TE Bvwg Erkenntnis 2017/12/21 W139 2131869-1

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Veröffentlicht am 21.12.2017
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Entscheidungsdatum

21.12.2017

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W139 2131869-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.07.2016, Zl. 1087583407-151365195, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara, reiste mit ihrer Familie illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Sie stellte am 16.09.2015 gemeinsam mit ihrem Ehegatten (Zl. W139 2131863-1), mit ihrer minderjährigen Tochter (Zl. W139 2131853-1), mit ihrem ebenfalls minderjährigen Sohn (Zl. W139 2131872-1, beide Kinder gesetzlich vertreten durch die Beschwerdeführerin) sowie mit dem minderjährigen Bruder ihres Ehegatten (Zl. W139 2131855-1) und mit dem damals minderjährigen Cousin ihres Ehegatten (Zl. W139 2131867-1) einen Antrag auf internationalen Schutz. Die zweite Tochter der Beschwerdeführerin (Zl. W139 2131864-1) wurde am 07.12.2015 in Österreich geboren.

2. In ihrer Erstbefragung am 17.09.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie stamme aus der Provinz Kunduz, XXXX, und habe auch dort gelebt. Sie habe 12 Jahre lang die Schule besucht. Zum Fluchtgrund führte die Beschwerdeführerin an, ihr Mann habe als Arbeiter für die Amerikaner gearbeitet und habe immer am Freitag frei gehabt. An einem Freitag sei er in die Moschee gegangen, um zu beten. Dabei habe er vergessen, das Licht auszumachen, wodurch die Moschee abgebrannt sei. Die Dorfleute hätten gedacht, dass ihr Mann das für die Amerikaner gemacht hätte, und hätten die Beschwerdeführerin und ihre Familie mit dem Umbringen bedroht.

3. Bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 12.07.2016 gab die Beschwerdeführerin zu ihren Lebensumständen in Afghanistan an, sie sei nur hin und wieder in die Schule gegangen. Sie habe den Haushalt geführt und nie gearbeitet, ihr Mann habe den Lebensunterhalt verdient. In Afghanistan hätten die Frauen nicht so viele Rechte und dort könnte sie nicht so freizügig herumlaufen wie sie es in Österreich mache. In Österreich mache sie derzeit einen Deutschkurs. Zum Fluchtgrund befragt wiederholte die Beschwerdeführerin ihre in der Erstbefragung gemachten Angaben und führte ergänzend aus, an jenem Tag, als ihr Mann verdächtigt worden sei, die Moschee in Brand gesteckt zu haben, sei ihr Mann geflüchtet und sei in die Provinzhauptstadt von Kunduz gegangen. Am selben Tag seien auch noch einige Dorfbewohner gekommen und hätten ihren Mann gesucht, sie habe ihnen aber die Haustüre nicht geöffnet. In der Nacht sei dann ihr Bruder zu ihr gekommen und habe sie und ihre Kinder mitgenommen und sie seien nach Kabul geflüchtet, wo sie sich 10 Tage aufgehalten hätten bis ihr Mann gekommen sei und sie gemeinsam Afghanistan verlassen hätten.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.07.2016 wies die belangte Behörde sowohl den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, die vage Schilderung des Fluchtgrundes durch die Beschwerdeführerin sei nicht geeignet, um ihr Vorbringen für glaubhaft befinden zu können. Sie habe von sich aus keine Details vorgebracht und lediglich rudimentäre Aussagen getätigt. Auch das Vorbringen ihres Ehemannes sei unglaubwürdig gewesen. Die Aussage der Beschwerdeführerin betreffend ihre westliche Orientierung sei völlig unzureichend, wenn man die innere Lebenseinstellung, insbesondere die laufende Flucht in Unwissenheit und die Aussage, afghanische Frauen würden nichts wissen, näher betrachte. Genau diese Erklärungen würden einer solchen selbständigen Überzeugung widersprechen. Die Beschwerdeführerin sei gesund und arbeitsfähig und sie könnte im Fall einer Rückkehr den Lebensunterhalt mit ihrem Ehemann am Heimatort oder in Kabul bestreiten. Auch sei von bestehenden familiären und sozialen Anknüpfungspunkten in Kunduz und Kabul auszugehen. Da auch den Familienangehörigen der Beschwerdeführerin weder der Status des Asylberechtigten noch des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, komme für die Beschwerdeführerin eine Zuerkennung aufgrund des Familienverfahrens nicht in Betracht. Die Rückkehrentscheidung gemäß Spruchpunkt III. wurde mit einer zu Lasten der Beschwerdeführerin ausgehenden Interessenabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK begründet.

5. Mit Schreiben vom 21.07.2016 erhob die Beschwerdeführerin – fristgerecht – Beschwerde gegen den obgenannten Bescheid. Sie beantragte die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, in eventu der subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK zu erteilen, in eventu die Zurückverweisung, sowie eine mündliche Verhandlung. Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei in Afghanistan wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen bzw der Frauen, die ein selbstbestimmtes Leben führen, Verfolgung ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin trage, seitdem sie in Österreich sei, kein Kopftuch, kleide sich westlich und besuche viermal wöchentlich einen Deutschkurs. Sie habe in der Einvernahme betont, dass Frauen in Afghanistan keine Rechte hätten. Die Beschwerdeführerin habe den Wunsch nach Bildung für sich selbst und ihre Kinder. Die Sicherheitslage in Kabul sei prekär und dort bestünden entgegen der Annahme der Behörde keine sozialen und familiären Anknüpfungspunkte, weshalb zumindest der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wäre. Beigelegt wurden die Tazkira der Beschwerdeführerin sowie eine Deutschkurs-Teilnahmebestätigung.

6. Mit Schreiben vom 03.10.2016 wurde ergänzend ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei eine junge moderne Frau, die die traditionell begründeten Einstellungen ihres Heimatlandes und die sich daraus ergebenden Zwänge für Frauen ablehne. Sie habe bereits in der Einvernahme glaubhaft darlegen können, dass sie in Österreich nicht nach den konservativen afghanischen Traditionen lebe, sondern diese vielmehr ablehne. Sie habe sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich an eine Lebensführung ohne religiös motivierte Einschränkungen angepasst und wolle sich auch in Zukunft nicht dem traditionellen Rollenbild der Frauen in Afghanistan unterwerfen. Sie habe die zugrundeliegenden Werte verinnerlicht und lebe auch danach. In Österreich gehe sie allein außer Haus, kleide sich nicht gemäß den Vorschriften ihres Heimatlandes und nehme aktiv am gesellschaftlichen Leben in Österreich teil. Durch ihre den konservativen islamischen Wertvorstellungen widersprechende Haltung wäre sie im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

7. Am 04.10.2017 (fortgesetzt am 09.11.2017) fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, bei welcher die Beschwerdeführerin sowie ihr Ehegatte einvernommen wurden. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits vorgelegten Unterlagen wurden weitere Dokumente vorgelegt (Deutschkurs-Teilnahmebestätigungen, Arztbefunde, Empfehlungsschreiben, Fotos).

In der mündlichen Verhandlung wurde eine weitere Stellungnahme vom 03.10.2017 vorgelegt. Darin wurde erneut ausgeführt, der Beschwerdeführerin und ihren Kindern drohe Verfolgung aufgrund ihres modernen, "westlich" orientierten Lebensstils, der Bestandteil ihrer nunmehr gelebten Identität sei. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin unter einer schweren chronischen Erkrankung (Hepatitis B und D) leide. Die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich verschlechtert. In Kunduz sei die Sicherheitslage äußerst instabil und volatil und auch Kabul sei nicht ausreichend sicher.

Im Rahmen der Befragung bestätigte die Beschwerdeführerin zunächst die bisherigen Angaben zu ihrer Person und bekräftigte, bei den bisherigen Einvernahmen die Wahrheit gesagt zu haben. Die Beschwerdeführerin gab an, die Dolmetscher bei ihren bisherigen Einvernahmen gut verstanden zu haben; ob ihr die Niederschriften rückübersetzt worden seien, wisse sie nicht mehr. Im Übrigen wiederholte sie zu ihren Fluchtgründen befragt, ihr Vorbringen betreffend die Verdächtigung ihres Ehemannes durch die Dorfbewohner, die Moschee in Brand gesteckt zu haben, und machte dazu nähere Ausführungen. Auch ihr Ehemann wiederholte sein diesbezügliches Vorbringen.

Weiters gab die Beschwerdeführerin (BF) entscheidungswesentlich Folgendes an (RI = erkennende Richterin, RV = Rechtsvertreterin) [evtl. Rechtschreib- oder Tippfehler vom Bundesverwaltungsgericht korrigiert]:

"[ ]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:

[ ]

RI: Welche Schulbildung haben Sie?

BF: Ich habe 12 Jahre die Schule besucht in Afghanistan, aber das war umsonst, denn danach habe ich geheiratet, Kinder bekommen, ich war nicht frei, die Frauen dürfen dort nicht alleine das Haus verlassen. Sie müssen sich verschleiern. Das ganze Gesicht muss verhüllt sein, so eine Art Burka. Ich bin immer wieder ausgerutscht, weil mein langer Schleier sich immer wieder an den Beinen verfangen hat.

RI: Vor der belangten Behörde haben Sie gesagt, dass sie nur hin und wieder zur Schule gegangen sind, können Sie mir dazu etwas sagen?

BF: Ich habe 12 Jahre die Schule besucht und habe die 12. Klasse abgeschlossen. Wegen der Taliban ist es aber vorgekommen, dass ich ein oder zwei Tage oder manchmal einen Monat die Schule nicht besuchen konnte.

RI: Haben Sie eine Berufsausbildung?

BF: Nein, ich war Hausfrau, habe die Hausarbeit gemacht.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

BF: Ich kann auf Dari lesen und schreiben und Deutsch kann ich ein bisschen lesen.

[ ]

Zu den Fluchtgründen:

RI: Sie wurden bereits im Verfahren erster Instanz zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.

Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht?

BF: Ja, ich kann mich erinnern und ich bleibe dabei.

RI: Haben Sie das Gefühl, dass Sie bei den Einvernahmen alles sagen konnten?

BF: Ja.

RI: Hat sich an den Gründen Ihrer Asylantragstellung seit Erhalt des angefochtenen Bescheids etwas geändert?

BF: Das was der Wahrheit entsprach habe ich damals gesagt und ich werde auch heute wieder die Wahrheit sagen. Unser Leben ist in Afghanistan in Gefahr, sowohl das Leben meines Mannes und meines Schwagers und auch das Leben meiner Kinder und mein Leben. Das Leben in Österreich gefällt mir ganz gut, ich lebe hier frei, wir gehen am Samstag, Sonntag raus, wir haben sportliche Aktivitäten, meine Kinder gehen reiten, meine Mann geht Fußballspielen, manchmal spielen meine Kinder und ich auch mit. Wir haben viele österreichische Freunde, unsere Freunde helfen uns sehr, z.B. die Frau Heidi, sie geht mit mir zum Arzt und helfen uns in jeder Lebenslage.

[ ]

RI: In Ihrer Beschwerde wird auch vorgebracht, Sie würden zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen gehören. Woran sollte sich das bei Ihnen genau zeigen?

BF: Ich trage keinen Schleier, gehe alleine zum Supermarkt, kaufe dort ein, ich habe hier das Fahrradfahren gelernt. Ich bin frei hier, kann mich frei bewegen, kann dahin gehen, wo ich möchte, habe viele ausländische Freunde, habe Kontakt mit ihnen, besuche sie, kommen zu uns nach Hause, ich gehe in den Park mit den Kindern, ich gehe auch alleine weg. Mir gefällt das Leben hier sehr gut, ich bin sehr glücklich. Ich möchte so gerne die Sprache lernen.

RI: Gibt es etwas, was Sie besonders hervorheben wollen im Gegensatz zum Leben in Afghanistan?

BF: In Afghanistan müssen die Frauen nur zu Hause in der Küche sitzen, hier besteht die Möglichkeit einen Beruf zu erlernen und zu arbeiten. Seit zwei Jahren sehe ich anhand der österreichischen Frauen was Leben bedeutet, was Freiheit bedeutet. Ich war dort sehr unglücklich, habe oft in Afghanistan geweint, der ganze Tag drehte sich darum, nur in der Küche zu arbeiten und zu kochen. Hier bin ich frei, ich besuche einen Deutschkurs, gehe mit den Kindern aus, gehe in den Park, zum Markt. Wenn ich zum Arzt gehe, z.B. zum Zahnarzt oder sonst, kann ich mich mittlerweile alleine verständigen. Ich möchte frei sein und ich möchte nicht mehr Afghanistan auf die Zunge bringen, dieses Wort. Das einzige was ich mir wünsche, dass es meinen Eltern in Afghanistan gut geht und sie lange leben. Ich wünsche mir, dass meine Kinder eine Ausbildung genießen und der Gesellschaft nützlich sind, nicht so wie in Afghanistan. Ich habe 2 Töchter und ich möchte, dass sie eine Ausbildung haben, ein freies Leben haben, das was sie möchten und ihr Leben frei wählen.

RI: Wer hat damals wichtige Entscheidungen innerhalb der Familie getroffen (Beruf, Alltag, Freizeit)?

BF: Was meinen Sie, in Afghanistan gibt’s keine Freizeit, das Leben findet nur bis zur Dämmerung statt, dann ist es dunkel. Ich war 17, 18 Jahre alt, als ich geheiratet habe, wenn ich hier gelebt hätte, hätte ich nicht so früh geheiratet. Ich habe das Haus selten verlassen.

RI: Wenn Sie in Ihrer Familie waren mit Ihrem Ehemann, konnten Sie selbst Entscheidungen treffen, z.B. was Sie kochen, was Sie nicht kochen?

BF: Bevor ich hierhergekommen bin, wusste ich nicht, ob ich eine Frau war oder ein Tier, seit ich hier bin, habe ich die Welt gesehen. Als ich hergekommen bin, habe ich gesehen, dass die Frauen Hosen tragen und habe gesehen, was das Leben bedeutet und dass die Frauen frei sind.

RI: Ihr Ehemann sieht das heute auch so wie Sie?

BF: Ja, mein Mann lässt mich in Ruhe, das was ich möchte, lässt er mich machen. Mein Mann bringt die Kinder zum Kindergarten, passt auf sie zu Hause auf, ich gehe alleine einkaufen zum Billa oder andere Märkte und er passt auf die Kinder auf.

RI: Was bezahlen Sie zB für 1L Milch?

BF: 1 Packung Milch kostet 99 Cent.

RI: Verfügen Sie über ein eigenes Konto?

BF: Nein.

RI: Wenn Sie einkaufen gehen, wie kommen Sie zu dem benötigten Geld?

BF: Mein Mann bringt das Geld von der Bank nach Hause, ich verwalte es, wenn er Geld braucht, gebe ich ihm etwas. Das was er ausgeben will, gebe ich ihm dann. Das Geld habe ich, was ich benötige, nehme ich mir. Mein Mann sagte auch, ich soll ein Bankkonto aufmachen, ich selber war dagegen, ich bin krank, ich kann nicht jederzeit zur Bank gehen und Geld holen, er ist der Mann, er holt das Geld von der Bank, ich kaufe, was ich möchte, Kleidung, Haarfarbe, Kosmetika.

RI: Wie stellen Sie sich die Erziehung und Ausbildung Ihrer Kinder vor?

BF: Ich möchte, dass meine Kinder eine Ausbildung genießen, insbesondere meine Töchter, dass sie nicht dasselbe Schicksal erleiden wie ich in Afghanistan.

RI: Wer soll darüber (Erziehung, Ausbildung) entscheiden?

BF: Wir gemeinsam, der Vater und ich, wenn sie alt genug sind, können sie selber entscheiden.

RI: Und wie sieht es mit der Wahl des Lebenspartners und des Berufs aus?

BF: Ja genauso, sie sind frei, sollen selber entscheiden.

RI: Wäre es für Sie auch denkbar, dass Ihre Kinder eine/n Lebenspartner/in wählen würden, welche/r nicht Ihrem Glauben zugehörig ist?

BF: Es müssen keine Moslems sein, die sie heiraten, was haben die Moslems uns schon gebracht? Sie sollen das entscheiden, was sie wollen.

RI: Sie haben bereits vor dem BFA kein Kopftuch getragen. Was sind Ihre Gründe dafür, hier kein Kopftuch mehr zu tragen?

BF: Als wir hergekommen sind, habe ich ca. fünf bis sechs Monate, als wir im Heim waren, noch ein Kopftuch getragen, dann habe ich den Schal abgelegt. Ich wusste zuerst nicht, dass man das hier nicht tragen muss, ich wusste von den Freiheiten hier nicht so Bescheid. Beim Erstinterview hatte ich auch kein Kopftuch.

RI: Verstehe ich das richtig, dass das Kopftuch für Sie ohne Bedeutung ist?

BF: Ja, es bedeutet mir nichts. Im Winter wenn es kalt ist, nehme ich eine Haube, um mich vor Erkältungen zu schützen.

RI: Wie organisieren Sie die Kinderbetreuung, gehen die Kinder in einen Kindergarten, wenn ja, in welchen?

BF: In Lanzenkirchen ist der Kindergarten, ich weiß nicht, wie er heißt. Meine zwei älteren Kinder gehen dort hin, die kleinere ist bei mir zu Hause. Um 8 Uhr früh bringe ich sie selbst dorthin, um 12 oder 12.30 hole ich sie oder mein Mann ab.

VP1: Der Sharif Olah war zuvor in einer privaten Kinderkrippe, damit die BF den Deutschkurs besuchen konnte.

RI: Besuchen Sie dzt. einen Deutschkurs?

BF: Ja.

RI: Auf Ihr jüngstes Kind passt dann Ihr Ehemann auf oder nehmen Sie es mit?

BF: Ich nehme sie mit, ein anderer Lehrer nimmt sie raus, geht mit ihr in den Park und ich lerne Deutsch.

RI: Welche Vorstellungen haben Sie persönlich für sich selbst für Ihr weiteres Leben? Welche Pläne haben Sie?

BF: Ich möchte hier die Sprache lernen und möchte gerne im Supermarkt an der Kassa arbeiten.

RI: Was meinen Sie würde Ihr Mann dazu sagen, wenn Sie arbeiten gehen?

BF: Er sagt ich bin frei, er wünscht sich, dass ich die Sprache lerne und ich solle mich bemühen, die Sprache zu lernen.

RI: Ist es Ihnen wichtig, dass Sie über Ihr Leben selbst entscheiden?

BF: Ja.

RI: Werden Sie das auch in Zukunft können?

BF: Ja.

RI: Können Sie mir heute sagen, was die EU (Europäische Union) ist?

BF: Ich muss zuerst die Sprache lernen, damit ich das verstehe. Ich weiß z.B. Deutschland ist auch in der EU.

RI: Hatte Sie schon die Möglichkeit, an einem sogenannten Wertekurs teilzunehmen?

BF: Nein, habe ich nicht besucht.

RI: Haben Sie besondere Interessen, Politik, Sport, Kultur?

BF: Ich gehe jeden Morgen laufen.

RI: Meinen Sie, dass Sie so, wie Sie hier jetzt leben auch in Afghanistan leben könnten? Was würde, Ihrer Meinung nach, passieren?

BF: Nein, überhaupt nicht möglich. Sie sagen zu mir, ich bin nackt, sie werden mich umbringen. Nicht die Spitze der Haare darf rausschauen.

RI: Möchten Sie etwas Ergänzendes zu Ihrem Fluchtgrund vorbringen?

BF: Nein, ich möchte nur sagen, dass es mir hier sehr gut gefällt und ich hier glücklich bin.

RI: Angemerkt wird, dass die BF2 kein Kopftuch, sondern ihr langes Haar offen und gefärbt trägt. Weiters trägt sie westliche Kleidung und ist geschminkt und trägt Schmuck.

[ ]."

Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin in das Verfahren ein (aktualisierte Fassung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Stand 25.09.2017, eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 28.08.2013 zur "Situation von Ismailiten", eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 13.08.2012 zur "Situation der schiitischen Ismailiten in Baghlan und allgemein in Afghanistan", eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.06.2017 ua zur Situation von Rückkehrern aus Europa sowie gutachterliche Stellungnahmen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan und in Kabul und anderen Großstädten) und verwies auf den Country Report on Human Rights Practices 2016 des US Department of State, auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern Dezember 2016, weiters auf einen Bericht von IOM "Baseline Mobility Assessment" vom Juni 2017 sowie auf den "EASO Country of Origin Information Report" vom August 2017 und auf das Dossier der Staatendokumentation AfPak "Grundlagen der Stammes und Clanstrukturen".

8. Im Strafregisterauszug der Republik Österreich vom 05.12.2017 – geführt von der Landespolizeidirektion Wien – scheint keine Verurteilung auf.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und ihren Fluchtgründen:

Aufgrund des Asylantrags vom 16.09.2015, der Einvernahmen der Beschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und durch die belangte Behörde, der Beschwerde vom 21.07.2016 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 12.07.2016, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Dokumente sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX. Sie ist Staatsangehörige von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist Ismailitin. Ihre Muttersprache ist Dari und sie kann in dieser Sprache lesen und schreiben. Außerdem spricht sie etwas Deutsch. Am 16.09.2015 stellte sie den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführerin hat ihren Ehemann (Zl. W139 2131863-1) 2011 in ihrem Heimatdorf geheiratet. Sie hat mit ihm einen minderjährigen Sohn (Zl. W139 2131872-1) und zwei minderjährige Töchter (Zl. W139 2131853-1 sowie Zl. W139 2131864-1), letztere wurde in Österreich geboren. Neben der Beschwerdeführerin, ihrem Ehemann und ihren drei Kindern halten sich in Österreich auch noch der minderjährige Bruder ihres Ehemannes (Zl. W139 2131855-1) sowie der Cousin ihres Ehemannes (Zl. W139 2131867-1) auf.

Die Beschwerdeführerin wurde in der Provinz Kunduz, im Bezirk XXXX, im Dorf XXXX geboren. Vor ihrer Eheschließung hat die Beschwerdeführerin mit ihren Eltern, ihren drei Brüdern und zwei Schwestern in diesem Dorf, im Bezirk XXXX, gelebt. Nach ihrer Eheschließung hat sie mit ihrem Mann und ihren (damals) zwei Kindern sowie mit dem Bruder und dem Cousin ihres Ehemannes ebenfalls im Dorf XXXX gelebt. In Afghanistan leben derzeit im Elternhaus nach wie vor ihre Eltern und ihre Geschwister. Etwa einmal im Monat hat die Beschwerdeführerin telefonischen Kontakt mit ihrer Familie in Afghanistan.

Die Beschwerdeführerin hat in Afghanistan zwölf Jahre lang die Schule besucht, aufgrund der Präsenz der Taliban war ihr dies allerdings nicht durchgehend möglich. Sie hat die zwölfte Klasse abgeschlossen. Die Beschwerdeführerin hat keine Berufsausbildung erhalten. Sie war Hausfrau, hat das Haus selten verlassen und hat sich um den Haushalt und die Kinder gekümmert. Sie durfte das Haus nicht alleine verlassen und war gezwungen, sich außerhalb des Hauses zu verschleiern. Die Einschränkungen, denen die Beschwerdeführerin in Afghanistan ausgesetzt war, haben sie sehr belastet.

In Österreich hingegen hat die Beschwerdeführerin das erste Mal die Möglichkeit, alleine und unverschleiert das Haus zu verlassen und das Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Der Ehemann der Beschwerdeführerin befürwortet ihre Eigenständigkeit und unterstützt sie aktiv dabei, sodass sie insbesondere auch ihre Deutschkenntnisse laufend verbessern kann. Die Beschwerdeführerin besucht derzeit regelmäßig einen Deutschkurs und hat überdies privat Einzelunterricht in Anspruch genommen. Sie nimmt — ebenso wie ihr Ehemann und dessen Bruder und Cousin — aktiv am öffentlichen Leben in der Gemeinde XXXX teil, trifft Freunde, geht alleine einkaufen und mit den Kindern in den Park oder ins Schwimmbad. Auch Arztbesuche erledigt sie alleine. Die Beschwerdeführerin verwaltet das Geld ihrer Familie. Sie hat die Absicht, künftig als Verkäuferin zu arbeiten. Die Beschwerdeführerin und ihre Familie haben zahlreiche österreichische Freunde und Bekannte, von denen sie unterstützt werden. Im Gegenzug bemühen sich die Beschwerdeführerin und deren Familie, eine Gegenleistung, etwa Gartenarbeit oder eine Einladung zum Essen, zu bieten. Die zwei älteren Kinder der Beschwerdeführerin besuchen regelmäßig den Kindergarten. Die Beschwerdeführerin wünscht sich, dass ihre Kinder, und insbesondere auch ihre Töchter, eine Ausbildung erhalten und später selbst entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Die Beschwerdeführerin trägt seit mehr als einem Jahr kein Kopftuch mehr, kleidet sich modisch, schminkt sich und trägt Schmuck.

Die persönliche Haltung der Beschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die Lebensweise der Beschwerdeführerin und ihrer Familienangehörigen sowie die Erziehung ihrer Kinder in Österreich können als "westlich", sohin an einem auf ein selbstbestimmtes Leben ausgerichteten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, angesehen werden. Die Lebensumstände der Beschwerdeführerin in Afghanistan stünden mit jenen, welche sie sich aus freiem Willen zu gestalten wünscht bzw bereits gestaltet hat, in unüberwindbarem Gegensatz. Die Beschwerdeführerin kann sich nicht vorstellen, neuerlich ein Leben nach der konservativ-afghanischen Tradition zu führen.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen ein Ausschluss der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

a. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan (02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 25.09.2017; Auszüge)

1. Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen

KI vom 25.9.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan – Q3.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil; die Regierung und die Taliban wechselten sich während des Berichtszeitraumes bei Kontrolle mehrerer Distriktzentren ab – auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen (UN GASC 21.9.2017). Der Konflikt in Afghanistan ist gekennzeichnet von zermürbenden Guerilla-Angriffen, sporadischen bewaffneten Zusammenstößen und gelegentlichen Versuchen Ballungszentren zu überrennen. Mehrere Provinzhauptstädte sind nach wie vor in der Hand der Regierung; dies aber auch nur aufgrund der Unterstützung durch US-amerikanische Luftangriffe. Dennoch gelingt es den Regierungskräften kleine Erfolge zu verbuchen, indem sie mit unkonventionellen Methoden zurückschlagen (The Guardian 3.8.2017).

Der afghanische Präsident Ghani hat mehrere Schritte unternommen, um die herausfordernde Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. So hielt er sein Versprechen den Sicherheitssektor zu reformieren, indem er korrupte oder inkompetente Minister im Innen- und Verteidigungsministerium feuerte, bzw diese selbst zurücktraten; die afghanische Regierung begann den strategischen 4-Jahres Sicherheitsplan für die ANDSF umzusetzen (dabei sollen die Fähigkeiten der ANDSF gesteigert werden, größere Bevölkerungszentren zu halten); im Rahmen des Sicherheitsplanes sollen Anreize geschaffen werden, um die Taliban mit der afghanischen Regierung zu versöhnen; Präsident Ghani bewilligte die Erweiterung bilateraler Beziehungen zu Pakistan, so werden unter anderen gemeinsamen Anti-Terror Operationen durchgeführt werden (SIGAR 31.7.2017).

Zwar endete die Kampfmission der US-Amerikaner gegen die Taliban bereits im Jahr 2014, dennoch werden, laut US-amerikanischem Verteidigungsminister, aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage 3.000 weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt. Nach wie vor sind über 8.000 US-amerikanische Spezialkräfte in Afghanistan, um die afghanischen Truppen zu unterstützen (BBC 18.9.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

In den ersten acht Monaten wurden insgesamt 16.290 sicherheitsrelevante Vorfälle von den Vereinten Nationen (UN) registriert; in ihrem Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) für das dritte Quartal, wurden 5.532 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert – eine Erhöhung von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. Laut UN haben sich bewaffnete Zusammenstöße um 5% erhöht und machen nach wie vor 64% aller registrierten Vorfälle aus. 2017 gab es wieder mehr lange bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen. Im Gegensatz zum Vergleichszeitraums des Jahres 2016, verzeichnen die UN einen Rückgang von 3% bei Anschlägen mit Sprengfallen [IEDs – improvised explosive device], Selbstmordangriffen, Ermordungen und Entführungen – nichtsdestotrotz waren sie Hauptursache für zivile Opfer. Die östliche Region verzeichnete die höchste Anzahl von Vorfällen, gefolgt von der südlichen Region (UN GASC 21.9.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan von 1.1.-31.8.2017 19.636 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (Stand: 31.8.2017) (INSO o.D.).

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(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D.)

Zivilist/innen

Landesweit war der bewaffnete Konflikt weiterhin Ursache für Verluste in der afghanischen Zivilbevölkerung. Zwischen dem 1.1. und 30.6.2017 registrierte die UNAMA 5.243 zivile Opfer (1.662 Tote und 3.581 Verletzte). Dies bedeutet insgesamt einen Rückgang bei zivilen Opfern von fast einem 1% gegenüber dem Vorjahreswert. Dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan fielen zwischen 1.1.2009 und 30.6.2017 insgesamt 26.512 Zivilist/innen zum Opfer, während in diesem Zeitraum 48.931 verletzt wurden (UNAMA 7.2017).

Im ersten Halbjahr 2017 war ein Rückgang ziviler Opfer bei Bodenoffensiven zu verzeichnen, während sich die Zahl ziviler Opfer aufgrund von IEDs erhöht hat (UNAMA 7.2017).

Die Provinz Kabul verzeichnete die höchste Zahl ziviler Opfer – speziell in der Hauptstadt Kabul: von den 1.048 registrierten zivilen Opfer (219 Tote und 829 Verletzte), resultierten 94% aus Selbstmordattentaten und Angriffen durch regierungsfeindliche Elemente. Nach der Hauptstadt Kabul verzeichneten die folgenden Provinzen die höchste Zahl ziviler Opfer: Helmand, Kandahar, Nangarhar, Uruzgan, Faryab, Herat, Laghman, Kunduz und Farah. Im ersten Halbjahr 2017 erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer in 15 von Afghanistans 34 Provinzen (UNAMA 7.2017)

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(UNAMA 7.2017)

High-profile Angriffe:

Der US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR), verzeichnete in seinem Bericht für das zweite Quartal des Jahres 2017 mehrere high-profil Angriffe; der Großteil dieser fiel in den Zeitraum des Ramadan (Ende Mai bis Ende Juni). Einige extremistische Organisationen, inklusive dem Islamischen Staat, behaupten dass Kämpfer, die während des Ramadan den Feind töten, bessere Muslime wären (SIGAR 31.7.2017).

Im Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) wurden von den Vereinten Nationen folgende High-profile Angriffe verzeichnet:

Ein Angriff auf die schiitische Moschee in der Stadt Herat, bei dem mehr als 90 Personen getötet wurden (UN GASC 21.9.2017; vgl: BBC 2.8.2017). Zu diesem Attentat bekannte sich der ISIL-KP (BBC 2.8.2017). Taliban und selbsternannte ISIL-KP Anhänger verübten einen Angriff auf die Mirza Olang Region im Distrikt Sayyad in der Provinz Sar-e Pul; dabei kam es zu Zusammenstößen mit regierungsfreundlichen Milizen. Im Zuge dieser Kämpfe, die von 3.-5.August anhielten, wurden mindestens 36 Menschen getötet (UN GASC 21.9.2017). In Kabul wurde Ende August eine weitere schiitische Moschee angegriffen, dabei wurden mindestens 28 Zivilist/innen getötet; auch hierzu bekannte sich der ISIL-KP (UN GASC 21.9.2017; vgl: NYT 25.8.2017).

Manche high-profile Angriffe waren gezielt gegen Mitarbeiter/innen der ANDSF und afghanischen Regierungsbeamte gerichtet; Zivilist/innen in stark bevölkerten Gebieten waren am stärksten von Angriffen dieser Art betroffen (SIGAR 31.7.2017).

"Green Zone" in Kabul

Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017).

Eine Erweiterung der sogenannten Green Zone ist geplant; damit wird Verbündeten der NATO und der US-Amerikaner ermöglicht, auch weiterhin in der Hauptstadt Kabul zu bleiben ohne dabei Risiken ausgesetzt zu sein. Kabul City Compound – auch bekannt als das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Spezialkräfte, wird sich ebenso innerhalb der Green Zone befinden. Die Zone soll hinkünftig vom Rest der Stadt getrennt sein, indem ein Netzwerk an Kontrollpunkten durch Polizei, Militär und privaten Sicherheitsfirmen geschaffen wird. Die Erweiterung ist ein großes öffentliches Projekt, das in den nächsten zwei Jahren das Zentrum der Stadt umgestalten soll; auch sollen fast alle westlichen Botschaften, wichtige Ministerien, sowie das Hauptquartier der NATO und des US-amerikanischen Militärs in dieser geschützten Zone sein. Derzeit pendeln tagtäglich tausende Afghaninnen und Afghanen durch diese Zone zu Schulen und Arbeitsplätzen (NYT 16.9.2017).

Nach einer Reihe von Selbstmordattentaten, die hunderte Opfer gefordert haben, erhöhte die afghanische Regierung die Sicherheit in der zentralen Region der Hauptstadt Kabul – dieser Bereich ist Sitz ausländischer Botschaften und Regierungsgebäude. Die Sicherheit in diesem diplomatischen Bereich ist höchste Priorität, da, laut amtierenden Polizeichef von Kabul, das größte Bedrohungsniveau in dieser Gegend verortet ist und eine bessere Sicherheit benötigt wird. Die neuen Maßnahmen sehen 27 neue Kontrollpunkte vor, die an 42 Straßen errichtet werden. Eingesetzt werden mobile Röntgengeräte, Spürhunde und Sicherheitskameras. Außerdem werden 9 weitere Straßen teilweise gesperrt, während die restlichen sechs Straßen für Autos ganz gesperrt werden. 1.200 Polizist/innen werden in diesem Bereich den Dienst verrichten, inklusive spezieller Patrouillen auf Motorrädern. Diese Maßnahmen sollen in den nächsten sechs Monaten schrittweise umgesetzt werden (Reuters 6.8.2017).

Eine erweiterter Bereich, die sogenannte "Blue Zone" soll ebenso errichtet werden, die den Großteil des Stadtzentrums beinhalten soll – in diesem Bereich werden strenge Bewegungseinschränkungen, speziell für Lastwagen, gelten. Lastwagen werden an einem speziellen externen Kontrollpunkt untersucht. Um in die Zone zu gelangen, müssen sie über die Hauptstraße (die auch zum Flughafen führt) zufahren (BBC 6.8.2017; vgl Reuters 6.8.2017).

ANDSF – afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Die Stärkung der ANDSF ist ein Hauptziel der Wiederaufbaubemühungen der USA in Afghanistan, damit diese selbst für Sicherheit sorgen können (SIGAR 20.6.2017). Die Stärke der afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army – ANA) und der afghanischen Nationalpolizei (Afghan National Police – ANP), sowie die Leistungsbereitschaft der Einheiten, ist leicht gestiegen (SIGAR 31.7.2017).

Die ANDSF wehrten Angriffe der Taliban auf Schlüsseldistrikte und große Bevölkerungszentren ab. Luftangriffe der Koalitionskräfte trugen wesentlich zum Erfolg der ANDSF bei. Im Berichtszeitraum von SIGAR verdoppelte sich die Zahl der Luftangriffe gegenüber dem Vergleichswert für 2016 (SIGAR 31.7.2017).

Die Polizei wird oftmals von abgelegen Kontrollpunkten abgezogen und in andere Einsatzgebiete entsendet, wodurch die afghanische Polizei militarisiert wird und seltener für tatsächliche Polizeiarbeit eingesetzt wird. Dies erschwert es, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. Die internationalen Truppen sind stark auf die Hilfe der einheimischen Polizei und Truppen angewiesen (The Guardian 3.8.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Taliban

Die Taliban waren landesweit handlungsfähig und zwangen damit die Regierung erhebliche Ressourcen einzusetzen, um den Status Quo zu erhalten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive im April, haben die Taliban – im Gegensatz zum Jahr 2016 – keine größeren Versuche unternommen Provinzhauptstädte einzunehmen. Nichtsdestotrotz, gelang es den Taliban zumindest temporär einige Distriktzentren zu überrennen und zu halten; dazu zählen der Distrikt Taywara in der westlichen Provinz Ghor, die Distrikte Kohistan und Ghormach in der nördlichen Provinz Faryab und der Distrikt Jani Khel in der östlichen Provinz Paktia. Im Nordosten übten die Taliban intensiven Druck auf mehrere Distrikte entlang des Autobahnabschnittes Maimana-Andkhoy in der Provinz Faryab aus; die betroffenen Distrikte waren: Qaramol, Dawlat Abad, Shirin Tagab und Khwajah Sabz Posh. Im Süden verstärkten die Taliban ihre Angriffe auf Distrikte, die an die Provinzhauptstädte von Kandahar und Helmand angrenzten (UN GASC 21.9.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Die Operationen des ISIL-KP in Afghanistan sind weiterhin auf die östliche Region Afghanistans beschränkt – nichtsdestotrotz bekannte sich die Gruppierung landesweit zu acht nennenswerten Vorfällen, die im Berichtszeitraum von den UN registriert wurden. ISIL-KP verdichtete ihre Präsenz in der Provinz Kunar und setze ihre Operationen in Gegenden der Provinz Nangarhar fort, die von den ANDSF bereits geräumt worden waren. Angeblich wurden Aktivitäten des ISIL-KP in den nördlichen Provinzen Jawzjan und Sar-e Pul, und den westlichen Provinzen Herat und Ghor berichtet (UN GASC 21.9.2017).

Im sich zuspitzenden Kampf gegen den ISIL-KP können sowohl die ANDSF, als auch die Koalitionskräfte auf mehrere wichtige Erfolge im zweiten Quartal verweisen (SIGAR 31.7.2017): Im Juli wurde im Rahmen eines Luftangriffes in der Provinz Kunar der ISIL-KP-Emir, Abu Sayed, getötet. Im August wurden ein weiterer Emir des ISIL-KP, und drei hochrangige ISIL-KP-Führer durch einen Luftangriff getötet. Seit Juli 2016 wurden bereits drei Emire des ISIL-KP getötet (Reuters 13.8.2017); im April wurde Sheikh Abdul Hasib, gemeinsam mit 35 weiteren Kämpfern und anderen hochrangigen Führern in einer militärischen Operation in der Provinz Nangarhar getötet (WT 8.5.2017; vgl SIGAR 31.7.2017). Ebenso in Nangarhar, wurde im Juni der ISIL-KP-Verantwortliche für mediale Produktionen, Jawad Khan, durch einen Luftangriff getötet (SIGAR 31.7.2017; vgl: Tolonews 17.6.2017).

Politische Entwicklungen

Die Vereinten Nationen registrierten eine Stärkung der Nationalen Einheitsregierung. Präsident Ghani und CEO Abdullah einigten sich auf die Ernennung hochrangiger Posten – dies war in der Vergangenheit Grund für Streitigkeiten zwischen den beiden Führern gewesen (UN GASC 21.9.2017).

Die parlamentarische Bestätigung einiger war nach wie vor ausständig; derzeit üben daher einige Minister ihr Amt kommissarisch aus. Die unabhängige afghanische Wahlkommission (IEC) verlautbarte, dass die Parlaments- und Distriktratswahlen am 7. Juli 2018 abgehalten werden (UN GASC 21.9.2017).

Quellen:

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BBC (18.9.2017): US sends 3,000 more troops to Afghanistan, http://www.bbc.com/news/world-us-canada-41314428, Zugriff 20.9.2017

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BBC (2.8.2017): Herat mosque blast: IS says it was behind Afghanistan attack, http://www.bbc.com/news/world-asia-40802572, Zugriff 21.9.2017

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INSO – International NGO Safety Organisation (o.D.): Afghanistan - Total incidents per month for the current year to date, http://www.ngosafety.org/country/afghanistan, Zugriff 19.9.2017

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INSO - The International NGO Safety Organisation (2017):

Afghanistan - Gross Incident Rate, http://www.ngosafety.org/country/afghanistan, Zugriff 19.9.2017

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NYT – The New York Times (16.9.2017): U.S. Expands Kabul Security Zone, Digging In for Next Decade, https://www.nytimes.com/2017/09/16/world/asia/kabul-green-zone-afghanistan.html?mcubz=3, Zugriff 20.9.2017

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NYT – The New York Times (25.8.2017): ISIS Claims Deadly Attack on Shiite Mosque in Afghanistan,

https://www.nytimes.com/2017/08/25/world/asia/mosque-kabul-attack.html?mcubz=3, Zugriff 21.9.2017

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Reuters (13.8.2017): Senior Islamic State commanders killed in Afghanistan air strike: U.S. military, https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-airstrike/senior-islamic-state-commanders-killed-in-afghanistan-air-strike-u-s-military-idUSKCN1AT06J, Zugriff 19.9.2017

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Reuters (6.8.2017): Kabul 'Green Zone' tightened after attacks in Afghan capital,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-security/kabul-green-zone-tightened-after-attacks-in-afghan-capital-idUSKBN1AM0K7, Zugriff 20.9.2017

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SIGAR – Special Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (30.7.2017): QUARTERLY REPORT TO THE UNITED STATES

CONGRESS,

https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2017-07-30qr.pdf, Zugriff 19.9.2017

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SIGAR – Special Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (20.6.2017): Afghan national army: dod may have spent up to $28 million more than needed to procure camouflage uniforms that may be inappropriate for the Afghan environment, https://www.sigar.mil/pdf/special%20projects/SIGAR-17-48-SP.pdf, Zugriff 20.9.2017

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The Guardian (3.8.2017): The war America can't win: how the Taliban are regaining control in Afghanistan, https://www.theguardian.com/world/2017/aug/03/afghanistan-war-helmand-taliban-us-womens-rights-peace, Zugriff 19.9.2017

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Tolonews (17.6.2017): Daesh Media Leader Killed In Nangarhar Air Strike,

http://www.tolonews.com/afghanistan/daesh-media-leader-killed-nangarhar-air-strike, Zugriff 19.9.2017

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UNAMA - UN Assistance Mission in Afghanistan: Afghanistan (7.2017): Protection of Civilians in Armed Conflict; Midyear Report 2017,

https://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_midyear_report_2017_july_2017.pdf, Zugriff 20.9.2017

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UN GASC – General Assembly Security Council (21.9.2017): The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, as of September 15th 2017, https://unama.unmissions.org/report-secretary-general-situation-afghanistan-and-its-implications-international-peace-and-7, Zugriff 21.9.2017

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WT – The Washington Times (8.5.2017): Pentagon confirms Abdul Hasib, head of ISIS in Afghanistan, killed by U.S., Afghan special forces,

http://www.washingtontimes.com/news/2017/may/8/abdul-hasib-head-isis-afghanistan-killed-us-afghan/, Zugriff 19.9.2017

2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.1.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.2.2017).

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(INSO 2017).

INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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