) und die AMDH (Association Marocaine des Droits Humains). Die Zivilcourage der einzelnen Aktivisten verdient Anerkennung, weil nicht nur Gefahr besteht, mit staatlicher Repression in Konflikt zu geraten, sondern auch an die Grenzen des von der Gesellschaft Tolerierten zu stoßen (ÖB 9.2015).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.3.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: März 2017)

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ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/337215/479978_de.html, Zugriff 30.6.2017

Ombudsmann

Zur Kontrolle der Gewährleistung grundlegender Menschenrechte wurde nach der Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 2011 ein "Nationaler Menschenrechtsrat" (Conseil National des droits de l’homme - CNDH) als besondere Verfassungsinstanz eingerichtet. Seine kritischen Bestandsaufnahmen und Empfehlungen zu Gesetzesentwürfen haben Gewicht und beeinflussen die Politik (AA 10.3.2017). Menschenrechtsangelegenheiten werden somit durch den CNDH, die interministerielle Abordnung über Menschenrechte (DIDH), und die Institution des Médiateur (Ombudsmann) wahrgenommen. Im Jahr 2014 etablierte der CNDH das Nationale Ausbildungsinstitut für Menschenrechte (INFDH) für Schulungen im Bereich der Menschenrechte (USDOS 3.3.2017).

Der CNDH wurde – nach den Pariser Kriterien – als nationale Grundrechtsinstitution eingerichtet (ÖB 9.2015; vgl. USDOS 3.3.2017) und ist in der Verfassung direkt verankert. Seine Aufgabe liegt in der Beobachtung und Aufzeigung menschenrechtsrelevanter Entwicklungen und Sachverhalte, er kann Wahrnehmungen durch Vorort-Inspektionen machen, ohne dass ihm der Zugang verwehrt werden darf. Eigene Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten stehen allerdings nicht offen. 2014 sprach der Präsident des CNDH, Driss EL Yazami, erstmals vor dem Parlament und übte präzise Kritik an Defiziten im Bereich Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. 14.000 – ein Drittel – der an den CNDH gerichteten Beschwerden betreffen Justiz, Strafvollzug und behauptete Menschenrechtsverletzungen. Der CNDH ist sichtbar, aktiv und produktiv (Berichte über psychiatrische Anstalten, Strafvollzug, Jugendwohlfahrtseinrichtungen, Situation von Asylsuchenden und Migranten). Er legt jährlich einen Bericht vor, der dem König und dem Parlament zur Kenntnis gebracht wird und nimmt auch zu Individualfällen Stellung, bis hin zur Intervention. Im Wege von Begutachtungsverfahren und durch Stellungnahmen zu einzelnen Gesetzesvorhaben übt der CNDH kraft seines moralischen Gewichts nicht selten Einfluss auf Gesetzesinhalte aus, die Menschenrechtsinteressen betreffen. 13 Außenstellen des CNDH wurden in Provinzstädten eingerichtet, sodass eine stärkere räumliche Nähe zu potentiellen Beschwerdeführern angeboten wird (ÖB 9.2015).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.3.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: März 2017)

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ÖB - Österreichische Botschaft Rabat (9.2015): Asylländerbericht Marokko

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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Morocco, http://www.ecoi.net/local_link/337215/479978_de.html, Zugriff 30.6.2017

Allgemeine Menschenrechtslage

Der Grundrechtskatalog (Kapitel I und II) der Verfassung ist substantiell; wenn man noch die durch internationale Verpflichtungen übernommenen Grundrechte hinzuzählt, kann man von einem recht umfassenden Grundrechtsrechtsbestand ausgehen. Als eines der Kerngrundrechte fehlt die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Verfassung selbst stellt allerdings den Rechtsbestand unter den Vorbehalt der traditionellen "roten Linien" (Monarchie, islamischer Charakter von Staat und Gesellschaft, territoriale Integrität (i.e. Annexion der Westsahara) quasi als "Baugesetze" des Rechtsgebäudes. Der vorhandene Rechtsbestand, der mit der neuen Verfassungslage, v. a. in Bereichen wie Familien- und Erbrecht, Medienrecht und Strafrecht, teilweise nicht mehr konform ist, gilt weiterhin (ÖB 9.2015).

Staatliche Repressionsmaßnahmen gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sind nicht festzustellen. Gewichtige Ausnahme: wer die Vorrangstellung der Religion des Islam in Frage stellt, die Person des Königs antastet oder die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko anzweifelt. Obwohl Kritik an den Staatsdoktrinen strafrechtlich sanktioniert wird, werden entsprechende Verurteilungen eher selten bekannt (z.B. wegen Missionierung). Marokkanische NGOs sind der Auffassung, dass administrative Schikanen eingesetzt und Strafverfahren zu anderen Tatbeständen (z. B. Ehebruch oder Steuervergehen) angestoßen oder auch konstruiert werden, um politisch Andersdenkende sowie kritische Journalisten einzuschüchtern oder zu verfolgen. Bei einer einstelligen Zahl von Oppositionellen, deren Fälle gut dokumentiert sind, erscheint diese Interpretation überzeugend (AA 10.3.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.3.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: März 2017)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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