TE Vwgh Erkenntnis 2017/12/5 Ra 2017/01/0068

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Veröffentlicht am 05.12.2017
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Index

E000 EU- Recht allgemein;
E3R E19103000;
E3R E19104000;
E6J;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

32003R0343 Dublin-II Art6 Abs2;
32013R0604 Dublin-III Art11 litb;
32013R0604 Dublin-III Art17 Abs1;
32013R0604 Dublin-III Art2 litg;
32013R0604 Dublin-III Art8 Abs4;
62011CJ0648 MA VORAB;
AsylG 2005 §5 Abs1;
EURallg;
VwGG §42 Abs2 Z1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2017, Zl. W243 2138658-1/4E, W243 2138660-1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Parteien: 1. B M H in W, 2. mj. M H H in L), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Erstmitbeteiligte und sein minderjähriger Bruder, der Zweitmitbeteiligte, beide Staatsangehörige Afghanistans, reisten über Bulgarien kommend, wo sie bereits am 8. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten, nach Österreich ein und beantragten hier am 29. April 2016 ebenfalls internationalen Schutz.

2 Am 11. Juni 2016 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) unter Hinweis auf entsprechende "EURODAC-Treffer" ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien. Mit Schreiben vom 9. Juli 2016 teilte das BFA der bulgarischen Dublin-Behörde mit, dass aufgrund des Unterbleibens der Beantwortung des Wiederaufnahmeersuchens gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO die Zuständigkeit zur Überprüfung des Antrags auf internationalen Schutz betreffend den Erstmitbeteiligten auf Bulgarien übergegangen sei. Schließlich stimmte Bulgarien mit Schreiben vom 9. August 2016 nach einem seitens des BFA durchgeführten Remonstrationsverfahrens auch betreffend den Zweitmitbeteiligten dem Wiederaufnahmegesuch zu.

3 In der Folge wies das BFA mit Bescheiden jeweils vom 14. Oktober 2016 die Anträge beider Mitbeteiligter auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, sprach aus, dass Bulgarien für die Prüfung der Anträge zuständig sei, ordnete jeweils die Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG) an und stellte fest, dass die Abschiebung nach Bulgarien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

4 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Zuständigkeit Bulgariens für das Asylverfahren des Erstmitbeteiligten, von dessen Volljährigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung die Behörde aufgrund der multifaktoriellen Altersdiagnose vom 30. Juni 2016 (angenommenes Geburtsdatum 30. August 1997) ausging, gemäß Art. 25 Abs. 2 iVm Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO feststehe. Betreffend den minderjährigen Zweitmitbeteiligten seien die Voraussetzungen des Art. 18. Abs. 1 lit. b Dublin III-VO formell erfüllt. Obwohl kein Obsorgebeschluss vorliege, sei eindeutig zu erkennen, dass der Erstmitbeteiligte die Verantwortung für seinen minderjährigen Bruder trage und auch weiterhin ein Zusammenleben angestrebt werde. Es gebe keine Bestimmung in der Dublin III-VO, wonach die Zuständigkeit betreffend den Erstmitbeteiligten im Hinblick auf eine Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des minderjährigen Zweitmitbeteiligten auf Österreich übergehe. Vielmehr werde die Außerlandesbringung des Erstmitbeteiligten nach Bulgarien angeordnet, weshalb schon allein aus humanitärer Sicht betreffend den Zweitmitbeteiligten nur die gleiche Entscheidung erfolgen könne, insbesondere weil die Mitbeteiligten den Wunsch geäußert hätten, zusammenbleiben zu wollen.

5 Dagegen erhoben die Mitbeteiligten jeweils Beschwerde. Die Beschwerde des Erstmitbeteiligten richtete sich fast zur Gänze gegen die inhaltliche Richtigkeit der multifaktoriellen Altersdiagnose und brachte vor, dass der Erstmitbeteiligte tatsächlich zum Antragszeitpunkt minderjährig gewesen und daher gemäß Art. 8 Dublin III-VO Österreich für dessen Asylverfahren zuständig sei. Dies entspräche zudem den Interessen seines jüngeren Bruders. Schließlich leide er wie dieser unter psychischen Problemen, verursacht durch die Erfahrungen in Bulgarien. Der Zweitmitbeteiligte bestritt in seiner Beschwerde, dass eine gemeinsame Außerlandesbringung mit seinem Bruder nach Bulgarien seinem Wohl entspreche. Er habe zwar bei seiner Einvernahme vor dem BFA angegeben, eine sehr enge Beziehung zu seinem Bruder zu haben, jedoch gehe aus seinen Angaben auch hervor, nicht einmal zusammen mit seinem Bruder nach Bulgarien zurückgehen zu wollen. Die mögliche Außerlandesbringung mache ihm aufgrund des in Bulgarien Erlebten psychisch schwer zu schaffen. Der Zweitmitbeteiligte bleibe lieber in Österreich. Schließlich seien auch die Länderfeststellungen zur Lage von Minderjährigen bzw. vulnerablen Personen in Bulgarien bei der Beurteilung seines Wohls zu berücksichtigen.

6 Den Beschwerden der Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) statt, hob die bekämpften Bescheide auf und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Dabei ging das BVwG davon aus, dass der Zweitmitbeteiligte unbegleiteter Minderjähriger im Sinne des Art. 2 lit. j Dublin III-VO sei, weil der Erstmitbeteiligte für ihn nicht obsorgeberechtigt sei. Österreich sei daher gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO für den Zweitmitbeteiligten zuständig, zumal Anhaltspunkte, wonach die Führung seines Asylverfahrens in Österreich nicht seinem Wohl entspreche, nicht vorhanden seien. Das auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO gestützte Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien sei gemäß der in Art. 7 Dublin III-VO vorgesehenen Rangfolge der Kriterien zu Unrecht erfolgt.

8 Hinsichtlich des Erstmitbeteiligten ging das BVwG grundsätzlich gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO von der Zuständigkeit Bulgariens für dessen Asylverfahren aus. Angesichts der Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des Zweitmitbeteiligten als unbegleiteten Minderjährigen und der, aus dem Zusammenleben der beiden Brüder im gemeinsamen Haushalt sowohl im Herkunftsstaat als auch in Österreich sowie aus den Ausführungen des Zweitmitbeteiligten, er brauche seinen Bruder, abgeleiteten engen familiären Beziehung zwischen den Mitbeteiligten erscheine zur Vermeidung einer Verletzung des Art. 8 EMRK jedoch im Rahmen der "Ermessensklausel" des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ein Selbsteintritt Österreichs geboten.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision des BFA. Die Mitbeteiligten erstatteten keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 Die Revision erweist sich im Hinblick auf die im Zulässigkeitsvorbringen aufgeworfene Rechtsfrage der Beurteilung des Wohls eines unbegleiteten Minderjährigen bei Prüfung der Zuständigkeit gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO im Zusammenhang mit der sich gleichzeitig nach den Bestimmungen des Kapitels III der Dublin III-VO ergebenden Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats für den Antrag auf internationalen Schutz eines erwachsenen Geschwisters als zulässig und berechtigt.

11 Die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), lauten auszugsweise:

"Artikel 2

Definitionen

Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

(...)

g) ‚Familienangehörige' die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

- der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht

verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare,

- die minderjährigen Kinder des im ersten Gedankenstrich

genannten Paares oder des Antragstellers, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach nationalem Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt,

- bei einem minderjährigen und unverheirateten

Antragsteller, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem der Erwachsene sich aufhält, für den Minderjährigen verantwortlich ist,

- bei einem unverheirateten, minderjährigen Begünstigten

internationalen Schutzes, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der/die entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem sich der Begünstigte aufhält, für ihn verantwortlich ist;

h) ‚Verwandter': der volljährige Onkel, die volljährige Tante oder ein Großelternteil des Antragstellers, der/die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, ungeachtet dessen, ob es sich gemäß dem nationalen Recht bei dem Antragsteller um ein ehelich oder außerehelich geborenes oder adoptiertes Kind handelt;

i) ‚Minderjähriger' einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren;

j) ‚unbegleiteter Minderjähriger' einen Minderjährigen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt einen Minderjährigen ein, der nach Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wird;

(...)

Artikel 3

Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(...)

KAPITEL III

KRITERIEN ZUR BESTIMMUNG DES ZUSTÄNDIGEN MITGLIEDSTAATS

Artikel 7

Rangfolge der Kriterien

(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

(2) Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.

(3) Im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und 6 genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.

Artikel 8

Minderjährige

(1) Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Ist der Antragsteller ein verheirateter Minderjähriger, dessen Ehepartner sich nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhält, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich der Vater, die Mutter, oder ein anderer Erwachsener - der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats für den Minderjährigen zuständig ist - oder sich eines seiner Geschwister aufhält.

(2) Ist der Antragsteller ein unbegleiteter Minderjähriger, der einen Verwandten hat, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, und wurde anhand einer Einzelfallprüfung festgestellt, dass der Verwandte für den Antragsteller sorgen kann, so führt dieser Mitgliedstaat den Minderjährigen und seine Verwandten zusammen und ist der zuständige Mitgliedstaat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.

(3) Halten sich Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte im Sinne der Absätze 1 und 2 in mehr als einem Mitgliedstaat auf, wird der zuständige Mitgliedstaat danach bestimmt, was dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen dient.

(4) Bei Abwesenheit eines Familienangehörigen eines seiner Geschwister oder eines Verwandten im Sinne der Absätze 1 und 2, ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.

(...)

Artikel 11

Familienverfahren

Stellen mehrere Familienangehörige und/oder unverheiratete minderjährige Geschwister in demselben Mitgliedstaat gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Antrag auf internationalen Schutz, dass die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können, und könnte die Anwendung der in dieser Verordnung genannten Kriterien ihre Trennung zur Folge haben, so gilt für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats Folgendes:

a) zuständig für die Prüfung der Anträge auf

internationalen Schutz sämtlicher Familienangehöriger und/oder unverheirateter minderjähriger Geschwister ist der Mitgliedstaat, der nach den Kriterien für die Aufnahme des größten Teils von ihnen zuständig ist;

b) andernfalls ist für die Prüfung der Mitgliedstaat

zuständig, der nach den Kriterien für die Prüfung des von dem ältesten von ihnen gestellten Antrags zuständig ist.

(...)

Artikel 13

Einreise und/oder Aufenthalt

(1) Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 dieser Verordnung genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.

(...)

KAPITEL IV

ABHÄNGIGE PERSONEN UND ERMESSENSKLAUSELN

(...)

Artikel 17

Ermessensklauseln

(1) Abweichend von Artikel 1 Absatz 3 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehende Verpflichtungen.

(...)

KAPITEL V

PFLICHTEN DES ZUSTÄNDIGEN MITGLIEDSTAATS

Artikel 18

Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats

(1) Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:

(...)

b) einen Antragsteller, der während der Prüfung seines

Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

(...)"

12 Das BVwG gab der Beschwerde des Erstmitbeteiligten insofern Folge, als es ausgehend von einer Zuständigkeit Bulgariens ihn betreffend vom Ermessen zum Selbsteintritt Österreichs nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch machte. Dabei unterstellte das BVwG dem Erstmitbeteiligten dessen Volljährigkeit ohne auf die dazu gegenteiligen Beschwerdeausführungen einzugehen. Unstrittig ist jedenfalls, dass der Erstmitbeteiligte nach innerstaatlichem Recht für seinen minderjährigen Bruder nicht obsorgeberechtigt ist.

13 Gemäß Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO wird ein Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO bestimmt wird.

Für die Prüfung, welcher Mitgliedstaat zuständig ist, bestimmt Art. 7 Dublin III-O, dass zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats die Kriterien in Kapitel III in der dort genannten Reihenfolge Anwendung zu finden haben.

14 Soweit das BFA in seiner Revision die Zuständigkeit Bulgariens für die Asylverfahren beider Mitbeteiligter auf Art. 11 lit. b Dublin III-VO stützt, ist ihm entgegen zu halten, dass diese Bestimmung einleitend von "Familienangehörigen und/oder unverheirateten minderjährigen Geschwistern" spricht, die Mitbeteiligten jedoch in keinem solchen Verhältnis zueinander stehen. Mangels Obsorgeberechtigung des Erstmitbeteiligten für seinen minderjährigen Bruder sind sie nicht Familienangehörige im Sinne der Legaldefinition des Art. 2 lit. g Dublin III-VO (insbesondere 3. Teilstrich). Die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 11 Dublin III-VO, wonach "mehrere Familienangehörige und/oder unverheiratete minderjährige Geschwister in demselben Mitgliedstaat" einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, liegt ausgehend von der Volljährigkeit des Erstmitbeteiligten demnach nicht vor.

15 Dem BVwG wie auch der revisionswerbenden Behörde ist darin zu folgen, dass ausgehend von der Volljährigkeit des Erstmitbeteiligten, deren Annahme nach der Aktenlage unbedenklich erfolgte (vgl. VwGH 28.3.2017, Ra 2016/01/0267), gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO Bulgarien für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständig und das an Bulgarien gerichtete Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 23 Abs. 1 iVm Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO rechtmäßig ist.

16 Die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz des minderjährigen Zweitmitbeteiligten ist unstrittig nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO zu beurteilen, nachdem der Zweitmitbeteiligte außer seinem erwachsenen, für ihn nicht obsorgeberechtigten Bruder, mit dem er gemeinsam nach Österreich einreiste, als unbegleiteter Minderjähriger iS der Legaldefinition des Art. 2 lit. j Dublin III-VO hier keinen Familienangehörigen, kein Geschwister bzw. keinen Verwandten hat.

17 Gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO setzt die Zuständigkeit Österreichs als jener Mitgliedstaat, in dem sich der minderjährige Zweitmitbeteiligte aufhält, nachdem er einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, voraus, dass die Durchführung des Asylverfahrens in Österreich seinem Wohl dient. Dem Umstand, dass entsprechend dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 6. Juni 2013, MA u.a., C-648/11, Rn. 60f, in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO, der Vorgängerbestimmung des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO, es unter Berücksichtigung des Wohles des Kindes erforderlich ist, dass derjenige Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat, zumal es im Interesse unbegleiteter Minderjähriger wichtig ist, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht unsachgemäß in die Länge zieht, sondern ihnen vielmehr ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten ist, trägt Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO insofern Rechnung, dass für Asylverfahren von unbegleiteten Minderjährigen ohne Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte mit rechtmäßigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem sich der minderjährige Antragsteller aufhält. Sofern Anhaltspunkte vorhanden sind, wonach selbst unter Bedachtnahme auf den zu gewährleistenden raschen Zugang zum Asylverfahren die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats nicht dem Wohl des Minderjährigen dient, sind diese im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO zu beachten.

18 Im vorliegenden Verfahren hat sowohl die revisionswerbende Behörde, als auch das BVwG eine enge familiäre Bindung zwischen den beiden Mitbeteiligten als Brüder, die bereits im Heimatland und zunächst auch in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben bzw. nunmehr auch in Österreich in einem solchen leben, angenommen. Das BVwG beurteilt diesen Umstand verbunden mit der sich aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO ergebenden Zuständigkeit Bulgariens für das Asylverfahren des Erstmitbeteiligten jedoch nicht bereits im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO als Anhaltspunkt dafür, dass die Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des minderjährigen Zweitmitbeteiligten nicht seinem Wohl dienen könnte. Vielmehr zieht das BVwG die Annahme, dass der Zweitmitbeteiligte den Erstmitbeteiligten brauche, erst im Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen des Selbsteintritts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zwecks Vermeidung einer vom Verwaltungsgericht angenommenen Verletzung des Art. 8 EMRK heran und begründet damit den Selbsteintritt in Bezug auf den Erstmitbeteiligten.

19 Der revisionswerbenden Behörde ist darin zu folgen, dass die sowohl von ihr als auch vom BVwG angenommene enge Bindung zwischen den mitbeteiligten Geschwistern bereits bei der Prüfung der Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des minderjährigen Zweitmitbeteiligten gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO berücksichtigt hätte werden müssen. Dabei wäre zu klären gewesen, ob trotz der mit der Zuständigkeit Bulgariens für das Asylverfahren des Erstmitbeteiligten verbundenen Trennung der beiden Mitbeteiligten ein betreffend den Zweitmitbeteiligten in Österreich abzuführendes Asylverfahren dem Wohl des Minderjährigen dient. Soweit das BVwG diese Überlegungen erst im Rahmen der Anwendung des Selbsteintritts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO anstellt, steht dem entgegen, dass die Anwendung des Art. 17 Dublin III-VO, der selbst keine Kriterien für die Zuständigkeitsbestimmung normiert, den Abschluss der Prüfung der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats des Kapitel III der Dublin III-VO, wozu jedenfalls Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO gehört, voraussetzt (vgl. VwGH 22.6.2017, Ra 2016/20/0384 bis 0385, Rn. 36). Der Selbsteintritt kann nur auf der Grundlage einer abschließenden Zuständigkeitsprüfung nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO angewendet werden.

20 Da das BVwG die Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des minderjährigen Zweitmitbeteiligten gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO bejahte, ohne zu prüfen, ob dies im Hinblick auf die von ihm festgestellte enge Beziehung zwischen den mitbeteiligten Brüdern und ihre angesichts der Zuständigkeit Bulgariens für das Asylverfahren des Erstmitbeteiligten damit verbundene Trennung dem Wohl des minderjährigen Antragstellers dient, hat es die den Zweitmitbeteiligten betreffende Entscheidung mit Rechtswidrigkeit des Inhalts belastet.

21 Die unzureichende Beurteilung des Zuständigkeitstatbestandes des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO bewirkt überdies auch die inhaltliche Rechtswidrigkeit des vom BVwG wahrgenommenen Selbsteintritts Österreichs in die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz des Erstmitbeteiligten. Der vom BVwG zwecks Vermeidung einer Verletzung des Art. 8 EMRK bejahte Selbsteintritt setzt die rechtsrichtige Feststellung der Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des minderjährigen Zweitmitbeteiligten voraus. Würde die Beurteilung der engen Beziehung zwischen beiden mitbeteiligten Brüdern dazu führen, dass die Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren des Zweitmitbeteiligten wegen der damit verbundenen Trennung nicht dessen Wohl diene und daher Bulgarien für die Asylverfahren beider Mitbeteiligten zuständig sei, wäre dem vom BVwG angenommenen Selbsteintritt wegen Verletzung des Art. 8 EMRK die Grundlage entzogen.

22 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben. Wien, am 5. Dezember 2017

Gerichtsentscheidung

EuGH 62011CJ0648 MA VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017010068.L00.1

Im RIS seit

12.01.2018

Zuletzt aktualisiert am

18.06.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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