Entscheidungsdatum
22.12.2017Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W182 2106762-3/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.11.2017, Zl. IFA: 1000728507 VZ. 29082999, gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF,zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines
Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl. I Nr. 51/1991 idgF, §§ 57, 10 Abs. 1 Z 3, Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2 und Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 2, 55 Abs. 1a und § 46 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation aus der Teilrepublik Dagestan, gehört der kumykischen Volksgruppe an, ist Sunnit, und brachte am 22.01.2014 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz ein, nachdem er zuvor illegal in das Bundesgebiet gelangt war.
In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.01.2014 sowie in einer Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 13.08.2014 brachte der BF zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass er in seiner Heimat in einer Firma als Schuhmacher gearbeitet habe und dort Ende September 2013 mit weiteren Mitarbeitern von maskierten Männer festgenommen und nach XXXX, vermutlich zu einer Polizeistation, gebracht worden sei, wo er verhört und geschlagen worden sei. Die Leute hätten behauptet, dass er mit Widerstandskämpfern zusammengearbeitet hätte, was jedoch nicht der Wahrheit entsprochen habe. Nach zwei Tagen sei er von Verwandten für eine Summe von 45.000,- russ. Rubel (etwa € 1.000,-) freigekauft worden. Im Oktober 2013 sei er abermals in der Schuhfabrik verhaftet, verhört und geschlagen worden. Diesmal sei er vier Tage bei der Polizei angehalten worden und hätten seine Angehörigen 90.000,- russ. Rubel bezahlen müssen, um dessen Freilassung zu erwirken. Nach dessen Freilassung seien die maskierten Männer auch mehrere Male bei der Ehefrau des BF gewesen und hätten nach diesem gefragt. Zwei seiner Arbeitskollegen seien im Oktober 2013 verschollen, ein Arbeitskollege sei Mitte Oktober 2013 getötet worden. Ein Polizeichef, der dem BF mitgeteilt habe, dass eine Gerichtsverhandlung gegen ihn laufe, habe dafür, dass er die Akten verschwinden lasse, drei Mal Geld vom BF kassiert. Die Polizei hätte dann noch das Haus und Elternhaus des BF in dessen Anwesenheit durchsucht und ihn geschlagen. Am 19.01.2014 habe der BF das Herkunftsland verlassen. Auf Nachfragen gab er an, alle seine Fluchtgründe genannt zu haben, sonst habe er keine Fluchtgründe. Er habe im Wohlstand gelebt und monatlich etwa € 1.000,- verdient. Der BF sei verheiratet und habe eine Tochter, seine Angehörigen seien in Dagestan wohnhaft.
Als Nachweis seiner Identität legte der BF seinen russischen Führerschein im Original vor.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 13.04.2015, Zl. 1000728507-14045519, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt III.). Das Bundesamt traf umfangreiche Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat. Beweiswürdigend ging die Behörde aufgrund näher dargestellter Ungereimtheiten innerhalb der Angaben des BF sowie in Anbetracht dessen vager und lückenhafter Schilderungen von einer Unglaubwürdigkeit des dargelegten Verfolgungssachverhalts aus.
Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.2016, Zl. W103 2106762-1/6E, in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Die Identität des BF wurde festgestellt. Begründend ging das Bundesverwaltungsgericht von einer Unglaubwürdigkeit des vorgebrachten Verfolgungssachverhalts aus.
Das angeführte Erkenntnis wurde dem rechtsfreundlichen Vertreter des BF am 24.03.2016 rechtswirksam zugestellt.
1.2. Am 26.04.2016 stellte der BF erneut einen Antrag auf internationalen Schutz (1. Folgeantrag).
Nach den Gründen seiner neuerlichen Antragstellung befragt, gab der BF in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.04.2016 zusammenfassend an, bei einem Telefonat in seine Heimat erfahren zu haben, dass zwei Arbeitskollegen von ihm getötet worden seien. Ein anderer sei verschwunden und später tot aufgefunden worden. Der BF habe Angst um sein Leben. Andernfalls würde er gerne zurückkehren und seine Familie besuchen; seine Frau und seine Kindern wohnen derzeit bei den Eltern seiner Frau in Dagestan. Sein Bruder und er selbst hätten eine Ladung der Polizei in Dagestan erhalten, im Zuge jener Vorladung sei sein Bruder nach dem Aufenthaltsort des BF gefragt worden. Im Falle einer Rückkehr befürchte der BF, getötet zu werden. Er habe schon im Rahmen vorangegangener Einvernahmen ausführlich über seine Arbeitskollegen berichtet, welche getötet worden seien. Befragt, seit wann ihm die Änderung seiner Fluchtgründe bekannt sei, erklärte der BF, im Dezember 2015 von jenem Arbeitskollegen erfahren zu haben, welcher zunächst verschwunden gewesen und später tot aufgefunden worden sei.
In einer Einvernahme beim Bundesamt am 12.05.2016 brachte der BF im Wesentlichen wie bisher vor, dass ihm sein Bruder im Dezember 2015 telefonisch mitgeteilt habe, dass sein damaliger Arbeitskollege zuerst spurlos verschwunden und dann erschossen gefunden worden sei und dass auf einen zweiten Arbeitskollegen von ihm geschossen worden sei. Der BF habe sofort Angst bekommen, dass er auch umgebracht werde, wenn er in sein Heimatland zurückkehre. Er habe damals auf seine zweite Einvernahme gewartet und habe das alles erzählen wollen, aber er habe leider keine zweite Einvernahme gehabt und keine Möglichkeit bekommen, das zu erzählen. Er glaube, dass "sie" ihn noch immer suchen und wenn sie ihn finden, umbringen werden. Der BF wolle weiterleben, er habe Angst, dass er umgebracht werde. Er könne es nicht genau sagen, wer diese Personen seien, die ihn umbringen wollen. Sie sollten entweder Banditen oder Wahabiten sein. Diese Personen würden glauben, dass er sie verraten habe.
Der BF habe in Österreich vor etwa einem Monat eine Polizeikontrolle gehabt und sei ihm vorgeworfen worden, dass er sich in Österreich illegal aufhalte. Es sei ihm seine weiße Karte weggenommen worden. Der BF habe Angst vor einer Abschiebung bekommen und deshalb neuerlich einen Asylantrag gestellt. Der BF habe sämtliche Gründe und Vorfälle, welche ihn veranlasst haben, einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, angeführt. Er sei gesund. Er habe seit seiner letzten Antragstellung das Bundesgebiet nicht verlassen. Er habe in Österreich Deutschkurse besucht und Sport betrieben. Momentan befinde er sich in einem privaten Deutschkurs B1. A1 und A2 habe er bereits beim Institut ÖSD gemacht. Er sei auch freiwillig ein Monat lang als Hilfsarbeiter bei einem Flüchtlingslager tätig gewesen und unterstütze eine alte Frau. Er habe auch vor, bei der Feuerwehr Hilfsarbeiten zu machen. Er lebe von der Grundversorgung. Er habe keine Angehörigen, Verwandte oder ihm nahe stehende Personen in Österreich oder einem anderen Land der EU.
Im Dagestan würden sich im Dorf XXXX noch seine Frau, seine Mutter und seine zwei Töchter aufhalten sowie in XXXXschkala ein Bruder sowie eine Schwester leben. Seine Mutter und seine Schwester arbeiten in einem Lebensmittelgeschäft als Verkäuferin. Seine Frau sei Hausfrau. Sein Bruder sei bei den Sicherheitsorganen tätig. Der BF habe im Herkunftsland als Fahrer in einer Firma gearbeitet. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seinen Angehörigen.
Der BF legte u.a. vor: ein Zertifikat Deutsch A1 vom 19.05.2015, ein Zertifikat Deutsch A2 vom 15.06.2015, eine Bestätigung eines XXXX vom 14.04.2016, ein Schreiben einer Psychologin eines XXXX vom 11.04.2016 über die Diagnose "Posttraumatischer Stress mit Angst, Schlaflosigkeit und Albträumen" sowie diverse Unterstützungsschreiben. Der BF sei etwa Ende März 2016 das letzte Mal bei der Psychologin gewesen. Er sei jetzt nicht mehr dort, weil die Psychologin ihm gesagt habe, dass er die Behandlung nicht mehr benötige.
Im Rahmen einer ergänzenden Einvernahme am 22.06.2016 bot die belangte Behörde dem BF nach erfolgter Rechtsberatung Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme zum entscheidungsrelevanten Sachverhalt. Im Zuge jener Einvernahme wiederholte der BF zusammenfassend, an keinen gesundheitlichen Beschwerden zu leiden. Er habe bislang wahrheitsgemäße und vollständige Angaben erstattet, welche er aufrechterhalte. Seine Frau und seine Kinder hielten sich nach wie vor in der Heimat auf, wo sie seitens des Schwiegervaters des BF finanziell unterstützt würden.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 07.07.2016, Zl. 1000728507-160592668 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF vom 26.04.2016 in Spruchpunkt I. gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. In Spruchpunkt II. wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt III. wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestünde. Begründend wurde zu Spruchpunkt I. im Wesentlichen ausgeführt, dass seitens der belangten Behörde im Wesentlichen festgehalten werde, dass sich aus den vorliegenden Akten zweifelsfrei ergebe, dass die seitens des BF dargelegte Verfolgungssituation bereits Gegenstand seines vorangegangenen Verfahrens auf internationalen Schutz gewesen und im Zuge dessen rechtskräftig für unglaubwürdig befunden worden sei. Zu Spruchpunkt II. wurde begründend insbesondere festgehalten, dass auch hinsichtlich des Familien- und Privatlebens des BF seit der rechtskräftigen Entscheidung in dessen Erstverfahren keine Änderung eingetreten sei. Er besitze in Österreich nach wie vor keine familiären oder sonstigen schützenswerten privaten Anknüpfungspunkte. Sein Aufenthalt in Österreich sei auf illegale Einreise und das wiederholte Einbringen ungerechtfertigter Asylanträge zurückzuführen. Der BF habe im Mai 2015 und Juni 2015 zwei Deutschkurse A1 und A2 absolviert. Außerdem habe er Unterstützung einer Frau bei Haus- und Gartenarbeiten, Mitarbeit bei der XXXX, Aktivität bei der Freiwilligen Feuerwehr und Mitgliedschaft in einem XXXX-Club ins Treffen geführt. Die oben genannten Tätigkeiten habe der BF jedoch lediglich sporadisch wahrgenommen, sodass sich insgesamt keine maßgebliche Änderung seiner Integrationsverfestigung erkennen ließe.
Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 01.09.2016, Zl. W103 2106762-2/5E, in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Die Entscheidung wurde der Rechtsvertretung des BF am 08.09.2016 zugestellt.
2.1. Nach einer Asylantragstellung in Deutschland stellte der BF am 19.06.2017 im Bundesgebiet seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz (2. Folgeantrag).
In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 19.06.2017 gab der BF auf die Frage, weshalb er einen neuerlichen Asylantrag stelle, an: "Meine alten Fluchtgründe, die ich bei meinen beiden Asylanträgen in Österreich angegeben habe, bleiben aufrecht, sie haben sich noch verschlimmert. Ich habe darüber Fotos, diese möchte ich beim Interview beim Asylamt vorlegen. Ich habe damit alle meine Fluchtgründe gesagt." Bei einer Rückkehr nach Russland habe er Angst um sein Leben, dass er dort getötet werden könnte. Er sei am 03.11.2016 selbstständig von Österreich mit einem Zug nach Deutschland gefahren, und habe sich dort bis zum 18.06.2017 aufgehalten. In Deutschland sei festgestellt worden, dass Österreich zuständig sei. Der BF sei dann selbstständig von Deutschland nach Österreich gefahren. Zu Krankheiten befragt, gab der BF an, früher Beschwerden gehabt zu haben, welche in Deutschland behandelt worden seien. Momentan habe er keine Beschwerden, er nehme wegen des Rahmadan momentan keine Medikamente.
Einem Entlassungsbrief einer deutschen Klinik zufolge, wurde der BF nach einem Kollaps – laut Anamnese habe der BF laut eigenen Angaben nach Genuss von Drogen Schwindel bemerkt - und einem brennenden thorakalen Gefühl zur Abklärung am 03.03.2017 stationär aufgenommen. Bei Entlassung des BF in gutem Allgemeinzustand am 16.03.2017 wurde folgende Diagnose gestellt: Invasiver Ausschluss einer relevanten stenosierenden koronaren Herzerkrankung, unauffällige elektrophysiologische Untersuchung und Ajmalin Test, komplikationslose Implantation eines Eventrekorders zum Ausschluss weiterer Herzrhythmusstörungen.
In einer Einvernahme beim Bundesamt am 20.07.2017 brachte der BF im Wesentlichen vor, dass seine alten Gründe noch immer aufrecht seien, aber sich die Situation verschärft habe. Er habe auch neue Fluchtgründe. Dazu führte er ergänzend aus: "Ich bin mit meinen 2 weiteren Freunden gegangen, um ein Auto zu besichtigen und mein Freund wollte es kaufen im Jänner 2014. Es gab ein weißes vor uns, wir überholten es. Das Auto fuhr rechts, wir fuhren gerade. Das weiße Auto fuhr rechts, wir fuhren noch 500 Meter, dann hörten wir eine Explosion. Das Auto fuhr in eine Polizeidienststelle, dabei wurden mehrere Polizisten getötet. Paar Minuten danach hörten wir Schusswechsel, der Besitzer des Autos, das wir kaufen wollten, sagte uns, dass wir warten sollten. Wir wollten zurück nach Hause, auf der Straße hielten uns Polizisten an und kontrollierten uns. Dann fuhren wir nach Hause, um 3 Uhr früh kamen maskierte Polizisten und nahmen mich mit. Ich wurde gefesselt und ich wurde gefragt was ich in diesem Dorf gemacht habe und sie fragten mich ob ich den Fahrer des weißen Autos kenne, Ich sagte ich überwache das Dorf, ich bin kein Terrorist." Der BF sei mehrmals festgenommen worden. Auf den von ihm neu vorgelegten Photographien sei der BF und mehrere Männer zu sehen, die das Dorf überwachen würden. Dazu befragt, was die Photographien beweisen sollten, gab der BF an: "Damit möchte ich beweisen, dass ich eine das Dorf überwachende Person war, aber die Polizei beschuldigt mich ein Terrorist zu sein." Er habe sein Dorf überwacht gegen Terroristen. Sie seien von Seiten der Regierung unterstützt worden. Die Photographien würden aus dem Jahr 2014 stammen. Ein Freund habe sie ihm per Internet geschickt. Auf die Frage, ob er im Herkunftsland schon einmal verurteilt worden bzw. in Haft gewesen sei, gab er an: "Ich war eingesperrt bei der Polizei, wie in den vorigen Anträgen angegeben. Ca. 36 Stunden vor meiner Ausreise, eine Verurteilung oder Haft gab es nicht." Auf die Frage, ob sich seit der rechtskräftigen Entscheidung im Vorverfahren irgendetwas Wesentliches in seinem Leben geändert habe, gab der BF an, dass er von seiner Mutter erfahren habe, dass die Polizei nach ihm suche. Auf Vorhalt, dass er dies bereits 2016 angegeben habe, und die Frage, ob sich sonst etwa ereignet habe, gab der BF an: "Ich telefonierte mit meiner Mutter. Sie sagt, dass ich verhaftet werde bei einer Rückkehr. Nachgefragt gab Vorladungen, meine Mutter kann es nicht schicken. Sie kennt sich nicht aus. Ich werde die Vorladungen mir schicken lassen übers Netz."
Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland befürchte der BF, zu Hause unmenschlich behandelt, inhaftiert und mit hoher Wahrscheinlichkeit getötet zu werden. Auch könne er mit seiner Krankheit nicht in seinem Land leben. Der BF habe Herzprobleme. Zu Medikamenten befragt, die er einnehme, gab er an: "Doxepin (Nerven), Diprosalic-Salbe, Bisoprotol, T- ASS". Dazu legte er einen Befund eines Landeskrankenhauses vom 05.07.2017 vor, aus dem hervorgeht, dass beim BF eine Kontrolle des Loop Recorders durchgeführt worden ist, wobei der Befund im Wesentlichen unauffällig ausgefallen ist. Weites wurde angemerkt, dass im Falle einer unauffälligen CCT, auch T-ASS und Bisopotrol abgesetzt werden könne. Eine Kontrolle wurde bei Bedarf (Schwindel, neuerlicher Kollaps) oder ansonsten in ca. 1 Jahr festgesetzt. Dazu nachgefragt, gab der BF an, dass es noch keine Termine gebe, weil nicht bekannt sei, ob er hier bleibe. Aktuell habe er Schmerzen in der linken Hand.
Auf Vorhalt, dass seitens des Bundesamtes die Absicht besteht, seinen Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückzuweisen und ihn von Österreich in die Russische Föderation auszuweisen, gab der BF an: "Deutschland wollte mich nach Hause schicken, ich hatte einen Nervenzusammenbruch, seither trage ich einen Chip bei meinem Herz. Ich kann nicht nach Hause zurück, ich werde dort getötet. Ich war bei der Armee, ich durfte mein Land ohne Erlaubnis nicht verlassen. Bei einer Rückkehr bekomme ich Probleme, ich war bei einer Spezialeinheit." Aufgefordert, zu den ausgehändigten Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat Stellung zu nehmen, gab der BF an: "Das ist alles vom Internet und stimmt nicht. Da stehen nur positive Sachen, es steht nicht wie die Menschen behandelt werden. Wenn ich zurück könnte, hätte ich es längst gemacht. Ich ging nach Deutschland, weil ich Angst hatte von Ö abgeschoben zu werden. Nach dem Aufenthalt in KH in DE, kam ich nach Ö, weil DE wollte mich nach Hause schicken. Bitte helfen Sie mir, ich kann nicht nach Hause zurück."
Im Herkunftsland würden sich seine Mutter und seine Geschwister aufhalten. Zu seiner Frau habe er keine Beziehung mehr. Seine Kinder und seine Ex-Frau würden bei seinem Ex- Schwiegervater leben. Mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner älteren Tochter habe er unregelmäßig, ca. einmal im Monat, Kontakt. Seine Mutter sei Pensionistin, sein Bruder Chauffeur und seine Schwägerin Krankenschwester. Der BF habe Matura und Uni-Abschluss im Bereich Wirtschaft. Er habe als Security und Chauffeur gearbeitet und sei in einer Schuhfabrik gewesen. Er lebe in Österreich in einem Lager. Eine Familiengemeinschaft oder eine familienähnliche Lebensgemeinschaft bestehe in Österreich nicht. Der BF habe ein A1 und A2 Zertifikat von 2015, sei Mitglied in einem XXXX, könne jedoch wegen seiner Gesundheit nicht weiter machen. Er sei in keinen Vereinen, kirchlichen Organisationen oder Hilfsorganisationen tätig.
2.2. Mit dem nunmehr angefochtenen, oben angeführten Bescheid des Bundesamtes vom 29.11.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die VR China zulässig sei (Spruchpunkt II.). Weiters wurde unter Spruchpunkt III. ausgeführt, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise des BF bestehe. Im Wesentlichen wurde festgestellt, dass der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt sich seit Rechtskraft des ersten Asylverfahrens des BF nicht geändert habe. Der BF habe keinerlei neuen Fluchtgründe vorgebracht bzw. keine aussagekräftigen Beweismittel ins nunmehrige Verfahren eingebracht, die alten Fluchtgründe seien nach wie vor aufrecht. Das nunmehrige Vorbringen, warum er nicht in sein Heimatland zurückkehren könnte, sei ebenfalls nicht glaubhaft. Bereits im Vorverfahren sei sein Vorbringen einer hinreichenden Prüfung unterzogen und als unglaubwürdig erachtet worden. Im Verfahren haben sich keine Hinweise auf das Vorliegen einer schweren körperlichen Krankheit oder einer schweren psychischen Störung des BF ergeben. Der BF habe keine Familienangehörigen im österreichischen Bundesgebiet behauptet und könne nicht festgestellt werden, dass im Vergleich zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Ausweisungsentscheidung zwischenzeitlich eine besondere Integrationsverfestigung des BF in Österreich neu entstanden sei. Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF im gegenständlichen Verfahren keinen nach Rechtskraft des Erstverfahrens neu entstandenen Sachverhalt vorgebracht habe und sein nunmehr erstattetes Vorbringen unglaubhaft sei, nachdem sich dieses als lediglich auf Behauptungen gestützt darstelle. Seinem Vorbringen komme im gegenständlichen Verfahren hinsichtlich der aktuell vorgebrachten Rückkehrbefürchtungen auch kein glaubhafter Kern zu. Hinsichtlich der Erkrankung des BF sei anzumerken, dass er sich in keinem lebensbedrohlichen Zustand befinde, zumal eine ärztliche Kontrolle lediglich bei Bedarf, bzw. erst in einem Jahr empfohlen werde, wobei er diesen Kontrolltermin auch im Heimatland wahrnehmen könne. Auch hinsichtlich der Verhältnisse im Herkunftsland, zu denen im bekämpften Bescheid umfangreiche Feststellungen getroffen wurden, würden keine entscheidungswesentlichen Änderungen vorliegen. Zu Spruchpunkt II. wurde begründend im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht festgestellt werden könne, dass eine besondere Integrationsverfestigung des BF in Österreich bestehe. Der BF sei nicht selbsterhaltungsfähig, sein bisheriger Aufenthalt im Bundesgebiet sei alleine auf immer wieder gestellte Asylanträge begründet. Ein Familienleben liege nicht vor. In Abwägung sei dem Interesse der Öffentlichkeit an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens und der öffentlichen Ordnung und Sicherheit mehr Gewicht einzuräumen als den privaten Interessen des BF.
Mit Verfahrensordnung nach § 52 Abs. 1 BFA-VG vom 30.11.2017 wurde dem BF ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
1.4. Gegen den Bescheid des Bundesamtes wurde für den BF seitens seiner Rechtsvertretung binnen offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde der gegenständliche Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung der Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, in Folge einer mangelhaften Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten. Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass es die belangte Behörde unterlassen hätte, auf das individuelle Vorbringen des BF einzugehen, und die Gesamtbeurteilung entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes verabsäumt hätte. Es sei unrichtig, dass der BF im gegenständlichen Verfahren keine neuen asylrelevanten Angaben vorgebracht habe. Insgesamt seien die Fluchtgründe des BF nicht mit der erforderlichen Tiefe seitens der belangten Behörde ermittelt worden und stelle dies ein Verstoß gegen § 18 AsylG 2005 dar, welcher besage, dass das Bundesamt in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken habe, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhaften Angaben über die zur Begründung des Antrags geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen würden. Weiters wurde ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Kumyken an, ist Sunnit und stammt aus Dagestan.
Der BF reiste im Jänner 2014 illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 22.01.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Diesen Antrag begründete er Im Wesentlichen damit, dass die Polizei in Dagestan nach ihm suchen und ihm Zusammenarbeit mit Widerstandskämpfern unterstellen würde, wobei 3 Arbeitskollegen, die mit ihm zusammen festgenommen worden seien, inzwischen tot bzw. verschwunden seien. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 13.04.2015, Zl. 1000728507-14045519, abgewiesen, wobei u.a gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung ins Herkunftsland ausgesprochen wurde. Das Bundesamt ging von der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens aus. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.2016 (zugestellt am 24.03.2016), Zl. W103 2106762-1/6E, in allen Spruchpunkten rechtskräftig abgewiesen. Auch das Bundesverwaltungsgericht ging von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus.
Der BF ist trotz rechtskräftiger und durchsetzbarer Ausweisung illegal im Bundesgebiet verblieben.
Am 26.04.2016 stellte er im Bundesgebiet neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz (1. Folgeantrag). Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass er im Dezember 2015 in einem Telefonat erfahren habe, dass alle drei Arbeitskollegen getötet worden seien, wobei er Angst habe, bei einer Rückkehr von Banditen oder Wahabiten getötet zu werden, die glauben würden, dass er sie verraten habe. Weiters hätten der BF und sein Bruder in Dagestan eine Ladung zur Polizei erhalten.
Der Folgeantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 07.07.2016, Zl. 1000728507-160592668, gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und neuerlich eine Rückkehrentscheidung gegen ihn ausgesprochen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die vom BF behauptete Verfolgungssituation bereits Gegenstand seines vorangegangenen Verfahrens auf internationalen Schutz gewesen und im Zuge dessen rechtskräftig für unglaubwürdig befunden worden sei. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.09.2016 (zugestellt am 08.09.2016), Zl. W103 2106762-2/5E, in allen Spruchpunkten rechtskräftig abgewiesen.
Nach einem Aufenthalt in Deutschland vom 03.11.2016 bis zum 18.06.2017, wo er gleichfalls einen Asylantrag gestellt hat, stellte er am 19.06.2017 seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz (2. Folgeantrag). Diesen begründete er mit dem Fortbestehen seiner bisherigen Fluchtgründe, schilderte dazu neu Vorfälle aus dem Jahr 2014 und legte dazu Photographien aus dem Jahr 2014 vor. Weiters behauptete er, von seiner Mutter erfahren zu haben, dass er (nach wie vor) von der Polizei gesucht werde und eine Ladung erhalten habe.
Der BF leidet aktuell an keiner schwerwiegenden Erkrankung. Er war aufgrund eines Kollaps im März 2017 in Deutschland zur Abklärung eines brennenden thorakalen Gefühls in Behandlung, wobei eine relevante stenosierende koronare Herzerkrankung ausgeschlossen werden konnte und sonstige Untersuchungen unauffällig verliefen. Dem BF wurde ein Eventrekorder zum Ausschluss weiterer Herzrhythmusstörungen implantiert und konnte er im März 2017 bei gutem Allgemeinzustand entlassen werden. Eine Kontrolluntersuchung in einem Landeskrankenhaus ist im Juli 2017 unauffällig verlaufen. Eine weitere Kontrolle wurde bei Bedarf oder sonst in ca. 1 Jahr empfohlen.
Der BF ist arbeitsfähig. Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Er ist unbescholten. Er konnte Deutschkenntnisse auf Niveau A2 nachweisen.
In Österreich halten sich kein Familienangehörige oder Verwandte des BF auf. Der BF unterhält auch keine eheähnliche Beziehung zu im Inland aufhältigen Personen.
In Dagestan halten sich die Mutter, ein Bruder, eine Schwester sowie die Kinder und die (Ex-) Frau des BF auf. Der BF hat eine abgeschlossene Matura und einen Universitätsabschluss im Bereich Wirtschaft. Er konnte im Herkunftsland seinen Unterhalt durch Erwerbstätigkeiten bestreiten.
Nicht festgestellt werden kann, dass seit Rechtskraft des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.2016 (zugestellt am 24.03.2016), Zl. W103 2106762-1/6E, zwischenzeitlich aufgrund der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland Umstände eingetreten sind, wonach dem BF in der Russischen Föderation aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder dass ihm im Falle einer Rückkehr ins Herkunftsland die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
In der Beschwerde wurde kein neuer Sachverhalt dargetan.
1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den zutreffenden Feststellungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid ausgegangen, welche unter Berücksichtigung der Judikatur des Verwaltungsgerichthofes in den wesentlichen Teilen nachfolgend wiedergegeben werden (vgl. VwGH 19.09.2017, Zl. Ra 2017/20/0059-14, Rz 13):
1.2.1. Politische Lage in Dagestan
Dagestan belegt mit einer Einwohnerzahl von knapp drei Millionen Menschen (2% der Gesamtbevölkerung Russlands) den dritten Platz unter den Republiken der Russischen Föderation. Über die Hälfte der Einwohner (54,9%) sind Dorfbewohner. Die Bevölkerung in Dagestan wächst verhältnismäßig schnell. Im Unterschied zu den faktisch monoethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann. Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014, vgl. ACCORD 14.4.2017).
Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der der Staat mit aller Härte gegen "Aufständische" vorgeht. Die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern war in den Jahre 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen. Aktionen von Sicherheitskräften nehmen auch die Familienangehörigen von bewaffneten Untergrundkämpfern ins Visier (AA 24.1.2017).
Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in dem Kadyrow’schen Privatstaat. Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Wie im Abschnitt über Dagestans Völkervielfalt erwähnt, stützt die ethnische Diversität ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. So hatte der Vielvölkerstatus der Republik das Amt eines Präsidenten oder Republikführers lange Zeit verhindert. Erst Anfang 2006 setzte der Kreml den Awaren Muchu Alijew als Präsidenten an die Spitze der Republik. Alijew war in sowjetischer Zeit ein hochrangiger Parteifunktionär und bekleidete danach zehn Jahre lang den Vorsitz im Parlament Dagestans. Er galt als "Mann des Volkes" in einer Republik, in der politische Macht bislang an die Unterstützung durch lokale und ethnische Seilschaften gebunden war. Alijew, so schien es anfangs, stand über diesen Clan-Welten. Doch die Hoffnung auf Korruptionsbekämpfung und bessere Regierungsführung wurde enttäuscht. Moskau ersetzte ihn 2009 durch Magomedsalam Magomedow, einen Sohn des langjährigen Staatsratsvorsitzenden, der als Präsidentenersatz fungiert hatte. Damit verschob sich die politische Macht im ethnischen Spektrum von den Awaren wieder zu den Darginern. Der neue Präsident war mit Hinterlassenschaften der 14-jährigen Herrschaft seines Vaters Magomedali Magomedow konfrontiert, die sein Amtsvorgänger Alijew nicht hatte bewältigen können. Das betraf vor allem Korruption und Vetternwirtschaft. In Dagestan bemühte sich Magomedow vor allem um einen Dialog zwischen den konfessionellen Konfliktparteien der Sufiten und Salafisten und um eine Reintegration der "Waldbrüder", des bewaffneten Untergrunds also, in die Gesellschaft. Er berief auch einen dagestanischen Völkerkongress mit fast 3.000 Teilnehmern ein, der im Dezember 2010 religiösen Extremismus und Terrorismus verdammte und die Bevölkerung aufrief, den Kampf gegen den bewaffneten Untergrund zu unterstützen. Ein Ergebnis des Kongresses war die Schaffung eines Komitees für die Reintegration von Untergrundkämpfern. Doch auch Magomedsalam Magomedow gelang es nicht, die Sicherheitslage in Dagestan zu verbessern. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramsan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus; 1999/2000 hatte er kurzzeitig das ein Jahr später abgeschaffte föderale Ministerium für Nationalitätenbeziehungen geleitet. Damit trat abermals ein Hoffnungsträger an die Spitze der Republik, der als Erstes der Korruption und dem Clanismus den Kampf ansagte. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagiert Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015).
Laut Swetlana Gannuschkina ist Abdulatipow ein alter sowjetischer Bürokrat. Sein Vorgänger Magomedsalam Magomedow war ein sehr intelligenter Mann, der kluge Innenpolitik betrieb. Er hatte eine Diskussionsplattform organisiert, wo verfeindete Gruppen miteinander gesprochen haben. Es ging dabei vor allem um den Dialog zwischen den Salafisten und den Anhängern des Sufismus. Unter ihm haben auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von Seiten der Polizei aufgehört. Er hat eine sogenannte Adaptionskommission eingerichtet. Diese Kommission hatte die Aufgabe, Kämpfern von illegal bewaffneten Einheiten eine Rückkehr ins bürgerliche Leben zu ermöglichen. Diejenigen, die kein Blut an den Händen hatten, konnten mit Hilfe dieser Kommission wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. Wenn sie in ihrem bewaffneten Widerstand Gewalt angewendet oder Verbrechen begangen hatten, wurden sie zwar verurteilt, aber zu einer geringeren Strafe. Auch diese Personen sind in die dagestanische Gesellschaft reintegriert worden. Mit der Ernennung Abdulatipows als Oberhaupt der Republik gab es keine Verhandlungen mehr mit den Aufständischen und er initiierte einen harten Kampf gegen den Untergrund. Dadurch stiegen die Terroranschläge und Gewalt in Dagestan wieder an (Gannuschkina 3.12.2014, vgl. AI 9.2013).
Quellen:
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ACCORD (14.4.2017): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,
http://www.ecoi.net/news/190001::russische-foederation/120.sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen.htm, Zugriff 21.6.2017
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AI – Amnesty International (9.2013): Amnesty Journal Oktober 2013, Hinter den Bergen,
http://www.amnesty.de/journal/2013/oktober/hinter-den-bergen, Zugriff 21.6.2017
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Gannuschkina, Swetlana (3.12.2014): UNHCR Veranstaltung "Informationsaustausch über die Lage in der Russischen Föderation/ Nordkaukasus" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
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IOM – International Organisation of Migration (6.2014):
Länderinformationsblatt Russische Föderation
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SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:
Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 21.6.2017
1.2.2. Sicherheitslage in der Russischen Föderation
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind – wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat – also Teufelsstaat – übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens‘, bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS – v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats – festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen – der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia – hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).
Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).
Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017
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FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017
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FP – Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,
http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/, Zugriff 21.7.2017
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ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad?
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-north-caucasus-insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 21.7.2017
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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation
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Mena Watch (10.5.2017): Russland setzt auf sunnitische Soldaten in Syrien,
http://www.mena-watch.com/russland-setzt-auf-sunnitische-soldaten-in-syrien/, Zugriff 21.7.2017