Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache des S***** B*****, geboren am ***** 1999, über die Revisionsrekurse des bei Erhebung des Rechtsmittels noch minderjährigen S***** B*****, vertreten durch das Land Wien, Amt für Jugend und Familie, als Kollisionskurator, und des Vaters Ing. H***** B*****, vertreten durch Mag. Thomas Kaumberger, Rechtsanwalt in Pressbaum, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 6. September 2016, GZ 43 R 443/16i-442, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 22. Juni 2016, GZ 26 PU 118/13b-434, teilweise abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revisionsrekurse werden zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der am ***** 2017 volljährig gewordene S***** B***** lebt seit März 2007 überwiegend in Serbien. Zunächst wurde er dort von den mütterlichen Großeltern betreut, seit September 2013 besucht er ein Internat in Belgrad und verbringt jedes zweite Wochenende und die Ferien bei seiner Mutter in Wien. Sein Vater hatte sich im Jahr 2006 in einem Scheidungsvergleich zur Zahlung eines monatlichen Unterhalts von 500 EUR verpflichtet. Er beantragte am 2. Jänner 2008 die Herabsetzung des ab März 2007 zu leistenden Unterhalts auf 50 EUR, der Minderjährige beantragte am 22. September 2009 die Erhöhung auf 525 EUR von Oktober bis Dezember 2006, auf 540 EUR von Jänner bis März 2007, auf 622 EUR von April bis Dezember 2007 und auf 645 EUR ab Jänner 2008.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen wurden im ersten Rechtsgang im Umfang der Anfechtungen aufgehoben (2 Ob 211/11k).
Im zweiten Rechtsgang setzte das Erstgericht den Unterhalt für März 2007 bis Juli 2014 herab und ab August 2014 hinauf.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung für die Zeit ab September 2013 und änderte sie für die Zeit von März 2007 bis August 2013 dahin ab, dass es den Unterhalt auf 140 EUR herabsetzte. Es wendete österreichisches Recht an und differenzierte bei der Bemessung des Unterhalts zwischen der Zeit des Aufenthalts bei den Großeltern und jener des Internatsbesuchs. Im ersten Zeitraum nahm es Drittpflege an, im zweiten wegen der in Wien verbrachten Wochenenden und Ferien Betreuung durch die Mutter. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht im Ergebnis mit der Begründung zu, dass sich aus dem ab 18. Juni 2011 anwendbaren Haager Unterhaltsprotokoll (HUP) für danach liegende Unterhaltsperioden auch die Anwendung serbischen Rechts ergeben könnte.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen diese Entscheidungen gerichteten Revisionsrekurse beider Parteien sind entgegen diesem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch nicht zulässig.
A. Zum Revisionsrekurs des Unterhalts-berechtigten:
1. Auch ein vom Gericht zweiter Instanz an sich zu Recht zugelassenes Rechtsmittel ist zurückzuweisen, wenn es keine oder nur solche Gründe geltend macht, deren Erledigung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage abhängt (RIS-Justiz RS0102059). Jedenfalls muss der Rechtsmittelwerber darlegen, aus welchen Gründen die rechtliche Beurteilung der Sache unrichtig sein soll (RIS-Justiz RS0043603).
2. Dieses Erfordernis erfüllt der gerade eine halbe Seite umfassende, noch vom Kollisionskurator erhobene Revisionsrekurs nicht. Er spricht die Frage des anwendbaren Rechts nicht an, sondern bekämpft ausschließlich die Unterhaltsherabsetzung für die Zeit der Drittpflege. Diese Herabsetzung erscheine „doch zu tief angesetzt“, weil die Mutter Aufwendungen für Kleidung, Pflegeartikel und Freizeitaktivitäten in Österreich getätigt und der Unterhaltsberechtigte einen Anspruch darauf habe, am Wohlstand des Vaters Anteil zu nehmen. Damit fehlt eine Auseinandersetzung mit der wesentlichen Begründung des Rekursgerichts, wonach der behauptete Aufwand für die Drittpflege – trotz eines an sich „unauffälligen“ Bedarfs – das serbische Durchschnittseinkommen deutlich überstiege und die Mutter auch selbst, wenngleich in geringerem Umfang als der Vater, zum Unterhalt beizutragen hatte. Angesichts der vom Erstgericht festgestellten Kaufkraftunterschiede ermöglicht auch der zugesprochene Betrag ein Partizipieren an den besseren Lebensverhältnissen des Vaters.
3. Der Revisionsrekurs des Unterhalts-berechtigten zeigt damit keine erhebliche Rechtsfrage auf. Er ist daher zurückzuweisen.
B. Zum Revisionsrekurs des Vaters:
1. Die vom Rekursgericht bezeichnete Rechtsfrage begründet die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht.
1.1. Der Revisionsrekurs des Vaters führt zwar aus, dass auf den Unterhaltsanspruch jedenfalls ab Juli 2011 aufgrund von Art 3 Haager Unterhaltsprotokoll (HUP) serbisches Recht anzuwenden sei. Träfe das zu, läge wegen der Nichtermittlung dieses Rechts ein Verfahrensmangel besonderer Art vor, der dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung zu unterstellen wäre (4 Ob 177/13b; 2 Ob 121/11z; 4 Ob 232/07g) und unter Umständen zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen könnte (RIS-Justiz RS0116580, RS0040045). Allerdings müsste der Rechtsmittelwerber dafür zumindest ansatzweise darlegen, warum nach der richtig anzuwendenden Rechtsordnung ein günstigeres als das vom Gericht zweiter Instanz erzielte Ergebnis zu erwarten wäre (9 Ob 34/10f; 2 Ob 121/11z; 4 Ob 177/13b; 4 Ob 176/16k).
1.2. Ein solches Vorbringen hat der Rechtsmittelwerber nicht erstattet; vielmehr argumentiert er in seinem Rechtsmittel ausschließlich zum materiellen österreichischen Recht. Unter diesen Umständen kann die Rechtsanwendungsfrage – ungeachtet des Zulassungsausspruchs – die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht begründen. Denn eine erhebliche Rechtsfrage iSv § 502 Abs 1 ZPO oder § 62 Abs 1 AußStrG stellt sich nur dann, wenn die Entscheidung gerade von der Lösung dieser Frage abhängt; die vom Gericht zweiter Instanz oder vom Rechtsmittelwerber bezeichnete Rechtsfrage muss daher präjudiziell für die Entscheidung sein (Zechner in Fasching/Konecny2 § 502 Rz 60 und § 519 Rz 106; Schramm in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 62 Rz 33; jeweils mwN; RIS-Justiz RS0088931). Legt der Rechtsmittelwerber nicht dar, weshalb die Anwendung fremden Rechts zu einem anderen Ergebnis führen müsste, fehlt diese Präjudizialität für den konkreten Fall. Zur Lösung abstrakter Rechtsfragen ist der Oberste Gerichtshof nicht berufen (RIS-Justiz RS0111271 [T2]).
2. Auch sonst zeigt der Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage auf.
2.1. Zur internationalen Zuständigkeit:
Der Vater bestreitet unter Hinweis auf die Europäische Unterhaltsverordnung (VO 4/2009/EG, EuUVO) die Zuständigkeit der österreichischen Gerichte für die Entscheidung über den von ihm gestellten Herabsetzungsantrag. Nach Art 75 Abs 1 iVm Art 76 EuUVO ist diese Verordnung allerdings nur auf Verfahren anwendbar, die ab dem 18. Juni 2011 eingeleitet wurden. Der Vater hat seinen Herabsetzungsantrag demgegenüber schon im Jahr 2008 gestellt. An der insofern nach altem Recht begründeten Zuständigkeit (Art 4 EuGVVO iVm §§ 110, 109 Abs 2, 114 Abs 1 JN) änderte sich daher durch das Inkrafttreten der EuUVO nichts.
2.2. Zu den behaupteten Mängeln des Verfahrens:
(a) Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann grundsätzlich auch dann nach § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG mit Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie in erster Instanz erfolgte und das Rekursgericht den Mangel verneinte (RIS-Justiz RS0121265 [T4]). Nach § 58 Abs 1 und 3 AußStrG ist allerdings vor einer Aufhebung und Zurückverweisung an eine Vorinstanz zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung „selbst aufgrund der Angaben im (Revisions-)Rekursverfahren“ oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist (2 Ob 77/08z mwN). Um diese Prüfung zu ermöglichen, muss ein Revisionsrekurswerber die Rüge des Gehörverstoßes durch Darlegen von dessen Entscheidungserheblichkeit konkretisieren (RIS-Justiz RS0120213 [T9, T14]; RS0123872 [T1]).
(b) Richtig ist, dass die Nichtzustellung von Verfahrensergebnissen eine solche Gehörverletzung begründen kann (zuletzt etwa 10 Ob 21/17m mwN). Im vorliegenden Fall ist aber aktenkundig, dass der Vater mehrfach Akteneinsicht nahm, zuletzt unmittelbar vor der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Erhebungsergebnisse waren ihm daher bekannt. Zwar hat ihm das Erstgericht diese Ergebnisse weder zugestellt, noch hat es ihm eine Frist zur Stellungnahme gesetzt. Wegen seiner Kenntnis des Akteninhalts hätte der Vater aber schon im Rekurs konkret ausführen können und müssen, welche Äußerung er bei einer formellen Mitteilung abgegeben hätte und welche Auswirkungen dies auf die Feststellungen des Erstgerichts hätte haben können. Ein solches Vorbringen erstattet er auch im Revisionsrekurs nicht. Mangels Darlegung der Relevanz der unterbliebenen Zustellung zeigt er damit keine erhebliche Rechtsfrage des Verfahrensrechts auf.
(c) Zwar hat das Erstgericht die Schulbesuchsbestätigung des Unterhaltsberechtigten von der Akteneinsicht ausgenommen. Der diesbezüglichen Rüge des Vaters ist das Rekursgericht aber mit der Begründung nicht gefolgt, dass er den Internatsbesuch in erster Instanz nicht bestritten habe. Zudem ergibt sich dieser Internatsbesuch auch aus anderen Aktenbestandteilen (ON 410), die dem Vater offenkundig bekannt sind, weil er sich darauf an anderer Stelle bezieht. Der Vater behauptet im Revisionsrekurs nicht, dass er den Internatsbesuch schon in erster Instanz bestritten hätte, und er nimmt auch nicht zu den ihm bekannten weiteren Urkunden Stellung, die den Internatsbesuch belegen. Damit stellt er auch hier die Relevanz des behaupteten Gehörverstoßes nicht dar.
(d) Der Kollisionskurator wurde rechtskräftig bestellt. Diese Frage kann daher nicht neuerlich aufgerollt werden.
2.3. Zum Unterhalt während der Drittpflege:
(a) Das Erstgericht hat den vom Vater zu leistenden Unterhalt zunächst nach der „Drittpflegeformel“ (RIS-Justiz RS0047403) – also durch Aufteilung des von ihm festgestellten Aufwands nach Leistungsfähigkeit der Eltern – ermittelt und dann auf jenen Betrag gekürzt, den der Vater auch nach der Prozentsatzmethode unter Bedachtnahme auf das geringere Kaufkraftniveau in Serbien zu zahlen hätte (Mischunterhalt, RIS-Justiz RS0111899; näher unten 2.4.). Das Rekursgericht hat hier eine (deutliche) weitere Reduktion vorgenommen.
(b) Die Beurteilung der Frage, wie und in welchem Ausmaß im Ausland lebende Minderjährige an den besseren Lebensverhältnissen ihrer Eltern teilhaben sollen, steht im pflichtgebundenen Ermessen der Vorinstanzen, ein konkretes Berechnungssystem ist dafür nicht vorgesehen (2 Ob 211/11k mwN = RIS-Justiz RS0111899 [T12]). Im vorliegenden Fall ist der zugesprochene Betrag von ohnehin nur 140 EUR, der weit unter den festgestellten Aufwendungen liegt, unbedenklich.
(c) Die im Revisionsrekurs ausführlich erörterten Fragen zur Anspannung und zu den Sorgepflichten der Mutter hatten – wenn überhaupt – nur für die Anwendung der „Drittpflegeformel“ Bedeutung. Da der letztlich zugesprochene Unterhalt weit unter der Hälfte jener Beträge liegt, die sich daraus ergeben, ist nicht erkennbar, welchen Einfluss diese Fragen auf die konkrete Entscheidung haben könnten.
2.4. Zum Unterhalt während des Internatsbesuchs:
(a) Der Senat hat die Kriterien für das Vorliegen einer Drittpflege bereits in der im ersten Rechtsgang ergangenen Entscheidung 2 Ob 211/11k dargelegt. Danach ist maßgebend, ob ein Elternteil das Kind tatsächlich betreut. Dazu zählen insbesondere Unterkunft, Beaufsichtigung, geistig-seelische Erziehung, Körperpflege, Verpflegung (Nahrungszubereitung), Reinigung und Instandhaltung von Kleidung und Wäsche sowie Pflege im Krankheitsfall (10 Ob 53/03x mwN; RIS-Justiz RS0047367, RS0047394). Unerheblich ist dabei, ob der haushaltsführende Elternteil sich ausschließlich oder nur während bestimmter Tageszeiten oder überhaupt nur an bestimmten Tagen der Betreuung des Kindes widmet. Auch wenn das Kind während der Woche in einem Internat untergebracht ist und sich nur an Wochenenden, zu den Feiertagen und während der Ferien bei diesem Elternteil befindet, leistet der betreuende Elternteil einen vollen Beitrag zur Deckung der Bedürfnisse des Kindes (6 Ob 120/03w; RIS-Justiz RS0047434, RS0047443).
(b) Ob diese Bedingungen erfüllt sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Auffassung der Vorinstanzen, dass der Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten bei der Mutter an jedem zweiten Wochenende und in allen Ferien die Annahme einer Betreuung durch die Mutter rechtfertige, ist auf der Grundlage der dargestellten Rechtsprechung nicht zu beanstanden. Dass solche Aufenthalte im Regelfall mit Betreuungsleistungen verbunden sind, ist notorisch; die Feststellungen des Erstgerichts sind in diesem Sinn zu verstehen. Die Rechtslage wäre im Übrigen gleich, wenn der Unterhaltsberechtigte allein oder noch bei seinen Großeltern wohnte: Entscheidend ist die jedenfalls seit der Entscheidung im ersten Rechtsgang deutlich verstärkte Betreuung durch die Mutter, die nach der vertretbaren Ansicht der Vorinstanzen die – unterhaltsrechtlich anders zu beurteilende – Drittpflege wegfallen lässt (vgl 2 Ob 211/11k: „Dass sich der Minderjährige auch nur zeitweise bei [der Mutter] in Wien aufhalten würde, geht aus ihrem Vorbringen jedoch nicht hervor.“).
(c) Jedenfalls seit Beginn des Internatsbesuchs hat der Vater daher einen nach den Grundsätzen des „Mischunterhalts“ (RIS-Justiz RS0111899) bemessenen Unterhalt zu leisten, der zwar unter Bedachtnahme auf den geringeren Bedarf in Serbien zu ermitteln ist, aber dem Berechtigten doch ein Partizipieren an den besseren Lebensverhältnissen seines Vaters ermöglicht. Dafür sind die Umstände des Einzelfalls maßgebend; ein konkretes Berechnungssystem gibt es dafür nicht (2 Ob 211/11k; die in 8 Ob 30/16v gewählte Methode ist nur eine der denkbaren Möglichkeiten). Im vorliegenden Fall stellten die Vorinstanzen den nach der Prozentsatzmethode ermittelten Unterhalt jenem deutlich geringeren Betrag gegenüber, der diesem Unterhalt unter Berücksichtigung der Kaufkraft in Serbien entspräche, und sprachen das arithmetische Mittel zu. Diese Vorgangsweise ist angesichts des Umstands, dass der Unterhaltsberechtigte mit den Wochenenden und Ferien einen nicht unbeträchtlichen Teil des Jahres in Österreich verbringt, nicht zu beanstanden. Der Vater zahlt ohnehin deutlich weniger, als seiner Leistungsfähigkeit entspräche; der für serbische Verhältnisse hohe Betrag dient auch der Abdeckung der höheren Lebenshaltungskosten in Österreich. Eine nicht hinnehmbare Überalimentierung („Luxusgrenze“) ist auf dieser Grundlage nicht zu erkennen.
3. Auch der Revisionsrekurs des Vaters zeigt damit keine für die konkrete Entscheidung erhebliche Rechtsfrage auf. Er ist daher ebenfalls zurückzuweisen.
Textnummer
E120160European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00235.16X.1128.000Im RIS seit
05.01.2018Zuletzt aktualisiert am
06.12.2021