TE Bvwg Erkenntnis 2017/12/1 W191 2141968-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2017
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Entscheidungsdatum

01.12.2017

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W191 2141968-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ihre Mutter XXXX , geboren am XXXX , diese vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.06.2017, Zahl 1106742206-160299795, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.10.2017 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), Frau XXXX , geboren am XXXX (BF1), und ihr Ehemann XXXX , geboren am XXXX (BF2), afghanische Staatsangehörige, reisten nach ihren Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellten jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage vom 17.12.2015 ergab, dass die BF1 und der BF2 am 09.12.2015 in Mytilini (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden waren.

1.2. In ihrer Erstbefragung am 17.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) Marchegg gaben die BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Sie hätten in Afghanistan in der Provinz Ghazni gelebt. Sie seien traditionell verheiratet und die BF1 sei im achten Monat schwanger. Sie hätten keine Schulbildung und seien Analphabeten. Der BF2 sei Bauarbeiter gewesen und habe für ihren Lebensunterhalt gesorgt. Vor 19 Tagen hätten sie Afghanistan verlassen und seien über den Iran und die Türkei nach Griechenland gereist und von dort über ihnen unbekannte Länder schließlich nach Österreich gelangt. In Afghanistan würden noch die Eltern der BF sowie der Bruder und die Schwester des BF2 leben.

Als Fluchtgrund gaben die BF an, dass bei ihnen zu Hause die Sicherheitslage sehr schlecht sei. Die Taliban würden Schiiten köpfen, und die BF1 gab an, als Frau könne man nicht einmal das Haus verlassen. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat würden sie um ihr Leben fürchten, da überall Krieg sei.

Die BF wurden unter Ausfolgung von Aufenthaltsberechtigungskarten gemäß § 51 AsylG zum Asylverfahren zugelassen.

1.3. Am XXXX wurde in XXXX XXXX (BF3) als Tochter von BF1 und BF2 geboren. Die BF1 stellte als gesetzliche Vertreterin für diese ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren.

1.4. Bei ihrer Einvernahme am 16.11.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigten die BF die Richtigkeit ihrer bisher gemachten Angaben mit der Maßgabe, dass die Adressen falsch protokolliert worden seien und die Schwester der BF1 nicht im Protokoll angeführt sei.

Sie würden beide aus der Provinz Ghazni stammen. Die BF1 sei Hausfrau gewesen, der BF2 habe auf der Baustelle gearbeitet und noch andere Tätigkeiten als Hilfsarbeiter verrichtet. Er habe auch mit einem Wagen Gemüse verkauft. Sie seien beide nicht in der Schule gewesen, die BF1 habe als Frau in Afghanistan die Schule nicht besuchen dürfen.

Sie hätten vor zwei Jahren geheiratet und die Heiratsurkunde in Kabul ausstellen lassen. An Familienangehörigen würden in Afghanistan die Eltern der BF und die Schwester der BF1 sowie die Schwester und der Bruder des BF2 leben. Ihre Eltern seien alle Einzelkinder.

Befragt nach ihren Fluchtgründen gaben die BF im Wesentlichen an, von den Taliban wegen ihrer Religion und Volksgruppenzugehörigkeit mit dem Köpfen bedroht worden zu sein. Ihre Heimatregion werde von den Taliban regiert und das Leben sei jeden Tag schwieriger geworden. Der BF2 habe Angst gehabt, zur Arbeit zu gehen, weil er befürchtet habe, dass die Taliban zu ihnen nach Hause kommen würden. Er habe sich nicht frei bewegen können und sei bedroht worden, dass er nicht das Recht habe, hinaus zu gehen. Es sei wie ein Gefängnis gewesen.

Die BF1 gab an, dass es ihr als Frau nicht möglich gewesen sei, ohne einen Mann das Haus zu verlassen. Die Taliban seien zu den Häusern gekommen und hätten gesagt, dass die Frauen nicht hinausgehen und das Gesicht zeigen sollen, sonst würden ihnen die Köpfe abgeschnitten werden. Sie hätten gewartet, ob die Situation besser werde, aber nachdem die Taliban immer mehr Druck gemacht hätten, seien sie gezwungen gewesen, das Land zu verlassen. Vor einer Bedrohung durch die Taliban seien sie nirgendwo in Afghanistan sicher. Ihre Tochter wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch in Gefahr.

Die BF1 gab weiters an, hier glücklich und frei zu sein. Sie verwalte ihr Geld selbst und gehe Einkaufen.

Im Rahmen der Einvernahme legte der BF2 eine Heiratsurkunde im Original sowie zwei Deutschkursbestätigungen, ein Empfehlungsschreiben einer Privatperson, eine Bestätigung, dass er in einer Mannschaft Fußball spiele, und eine Anmeldebestätigung zum Integrationsworkshop vor.

1.5. Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 23.11.2016 wies das BFA die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 17.12.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status von Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidungen in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihnen nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Die Angaben zum Fluchtgrund seien nicht glaubhaft nachvollziehbar gewesen, so hätten die BF ihr Fluchtvorbringen vage, ohne jegliche Details, nicht plausibel und widersprüchlich geschildert. Eine Gefährdung oder Verfolgung der BF sei daher nicht festzustellen gewesen. Auch die Tatsache, dass die BF1 in traditioneller Kleidung mit Kopftuch zur Einvernahme erschienen sei, lasse keinen Rückschluss auf eine besondere westliche Gesinnung zu.

Die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz wurde damit begründet, dass die BF keine Gefährdungslage bezogen auf ihre Person glaubhaft machen hätten können. Zwar sei in Bezug auf ihre Heimatprovinz Ghazni derzeit von einer allgemein relevanten Gefährdungslage auszugehen, jedoch sei eine solche in Bezug auf Kabul nicht erkennbar. Sie könnten demnach in Kabul Arbeit, Sicherheit und zumutbare Lebensbedingungen vorfinden.

Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wurde den BF mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG die ARGE-Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe Österreich gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.6. Gegen diese Bescheide brachten die BF mit Schreiben ihres zur Vertretung bevollmächtigen Rechtsberaters vom 05.12.2016 das – rechtzeitige und zulässige – Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

In der Beschwerde wurde im Wesentlichen moniert, dass für die BF im Falle der Rückkehr die Gefahr der Verfolgung durch Taliban und andere bewaffnete Gruppierungen aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, aufgrund ihres schiitisch-muslimischen Glaubens sowie aufgrund der Zugehörigkeit der BF1 zur sozialen Gruppe der (westlich orientierten) Frauen in Afghanistan bestehe. Sie sei bemüht, sich in Österreich weiterzubilden, selbst erwerbstätig zu sein und so ein eigenständiges Leben aufbauen zu können.

Weiters enthielt die Beschwerde Einwände gegen die Beweiswürdigung in den angefochtenen Bescheiden, Auszüge aus diversen Berichten zu Afghanistan, Zitate aus Judikaten des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) und Rechtsausführungen.

1.7. Das BVwG behob mit Beschlüssen vom 03.04.2017, Zahlen W191 2141966-1/4E 2141970-1/4E und 2141968-1/4E, die Bescheide des BFA vom 23.11.2016 gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung von neuen Bescheiden an das BFA zurück.

In der Begründung führte das BVwG unter anderem aus (Auszug aus der Beschlussbegründung):

" [ ] 2.2.3. Mögen auch die BF mit ihrem Vorbringen einer Verfolgung durch die Taliban wenig Anhaltspunkte für das Vorliegen eines asylrelevanten Verfolgungsgrundes gegeben haben (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides; die dazu vom BFA gemachten Ausführungen bezüglich der mangelnden Asylrelevanz ihrer Angaben zu den Fluchtgründen erscheinen vielfach plausibel), so ist doch festzuhalten, dass das gegenständliche Verwaltungsverfahren teilweise nur rudimentär und mangelhaft geführt worden ist und somit relevante Mängel aufweist (dazu siehe Punkt 2.2.3.2.).

[ ]

Zwar obliegt es dem Antragsteller, von sich aus entscheidungsrelevante Tatsachen vorzubringen, doch hat das BFA darauf hinzuwirken, dass solche Angaben vervollständigt werden. Notorische Tatsachen sind von der Behörde in ihre Entscheidung einzubringen, selbst wenn sie vom Antragsteller nicht vorgebracht worden sind. Die Frage nach dem in Betracht kommenden Konventionsgrund ist immer auf Basis des Vorbringens des Asylwerbers zu beantworten, dabei können aber zur Abklärung des Sachverhaltes zusätzliche Ermittlungen geboten sein (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht (2016), § 18 AsylG, K4).

Nach der Judikatur des VfGH ist bereits ein sinngemäßes Vorbringen ausreichend, um eine Prüfpflicht der Behörde im Hinblick auf asylrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, die selbstbestimmt leben wollen, auszulösen (vgl. VfGH 20.06.2012, U1986/11 ua):

‚Der Asylgerichtshof hat, indem er keine Prüfung einer asylrelevanten geschlechtsspezifischen Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung durchgeführt hat, seine die Drittbeschwerdeführerin (ein minderjähriges Mädchen) betreffende Entscheidung mit Willkür behaftet, zumal in Hinblick auf diese – im Gegensatz zur Zweitbeschwerdeführerin – ein Vorbringen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Verfolgung sinngemäß erstattet wurde.‘

Im Erkenntnis vom 12.06.2015, E 573/2015, hat der VfGH ausgesprochen:

‚Die Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten hängt davon ab, mit welchen Konsequenzen die Asylwerberin aufgrund ihrer Haltung im Herkunftsstaat zu rechnen hat und ob diese als Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen sind. Nach einer Stellungnahme des UNHCR von Juli 2003 sollten afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen oder dies tatsächlich tun, bei der Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden. Diese Kategorie könnte Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werde und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden sei, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (zur Indizwirkung dieser konkreten Empfehlung VwGH 16.1.2008, 2006/19/0182 mwN). Daraus leitet der VwGH ab, dass einer afghanischen Frau Asyl zu gewähren ist, wenn der von ihr vorgebrachte ‚westliche Lebensstil‘ in Afghanistan einer zu den herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommene oppositionelle Einstellung gleichgesetzt wird und ihr deshalb Verfolgung droht. Es komme aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf an, ob sich eine Asylwerberin den gesellschaftlichen Normen ihres Heimatstaates anzupassen hat oder nicht (VwGH 6.7.2011, 2008/19/0994; 16.1.2008, 2006/19/0182).

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich die Verpflichtung des BVwG, bei der Prüfung der Berechtigung des Asylantrages zu untersuchen, ob der von der Beschwerdeführerin gepflegte Lebensstil die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan in einem Ausmaß verletzt, dass ihr bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des Lebensstils) Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl liegen vor, wenn dieser Lebensstil ein wesentlicher Teil der Identität der Beschwerdeführerin geworden ist, sodass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen.‘

2.2.3.3. Zusammengefasst ist somit festzustellen, dass es im vorliegenden Fall aufgrund der mangelnden Ermittlungstätigkeit des BFA zu keiner ausreichenden Auseinandersetzung mit der Frage gekommen ist, ob der BF1 asylrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, die selbstbestimmt leben wollen, droht. Auch die Annahme des BFA, dass das Auftreten der BF1 mit traditioneller Kleidung und Kopftuch zur Einvernahme auf keine besondere westliche Orientierung schließen lasse, entbindet das BFA nicht von seiner diesbezüglichen Prüfpflicht.

2.2.4. Das BFA ist somit in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen und hat die Sachlage nicht ausreichend erhoben bzw. sich (in der Bescheidbegründung) nur mangelhaft mit den Angaben der BF und den Beweisergebnissen auseinandergesetzt.

[ ]

2.2.5. Im fortgesetzten Verfahren wird das BFA die dargestellten Mängel zu verbessern und in Wahrung des Grundsatzes des Parteiengehörs den BF die Ermittlungsergebnisse zur Kenntnis zu bringen haben. [ ]"

1.8. Bei ihrer Einvernahme im fortgesetzten Verfahren am 24.05.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson, bestätigten und wiederholten die BF ihre bisher gemachten Angaben und gaben im Wesentlichen Folgendes an:

Die BF1 gab zum Vorhalt, warum sie bei dieser Einvernahme kein Kopftuch mehr trage, an, dass sie Zeit gebraucht habe, um sich mit der Kultur auseinanderzusetzen. Sie könne ihre Religion ausüben und brauche kein Kopftuch. Sie genieße es jetzt, einfach das anzuziehen, was sie möchte. Jetzt habe sie verstanden, was es bedeute, frei zu sein. In Afghanistan hätte sie das nicht gehabt, und das wolle sie behalten. Sie wolle etwas lernen und später arbeiten. Das wichtigste sei noch, dass auch ihre Tochter diese Freiheiten habe.

Die BF beantworteten Fragen zu ihren Lebensumständen im Herkunftsstaat und in Österreich sowie zu ihrer Eheschließung.

1.9. Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 08.06.2017 wies das BFA die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 17.12.2015 neuerlich gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status von Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidungen in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihnen nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der BF "2 Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Die BF hätten keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung der BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihnen keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Die BF würden nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG erfüllen, der Erlassung von Rückkehrentscheidungen stehe ihr Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass die BF bezüglich ihrer behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund ihrer Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu ihrem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wären. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zum Fluchtvorbringen wurde beweiswürdigend weitwendig – und wenig sachlich – ausgeführt, dass die BF keine Verfolgung hätten glaubhaft machen können. Ihre Angaben hätten mehrfach konstruiert und unstimmig gewirkt.

Die BF1 hätte nicht glaubhaft machen können, dass sie mit Überzeugung westliche Werte verinnerlicht hätte (etwa: sie hätte "zwischenzeitlich in der afghanischen Society bekannte Floskeln und Phrasen" angebracht; es reiche nicht aus, bei der Einvernahme kein Kopftuch mehr zu tragen).

Die BF hätten vielfach unwahre Angaben gemacht, wofür angebliche Widersprüche in ihren Aussagen angeführt wurden.

Subsidiärer Schutz wurde ihnen nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes jedenfalls in Kabul nicht gegeben sei.

1.10. Auch gegen diese Bescheide brachten die BF mit Schreiben ihres Vertreters vom 22.06.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen "Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften, unrichtiger Beweiswürdigung, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und falscher und unvollständiger Sachverhaltserhebung" ein.

In der weitwendigen Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die in der Bescheidbegründung angeführten Unstimmigkeiten auf einer ungenügenden Protokollierung der Einvernahme beruhten, und wurden Beispiele dafür im Zitat angeführt.

Weiters wurde aus diversen Berichten zum Herkunftsstaat zum Thema Verfolgung von Hazara, zu diversen anderen Fragestellungen sowie zur Lage von Frauen zitiert und wurden Rechtsausführungen getätigt.

1.11. Das BVwG führte am 16.10.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und ihres gewillkürten anwältlichen Vertreters durch, zu der die BF persönlich erschienen.

Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Durchführung und Teilnahme an der Verhandlung.

Dabei gaben die BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

" [ ]

RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Dari.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für die BF?

D: Dari.

RI befragt BF, ob sie D gut verstehen; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Nein. Unsere Tochter hat sich mit heißem Wasser verbrannt und befindet sich in Therapie.

Angemerkt wird, dass die Tochter der Verhandlung beiwohnt und fleißig herumläuft.

[ ]

Die BF haben bisher keine Bescheinigungsmittel zu ihrer Identität vorgelegt und haben auch heute keine bei sich.

RI: Haben Sie keine Tazkira?

BF1: Ich hatte nie eine Tazkira.

BF2: Meine Tazkira befindet sich zuhause, ich kann sie aber nicht vorlegen, ich habe niemanden mehr dort.

Die BF haben im Verfahren eine Heiratsurkunde vorgelegt, die nach ihren Angaben das Bundesamt, Außenstelle Wiener Neustadt, einbehalten hat. In den Verwaltungsakten befinden sich Kopien dieser Urkunde, und die BF legen auch heute eine Farbkopie der Heiratsurkunde vor, die sie in Wiener Neustadt erhalten hätten, und die in Kopie zum Akt genommen wird. Weiters vorgelegt werden Belege betreffend die Integration der BF (Deutschkursbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Fußballverein).

Belege betreffend die Brandverletzung der BF3 befinden sich bereits in den Verwaltungsakten.

[ ]

RI: Wann und wo haben Sie geheiratet?

BF1: In Ghazni, an das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern, es steht in der Heiratsurkunde.

Erörtert wird das Datum der Eheschließung in der Heiratsurkunde (laut D: Ausstellung in Kabul XXXX , das entspricht dem XXXX ). Laut D entspricht das Erscheinungsbild der Heiratsurkunde dem von echten Urkunden.

BF1: Unsere Tochter ist jetzt ein Jahr und sieben Monate alt. Ich wurde neun Monate nach der Eheschließung schwanger.

RI: Dann müsste die Hochzeit im September 2014 gewesen sein?

BF1: Das dürfte ein Fehler in der Urkunde sein.

Ermittlungsermächtigung:

RI: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja.

RI: Erzählen Sie, wie Ihre Hochzeit in Ghazni abgelaufen ist?

BF1: Nachdem wir aus Kabul zurückgekommen sind, haben wir zuhause eine kleine Hochzeitsfeier gehabt, wir hatten etwa 20 Gäste, es waren die Nachbarn und Freunde. Ansonst waren meine Familie sowie die Familie meines Ehemannes anwesend.

RI an BF2: Könnten diese Gäste von der Hochzeitsfeier Ihnen nicht die Tazkira nachbringen?

BF2: Nein, weil ich zu diesen Leuten keinen Kontakt mehr habe, meine Eltern leben im Iran.

RI: Seit wann leben sie im Iran?

BF2: Acht Monate nach unserer Flucht aus Afghanistan sind meine Eltern in den Iran gezogen.

RI: Wer war bei der Hochzeitsfeier Trauzeuge?

BF1: Zwei Nachbarn von uns, ich kenne die Namen aber nicht. Die zwei Trauzeugen waren am Anfang nicht mit uns in Kabul. Als man uns gesagt hat, dass wir zwei Zeugen bräuchten, haben wir sie angerufen, und sie sind nachgekommen.

BF2: Ich glaube, einer heißt XXXX , den zweiten Namen weiß ich nicht.

Festgehalten wird, dass die D die Namen der Trauzeugen aus der Heiratsurkunde übersetzt: XXXX und XXXX .

BF: Wir hatten die Namen vergessen.

RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF1: Ich war Hausfrau und habe keine Schule besucht.

RI: Hätten Sie gerne eine Schule besucht?

BF1: Ja, sehr gerne.

RI: Warum haben Sie das nicht gemacht?

BF1: Es war nicht möglich wegen der Taliban.

RI an BF2: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF2: Ich habe keine Schule besucht, weil ich Angst vor den Taliban hatte. Es war nicht möglich, hinaus zu gehen oder die Schule zu besuchen. Außerdem haben die Taliban die Schulen in unserer Gegend zerstört.

RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF2: Ich habe manchmal auf Schubkarren Gemüse verkauft oder auf Baustellen gearbeitet.

RI: Was wollen Sie in Österreich machen?

BF2: Ich möchte hier die Sprache lernen und dann im Baubereich arbeiten.

BF1: Ich möchte entweder als Kindergartenbetreuerin oder als Friseurin arbeiten.

RI an BF1: Können Sie schon etwas Deutsch?

BF1 (auf Deutsch): Ein bisschen.

RI: Wann haben Sie Ihren Herkunftsstaat zuletzt genau verlassen?

BF1: 19 Tage vor unserer Einreise in Österreich. Hier vergeht die Zeit sehr schnell.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF1: Nein.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF1: Ja, zum Teil.

RI stellt fest, dass die BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen teilweise verstanden und nur wenig auf Deutsch beantwortet haben.

RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?

BF1: Einmal in der Woche gibt es am Mittwoch von 19:30 bis 21:00 Uhr einen Deutschkurs im Heim, daran nehme ich teil.

BF2: Ich habe zweieinhalb Monate den Deutschkurs A1 besucht und habe letzte Woche die Prüfung abgelegt. Das Ergebnis wissen wir noch nicht.

RI: Wie ist derzeit Ihr Tagesablauf?

BF2: Ich lerne zuhause Deutsch. Ich gehe Fahrrad fahren mit meiner Frau, sie hat das neu in Österreich gelernt, und ich spiele mit meinen Freunden Fußball. Ich helfe in der Nachbarschaft bei Gartenarbeiten aus, auch das Heim verfügt über einen großen Garten, dort helfe ich mit.

BF1: Wenn ich in der Früh aufstehe, gehe ich im Garten Joggen, sonst kümmere ich mich um unsere Tochter. Am Nachmittag gehen wir Fahrrad fahren. Manchmal gehe ich mit meiner Tochter in den Park.

BF2: Ich gehe täglich in den Park.

RI: Bei was für einer Mannschaft spielen Sie in Niederhollabrunn?

BF2: Es ist eine Hobbymannschaft. Ich würde aber gern bei einer Vereinsmannschaft spielen. Ich spiele links vorne.

RI: Warum wollen Sie hier in Österreich bleiben?

BF1: Ich bin hier frei und führe ein ruhiges Leben. Ich kann ohne Probleme mit meiner Tochter in den Park gehen. Ich gehe auch alleine Einkaufen, ich möchte hier gerne eine Ausbildung machen.

RI: Wie machen Sie das Einkaufen?

BF1: Ich fahre am Freitag mit dem Bus nach Stockerau zum Einkaufen.

RI: Wie zahlen Sie?

BF1: Wenn der Einkauf zusammengerechnet wird, bezahle ich das mit Geld bar, ich kenne den Wert der Scheine.

RI. Was kostet 1 kg Brot?

BF1: Eine Semmel kaufe ich um 67 Cent, ich kaufe selten Brot. Ich backe Brot selber zuhause. 1 kg Mehl kaufe ich um 45 Cent.

RI: Was hätten Sie in Afghanistan gemacht, wenn Sie einen Arzt gebraucht hätten?

BF1: Zum Arzt musste mein Ehemann mich begleiten, ich konnte auch nicht tagsüber alleine zum Arzt gehen. In der Nacht war es aber auch für die Männer zu gefährlich hinaus zu gehen, deshalb konnten wir nichts tun.

Festgehalten wird, dass die BF1 nicht traditionell afghanisch gekleidet ist. Sie trägt eine enge schwarze Jeans, schwarze glitzernde Sneaker, ein weit ausgeschnittes T-Shirt mit Strass-Steinen und eine schwarze Weste. Ihre Fingernägel sind lang und lackiert (weiß und rot), sie trägt eine goldene dicke Halskette und passende Ohrringe dazu. Das Haar ist offen und teilweise blond gefärbt, sie ist geschminkt.

RI an BF1: Hatten Sie die Haare auch in Afghanistan gefärbt?

BF1: Nein, das war dort nicht erlaubt.

RI: Kleiden Sie sich immer so wie heute?

BF1: Ja.

RI: Seit wann?

BF1: Ich habe ca. sechs Monate nach unserer Einreise gebraucht, um mich umzustellen.

RI a. BF2: Was sagen Sie zum Outfit Ihrer Frau?

BF2: Es ist schön, wie sie sich kleidet, in Afghanistan wäre das nicht möglich gewesen. Ich freue mich, dass meine Frau sich hier frei fühlt und selbst entscheidet, wie sie sich kleiden möchte.

RI an BF1: Wen wird Ihre Tochter einmal heiraten?

BF1: Sie wird jemanden heiraten, den sie selbst liebt. Das wird sie selber entscheiden.

RI: Wer hat entschieden, dass Sie Ihren Mann heiraten?

BF1: Ich.

RI: Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?

BF1: Ich habe meinen Ehemann vorher schon gekannt, dann haben seine Eltern bei meiner Familie um meine Hand angehalten, meine Eltern haben meiner Heirat zugestimmt.

RI an BF2: Haben Sie Ihre Frau ausgesucht oder Ihre Frau Sie?

BF2: Wir waren Nachbarn und haben uns manchmal gesehen, z.B. in einem Lebensmittelgeschäft, wir haben gemeinsam beschlossen zu heiraten.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF2: Meine Eltern befinden sich im Iran. Ich habe Kontakt mit ihnen telefonisch ca. alle ein bis zwei Wochen.

BF1: Meine Eltern leben in Ghazni. Zuletzt habe ich mit ihnen gesprochen, als wir in der Türkei waren.

Der RI bringt [ ]

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar, folgt dem BFV [Vertreter der BF] eine Kopie dieser Berichte aus, gibt ihm die Möglichkeit, darin Einsicht zu nehmen sowie zu den vom RI dargelegten Feststellungen eine Stellungnahme abzugeben bzw. Fragen an die BF zu stellen.

BFV: Ich verweise bezüglich der Stellungnahme zu den Länderfeststellungen, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die sehr ausführliche schriftliche Stellungnahme mit Schriftsatz vom 26.07.2017 beim BVwG eingebracht. Abschließend wird noch bemerkt, dass die BF1 in Österreich ein sehr selbstbestimmtes Leben führt, dies äußert sich unter anderem auch in der westlich orentierten Kleidung sowie dem täglichen Leben. Es wird daher beantragt, den Beschwerden der BF vollinhaltlich stattzugeben und ihnen den Asylstatus zuzuerkennen. [ ]"

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 17.12.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 16.11.2016 und im fortgesetzten Verfahren am 24.05.2017, die von den BF vorgelegten Belege in Kopie (Heiratsurkunde, Deutschkursbestätigungen, weitere Integrationsbelege) sowie die gegenständliche Beschwerde vom 22.06.2017

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (Aktenseiten 291 bis 279 im Verwaltungsakt der BF1)

* Einvernahme der BF1 und des BF2 im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 25.09.2017)

o eine Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016

o einen Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 zur maßgeblichen Situation der Frauen in Afghanistan sowie

o Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person der BF:

3.1.1. Die BF führen die Namen XXXX , geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX , geboren am XXXX (BF2), sowie ihre minderjährige Tochter XXXX , geboren am XXXX in Österreich (BF3), sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und schiitische Moslems.

3.1.2. Die BF1 und der BF2 stammen aus einem Dorf im Distrikt Malestan, Provinz Ghazni (Afghanistan) und haben Afghanistan im November 2015 verlassen. Sie reisten über den Iran, die Türkei und Griechenland, wo sie erkennungsdienstlich erfasst wurden, über mehrere weitere, ihnen nicht bekannte europäische Länder nach Österreich weiter, wo sie am 17.12.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.

Wo die Eltern und Geschwister der BF1 nunmehr leben, ist ihr nach ihren Angaben nicht bekannt. Die Eltern und Geschwister des BF2 leben nach seinen Angaben seit dem Jahr 2016 im Iran.

Der BF2 war als Gemüsehändler sowie als Bauarbeiter erwerbstätig.

3.1.3. Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

3.2.1. Die BF1 und der BF2 haben Afghanistan aufgrund der Lebensumstände von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara in einer Region, in der Gefahren von Seiten der Taliban drohen, sowie wegen der Lebensumstände der BF1 als Frau, die selbstbestimmt leben möchte, verlassen.

Die BF1 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt. Sie kleidet, frisiert und schminkt sich nach westlicher Mode. Sie trägt teilweise blond gefärbter Haar.

Sie will die deutsche Sprache lernen und dann einen Beruf (Kindergartenbetreuerin oder Friseurin) erlernen. Sie will weiterhin so leben, wie sie hier in Österreich lebt, und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, wieder nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Die persönliche Haltung der BF1 über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht nunmehr im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

Die BF1 ist von ihrer persönlichen Wertehaltung her überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert.

3.2.2. Der BF2 ist der Ehemann der BF1, und die BF3 ist ihre gemeinsame minderjährige Tochter. Die vom BF2 zu Beginn des Verfahrens angegebenen Fluchtgründe hat dieser in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht weiter ausgeführt bzw. thematisiert. Für die BF3 wurden keine über jene der BF1 hinausgehenden eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Die BF leben im gemeinsamen Haushalt. Der Beschwerde der BF1 gegen den Bescheid des BFA wird mit Erkenntnis vom heutigen Tag stattgegeben, ihr gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt und gleichzeitig gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festgestellt, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die BF1 ist als Mutter der BF3 im gegenständlichen Beschwerdeverfahren ihre gesetzliche Vertreterin und schließt sich auch für diese ihrem Vorbringen – ebenso wie der BF2 – als Familienangehörige im Verfahren an.

3.3. Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.4. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten auszuschließen sind.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen:

3.5.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 25.09.2017, Schreibfehler teilweise korrigiert):

Politische Lage:

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.) und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.01.2004).

Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.01.2017), nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017).

Parlament und Parlamentswahlen:

Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wähler/innen. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik (AA 9.2016). Im Jänner 2017 verlautbarte das Büro von CEO Abdullah Abdullah, dass Parlaments- und Bezirksratswahlen im nächsten Jahr abgehalten werden (Pajhwok 19.01.2017).

Die afghanische Nationalversammlung besteht aus dem Unterhaus, Wolesi Jirga, und dem Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt. Das Unterhaus hat 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kutschi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 13.04.2016 vgl. auch: CRS 12.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für einen Sikh- oder Hindu-Repräsentanten reserviert (USDOS 13.04.2016).

Die Rolle des Zweikammern-Parlaments bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht (AA 9.2016).

Parteien:

Der Terminus Partei umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einigen von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die afghanische Parteienlandschaft ist mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf fehlende strukturelle Elemente (wie z.B. ein Parteienfinanzierungsgesetz) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016).

Im Jahr 2009 wurde ein neues Parteiengesetz eingeführt, das von allen Parteien verlangte, sich neu zu registrieren, und zum Ziel hatte, ihre Anzahl zu reduzieren. Anstatt wie zuvor die Unterschrift von 700 Mitgliedern müssen sie nun 10.000 Unterschriften aus allen Provinzen erbringen. Diese Bedingung reduzierte tatsächlich die Zahl der offiziell registrierten Parteien von mehr als 100 auf 63, trug aber anscheinend nur wenig zur Konsolidierung des Parteiensystems bei (USIP 3.2015).

Unter der neuen Verfassung haben sich seit 2001 zuvor islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu politischen Parteien gewandelt. Sie repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu Institutionen entwickelt. Keine von ihnen ist eine weltanschauliche Organisation oder ein Mobilmacher von Wähler/innen, wie es Parteien in reiferen Demokratien sind (USIP 3.2015). Eine Diskriminierung oder Strafverfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten nach Rückkehr aus dem Ausland ist nicht anzunehmen. Auch einige Führungsfiguren der RNE sind aus dem Exil zurückgekehrt, um Ämter bis hin zum Ministerrang zu übernehmen. Präsident Ashraf Ghani verbrachte selbst die Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren weitgehend im pakistanischen und US-amerikanischen Exil (AA 9.2016).

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Im afghanischen Friedens- und Versöhnungsprozess gibt es weiterhin keine greifbaren Fortschritte. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Die Reintegration versöhnungswilliger Aufständischer bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden (AA 9.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG):

Nach zweijährigen Verhandlungen (Die Zeit 22.09.2016) unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das der Hezb-e Islami Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtet sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der Hezb-e Islami und der Regierung erklärte erstere in einer Stellungnahme eine Waffenruhe (The Express Tribune 30.09.2016). Das Abkommen beinhaltet unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Sobald internationale Sanktionen aufgehoben sind, wird von Hekmatyar erwartet, nach 20 Jahren aus dem Exil nach Afghanistan zurückkehren. Im Jahr 2003 war Hekmatyar von den USA zum "internationalen Terroristen" erklärt worden (NYT 29.09.2016). Schlussendlich wurden im Februar 2017 die Sanktionen gegen Hekmatyar von den Vereinten Nationen aufgehoben (BBC News 04.02.2017).

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.01.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint Einzelberichten zufolge auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.02.2017).

INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).

Mit Stand September 2016 schätzt die Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10% der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (USDOD 12.2016). Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (SIGAR 30.01.2017).

Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften (USDOD 12.2016). Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen – ausgeführt durch die Polizei und das Militär – landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (VOA 05.01.2017).

Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: Intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.08. – 17.11.2016) (UN GASC 13.12.2016; vgl. auch: SCR 30.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (USDOD 12.2016).

Kontrolle von Distrikten und Regionen:

Den Aufständischen misslangen acht Versuche, die Provinzhauptstadt einzunehmen; den Rebellen war es möglich, Territorium einzunehmen. High-profile Angriffe hielten an. Im vierten Quartal 2016 waren 2,5 Millionen Menschen unter direktem Einfluss der Taliban, während es im dritten Quartal noch 2,9 Millionen waren (SIGAR 30.01.2017).

Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal sind 57,2% der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw. –einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2% gegenüber dem dritten Quartal an: Zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit fünf von sechs Distrikten und Helmand mit acht von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.01.2017).

Rebellengruppen:

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin, durch Bedrohungen, Entführungen und gezielte Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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