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41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 2005 §3 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Mag. Stickler und die Hofrätin MMag. Ginthör, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des O A H in W, vertreten durch Dr. Johannes Gschaider, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wipplingerstraße 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2017, L521 2122419-1/11E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 4. Jänner 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 4. Februar 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I). Die Behörde erkannte dem Revisionswerber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine bis 4. Februar 2017 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen Spruchpunkt I dieses Bescheides (betreffend die Nicht-Zuerkennung des Status des Asylberechtigten) gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Das Verwaltungsgericht erklärte die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte - soweit für das Revisionsverfahren wesentlich - fest, der Revisionswerber sei Angehöriger der arabischen Volksgruppe und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung an. Im Jahr 2003 sei der Revisionswerber nach Abschluss der Polizeiakademie in den Polizeidienst eingetreten, wo er zuletzt den Rang eines Hauptmannes erlangt habe. Bei der Polizei in der Stadt Mossul sei der Revisionswerber im Innendienst eingesetzt gewesen. Der Revisionswerber habe sich vorwiegend mit Rechercheaufgaben und der Erstellung von Berichten beschäftigt. Im Juli 2014 habe der Revisionswerber den Irak illegal über Erbil in die Türkei verlassen. Ein Bruder des Revisionswerbers sei von den Milizen des Islamischen Staates am 16. Oktober 2016 bei dem Versuch, die Stadt Mossul zu verlassen, getötet worden. Der Revisionswerber habe Mossul im Juli 2014 angesichts der Eroberung der Stadt durch die Milizen des Islamischen Staates verlassen, weil er sich nicht habe unterordnen wollen und deshalb Repressalien befürchtet habe.
5 Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch die Milizen des Islamischen Staates oder sonstige Dritte ausgesetzt gewesen sei oder er an völkerrechtswidrigen kriegerischen Handlungen hätte teilnehmen müssen. Es könne ferner nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat und insbesondere an seinen Wohnort Hamam al-Alil südlich der Stadt Mossul einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Aufgrund seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit sei der Revisionswerber an seiner Arbeitsstätte Belästigungen und Beschimpfungen seiner schiitischen Arbeitskollegen ausgesetzt gewesen. Dem Revisionswerber, gegen den ein Haftbefehl erlassen worden sei, drohe im Fall seiner Rückkehr eine Bestrafung, weil er sich unbefugt vom Polizeidienst entfernt habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass vormalige Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte mit sunnitischer Glaubensrichtung im Vergleich zu anderen vormaligen Angehörigen der irakischen Sicherheitskräfte strenger bestraft würden.
6 Zudem traf das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zur Lage im Irak. Unter anderem wird dazu ausgeführt (Fehler im Original):
"1. Politische Lage
...
Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen, von denen viele vom Iran aus gesteuert werden (s. Abschnitt 3.1.). Diese Milizen - eher lose an die irakische Armee angeschlossen - sind für Abadi einerseits unverzichtbar im Kampf gegen den ‚Islamischen Staat' (Standard 5.1.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz von der sunnitischen Bevölkerung aber als das ‚Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub' gesehen. Die Sunniten fürchten das skrupellose Vorgehen dieser Milizen - einige betrachten den IS sogar als das geringere Übel und dulden die Extremisten daher in ihren Gebieten (ÖB Amman 5.2015). In der Tat unterscheiden sich einige der mit der Zentralregierung in Bagdad verbündeten schiitischen Milizen hinsichtlich ihres reaktionären Gesellschaftsbildes und ihrer Brutalität gegenüber Andersgläubigen kaum vom IS (Rohde 9.11.2015). ... Die aufgestaute Wut der Sunniten - auch darüber, dass sie niemanden mehr in der Regierung haben, der mit machtvoller Stimme für sie sprechen könnte, trägt in Kombination mit dem Vorgehen der schiitischen Milizen dazu bei, dass sich viele Sunniten radikalisieren oder sich einfach aus Mangel an Alternativen unter die Kontrolle des IS begeben (Qantara 17.8.2015). ...
Zwölf Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 ist der Irak ein Staat ohne Gewaltmonopol, ohne Kontrolle über große Teile seines Territoriums oder seiner Grenzen, dessen Souveränität zunehmend vom Iran ausgehöhlt wird (Standard 4.12.2015). ...
2. Sicherheitslage
...
Die am meisten gefährdeten Personengruppen sind neben religiösen und ethnischen Minderheiten auch Berufsgruppen wie Polizisten, Soldaten, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte, Mitglieder des Sicherheitsapparats, sogenannte ‚Kollaborateure', aber auch Mitarbeiter von Ministerien (AA 18.2.2016). ...
Die schiitischen Milizen in ihrer Gesamtheit werden als militärisch stärker als die irakische Armee eingeschätzt (Standard 18.11.2015), und einige davon machen sich massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig (RSF 18.4.2015, vgl. HRW 20.9.2015, vgl. Rohde 9.11.2016). ...
Fallujah (Provinz Anbar) wird seit Januar 2014 vom IS kontrolliert und ist nach Mossul deren wichtigste Bastion. In der Stadt sind mehr als 50.000 Zivilisten eingeschlossen. Die Militäroffensive ist umstritten, weil starke schiitische Militärverbände daran beteiligt sind, in der Provinz aber vor allem Sunniten leben. Mitte Juni 2016 drangen Regierungstruppen und verbündete Milizen in Richtung Stadtzentrum vor, nachdem zunächst ein Vorstoß in den Außenbezirken zum Stocken gekommen war. ... Nach Angaben von Human Rights Watch vom 09.06.16 liegen glaubwürdige Informationen vor, wonach Mitglieder der Polizei und bewaffneter Milizen nördlich von Fallujah mindestens 17 Männer eines sunnitischen Stammes erschossen hätten. Schiitische Milizen sollen auch Hunderte Sunniten aus dem Umland der Stadt gefangen und schwer misshandelt haben. ...
Am 17.10.2016 begannen ca. 30.000 kurdische Peschmerga-Kämpfer, irakische Sicherheitskräfte und Milizen verschiedenster religiöser Ausrichtung nach mehrwöchigem Aufmarsch eine Offensive zur Rückeroberung Mossuls. ...
4. Allgemeine Menschenrechtslage
Staatliche Stellen sind nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und trotz erkennbarem Willen der Regierung Abadi nicht in der Lage oder bereit, die in der Verfassung garantierten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Derzeit ist es staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. ...
4.2. Regierung, ISF, schiitische Milizen
Die laut Human Rights Watch außer Kontrolle geratenen schiitischen Milizen (HRW 20.9.2015) begehen breit angelegte und systematische Menschenrechtsverletzungen (AI 24.2.2016, HRW 27.1.2016). Es werden Zivilisten werden aus ihren Häusern vertrieben, gekidnappt, willkürlich verhaftet, gefoltert und in einigen Fällen in Massenexekutionen getötet. Insbesondere in jenen Gebieten, die die Milizen vom IS zurückerobern, wird die sunnitische Bevölkerung pauschal schikaniert. V.a. die Miliz Asa'ib Ahl Al Haqq ist hier besonders hervorzuheben (HRW 15.2.2015, vgl. BTI 2016). Von den schiitischen Milizen wurden ganze Dörfer systematisch zerstört, sie wurden geplündert, niedergebrannt, oder gesprengt (HRW 27.1.2016). Von April bis Dezember 2015 sind alleine in der Provinz Salah al-Din zumindest 718 Sunniten von Kämpfern schiitischer Milizen entführt worden (Reuters 14.12.2015). Es werden sogar Stimmen laut, die meinen, dass sich einige der schiitischen Milizen teilweise hinsichtlich ihres reaktionären Gesellschaftsbildes und ihrer Brutalität gegenüber Andersgläubigen, kritischen JournalistInnen und Menschen mit anderer sexueller Orientierung kaum vom IS unterscheiden (Rohde 9.11.2015). Auch die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) selbst verübten Attacken auf zivile sunnitische Gebiete (ISW o.D.)."
Im Anschluss an die einzelnen Punkte, in die das Verwaltungsgericht seine Feststellungen zur Lage im Irak gliederte, erfolgte jeweils die Nennung jener Berichte, auf die sich diese Feststellungen stützten, wobei die Quellen betreffend Punkt 4.2. "Regierung, ISF, schiitische Milizen" vorwiegend aus dem letzten Quartal 2015 und dem ersten Quartal 2016 stammten.
7 In der Folge legte das Bundesverwaltungsgericht dar, aufgrund welcher beweiswürdigenden Überlegungen es zum Schluss gekommen ist, dass eine konkret gegen den Revisionswerber gerichtete Bedrohungshandlung durch Angehörige schiitischer Milizen bisher nicht stattgefunden habe. Das diesbezügliche Vorbringen des Revisionswerbers wertete das Verwaltungsgericht als nicht glaubhaft. Soweit der Revisionswerber befürchte, im Fall einer Rückkehr in den Irak von schiitischen Milizen bedrängt zu werden, sei festzuhalten, dass "ausweislich der getroffenen Feststellungen" zur allgemeinen Lage im Irak Übergriffe von schiitischen Milizen und auch von anderen Angehörigen der Sicherheitskräfte auf sunnitische Männer in jenen Gebieten dokumentiert seien, die vom Islamischen Staat zurückerlangt worden seien. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes liege indes in Ansehung des Revisionswerbers, der - wie das Verwaltungsgericht ebenfalls festgehalten hatte - einen sunnitisch konnotierten Namen trage und deshalb mit der Wahrscheinlichkeit konfrontiert sei, dass er aufgrund seines Namens als der sunnitischen Religionsgemeinschaft zugehörige Person identifiziert werde, keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit solcher Übergriffe vor, zumal sich der Revisionswerber bereits kurz nach der Eroberung Mossuls durch die Milizen des Islamischen Staates am 10. Juni 2014 nach Erbil abgesetzt habe und von dort ausgehend in die Türkei ausgereist sei. Der Revisionswerber laufe daher nicht Gefahr, in einem soeben von den Milizen des Islamischen Staates zurückerlangten Gebiet den kämpfenden Truppen oder schiitischen Milizen gegenüberzustehen und als Sympathisant des Islamischen Staates verdächtig zu sein. Weil der Revisionswerber den Weg in das Ausland gewählt habe, sei auch nicht ersichtlich, weshalb ihm unterstellt werden sollte, sich den Milizen des Islamischen Staates angeschlossen zu haben oder mit diesen zu sympathisieren. Dass andere Personen als Binnenvertriebene und diejenigen Männer, die in vom Islamischen Staat zurückeroberten Gebieten vorgefunden würden, von schiitischen Milizen oder Sicherheitskräften systematisch bedrängt würden, könne den länderkundlichen Informationen indes nicht entnommen werden.
8 Rechtlich folgerte das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Nicht-Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, die behauptete Furcht des Revisionswerbers, im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, sei nicht begründet. Dass im Irak eine generelle und systematische Verfolgung von Muslimen sunnitischer Glaubensrichtung stattfinde, könne aus den länderkundlichen Feststellungen zur Lage im Irak nicht abgeleitet werden. Wiewohl "ausweislich der Feststellungen" im Irak eine sunnitischfeindliche Politik vorherrsche und es in unterschiedlicher Intensität zu Vertreibungen mit dem Ziel einer religiösen Homogenisierung oder von Entführungen komme, könne noch nicht von einer zielgerichteten und systematischen Verfolgung von Muslimen sunnitischer Glaubensrichtung ausgegangen werden. Der Revisionswerber habe demnach nicht aufgrund seiner sunnitischen Glaubensrichtung eine individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten, zumal sich auch zahlreiche Familienangehörige nach wie vor im Irak aufhielten und Schwierigkeiten aufgrund deren religiösen Bekenntnisses nicht festgestellt werden könnten.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit u. a. vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe zwar erkannt, dass der Revisionswerber zur Gruppe der Sunniten sowie der Gruppe der ehemaligen Polizisten in Mossul zähle, und habe eingeräumt, dass für diese Personengruppe eine erhöhte "Gefährdungslage" bestehe. Das Verwaltungsgericht sei jedoch in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dem Ergebnis gelangt, dass der Revisionswerber keiner asylrelevanten Verfolgung durch schiitische Milizen wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslime sunnitischer Glaubensrichtung ausgesetzt sei.
10 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die vorliegende Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:
11 Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/20/0089, Rn. 37, mwN).
12 Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet. Schutz für Angehörige einer verfolgten Gruppe ist unabhängig davon, ob auch andere Gruppen in vergleichbarer Intensität verfolgt werden, zu gewähren (vgl. beispielsweise VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048).
13 Des Weiteren ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von den mit Asylverfahren befassten Behörden und Gerichten zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Folglich hatte auch das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat - wie beispielsweise angesichts der Lage in Mossul und in der Herkunftsregion des Revisionswerbers im letzten Quartal 2016 und den ersten Monaten des Jahres 2017 - können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (VwGH 13.12.2016, Ra 2016/20/0098, Rn. 11).
14 Der Revisionswerber hat sowohl im behördlichen Verfahren als auch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wiederholt darauf hingewiesen, dass er als Angehöriger der Gruppe der Muslime sunnitischer Glaubensrichtung im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt sei. Ausgehend von den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Berichten zur Situation im Irak, wonach außer Kontrolle geratene schiitische Milizen breit angelegte und systematische Menschenrechtsverletzung begingen, Zivilisten aus ihren Häusern vertrieben, gekidnappt, willkürlich verhaftet, gefoltert und in einigen Fällen in Massenexekutionen getötet würden, wobei insbesondere in jenen Gebieten, die die Milizen vom Islamischen Staat zurückerobert hätten, die sunnitische Bevölkerung pauschal schikaniert werde, müsste - ausgehend von der Annahme der Aktualität dieser Feststellungen zum Entscheidungszeitpunkt - von der Wohlbegründetheit der Furcht des Revisionswerbers vor Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ausgegangen werden. Dies gelte auch dann, wenn die Handlungen sich bislang nicht konkret gegen den Revisionswerber gerichtet haben.
15 Vor dem Hintergrund der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Lage im Irak betreffend das Verhalten der Angehörigen von schiitischen Milizen gegenüber Muslimen sunnitischer Glaubensrichtung vermag der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, dass sich daraus keine Anhaltspunkte dafür ergäben, dass dem Revisionswerber aus in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen, hier: der Religion, Gruppenverfolgung drohen könnte, nicht zu teilen (vgl. zur aus Gründen der Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslime sunnitischer Glaubensrichtung bestehenden Gefahr der Verfolgung durch schiitische Milizen im Irak beispielsweise VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0141).
16 Die Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass die Übergriffe auf die sunnitische Bevölkerung einerseits nur jene Gebiete beträfen, die jüngst von den Milizen des Islamischen Staates zurückerobert worden seien, und sich andererseits nur gegen jene Personen richteten, die verdächtigt würden, mit dem Islamischen Staat zu sympathisieren, findet - worauf die Revision zutreffend hinweist - in den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes keine Deckung. Tragfähige Feststellungen zur konkreten Situation in Mossul beziehungsweise in der Herkunftsregion des Revisionswerbers im Hinblick auf die in den Berichten zum Irak angeführten Übergriffe auf die sunnitische Bevölkerung durch schiitische Milizen finden sich in dem angefochtenen Erkenntnis nicht. Aus diesem ist bezogen auf die Herkunftsregion des Revisionswerbers lediglich ersichtlich, dass im Süden von Mossul am 17. Oktober 2016 Sicherheitskräfte und Milizen verschiedenster religiöser Ausrichtung noch ca. 30 km von der Stadt entfernt waren und - wie aus einer in dem angefochtenen Erkenntnis abgebildeten Landkarte ersichtlich - insbesondere der Heimatort des Revisionswerbers noch nicht von den Milizen des Islamischen Staates befreit war. Ferner ist einer ebenfalls in dem angefochtenen Erkenntnis abgebildeten Landkarte, auf der die Gebietsgewinne der in die "Rückeroberung von Mossul" eingebundenen Kräfte im Zeitraum vom 24. Jänner 2017 bis 31. Jänner 2017 dargestellt sind, zu entnehmen, dass sich der Herkunftsort des Revisionswerbers in dem genannten Zeitraum in dem teils von schiitischen Milizen und teils von "Irakischen Sicherheitskräften und Stammeskämpfern" eroberten Gebiet befand.
17 Ausgehend davon, dass sich die Beurteilung, es drohe dem Revisionswerber im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion keine Gruppenverfolgung, nicht auf die in dem angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen zu stützen vermag, hat sich das Bundesverwaltungsgericht zudem nicht mit der gebotenen Sorgfalt mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwieweit seitens des irakischen Staates die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit gegeben wäre. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen darauf hinweisen, dass dies nicht der Fall sein könnte.
18 Das Bundesverwaltungsgericht wird im fortzusetzenden Verfahren seine Feststellungen zur Lage in der Herkunftsregion des Revisionswerbers, insbesondere im Hinblick auf die dort nach dem Vorbringen des Revisionswerbers von schiitischen Milizen aktuell ausgehende Verfolgung der sunnitischen Bevölkerung, zu ergänzen haben, um die nach dem Gesetz geforderte Beurteilung in mängelfreier Wiese vornehmen zu können.
19 Da die bisherigen Feststellungen den vom Bundesverwaltungsgericht gezogenen rechtlichen Schluss nicht zu tragen vermögen, war das angefochtene Erkenntnis wegen (vorrangig wahrzunehmender) inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 13. Dezember 2017
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017190166.L00.1Im RIS seit
12.01.2018Zuletzt aktualisiert am
26.01.2018