TE Bvwg Erkenntnis 2017/12/1 W191 2132062-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2017
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Entscheidungsdatum

01.12.2017

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W191 2132062-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde der minderjährigen XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ihren Vater, dieser vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.07.2016, Zahl 1088127607-151398820, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.10.2017 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), Frau XXXX, geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX, geboren am XXXX (BF2), ihr gemeinsamer Sohn XXXX, geboren am XXXX (BF3), und ihre gemeinsame Tochter XXXX, geboren am XXXX (BF4), sind afghanische Staatsangehörige und reisten nach ihren Angaben am 21.09.2015 irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein. Sie stellten, die minderjährigen Kinder gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, am selben Tag in der Polizeiinspektion (PI) Linz Hauptbahnhof jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In ihrer Erstbefragung am 21.09.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes des Stadtpolizeikommando Linz, PAZ (Polizeianhaltezentrum)-Linz-Supportstelle, gaben die BF1 und der BF2 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Sie seien Sadat (auch: Sayed), Angehörige der Volksgruppe der Hazara, schiitische Moslems und stammten aus XXXX, Distrikt Yakawlang, Provinz Bamian, Afghanistan.

Sie seien vor ca. einem Monat in XXXX aufgebrochen und per Bus über den Iran und die Türkei über die sogenannte "Balkanroute" schließlich bis nach Österreich gelangt.

Als Fluchtgrund gaben die BF an, dass der BF2 wegen seiner Ehefrau Probleme mit seiner Familie bekommen habe. Sie hätten sie abgelehnt und geschlagen. Die BF1 gab weiters an, es gebe in Afghanistan keine Sicherheit wegen der Taliban und der IS-Miliz. Diese Fluchtgründe bezögen sich auch auf die zwei minderjährigen Kinder (BF3 und BF4).

1.3. Laut vorgelegten ärztlichen Belegen beging die BF1 am 25.02.2016 einen Suizidversuch mit Medikamenteneinnahme (Überdosis). Sie habe Eheprobleme und wolle nicht mehr mit ihrem Mann zusammen sein. Zu körperlicher Gewalt sei es nicht gekommen.

Die BF1 wurde sodann in einer anderen Grundversorgungseinrichtung als ihr Ehemann untergebracht.

Mit Telefax einer NGO (des nunmehrigen Vertreters der BF), in der behauptet wurde, ihr Ehemann habe sie misshandelt und sie habe sich daher von ihm getrennt; deswegen erhalte sie regelmäßig telefonische Drohungen von dessen Verwandten aus Afghanistan, ersuchte die BF1 um einen baldigen Einvernahmetermin.

1.4. Bei ihrer – getrennten – Einvernahme am 05.07.2016 (BF2) bzw. 06.07.2016 (BF1) vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigten die BF die Richtigkeit ihrer bisher gemachten Angaben und gaben im Wesentlichen Folgendes an:

1.4.1. Die BF1 gab an, sie und ihr Sohn (BF3) seien vor ca. vier Monaten von ihrem Mann geschlagen worden und sie hätte sich deswegen von ihm getrennt. Sie habe Medikamente geschluckt und sei im Krankenhaus gewesen. Sie habe Kontakt zu ihrer Schwester in Österreich, sie sei anerkannter Flüchtling. Auch ihre Schwester habe sich – in Afghanistan – von ihrem Mann getrennt.

Sie sei im Alter von zwölf Jahren verheiratet worden. Ihr Mann habe seine Heimat verlassen, weil seine Lebensumstände nicht gut gewesen seien. Ihre Brüder hätten die Schule besuchen dürfen, sie hätte nur die Hausarbeit machen dürfen, ihre Eltern und ihre Schwiegereltern hätten sie sehr schlecht behandelt. Wenn sie jetzt zurückgehe, würde sie getötet werden, denn Scheidung sei in Afghanistan eine große Straftat.

Das BFA bracht der BF1 laut Niederschrift Länderfeststellungen zu Afghanistan zur Kenntnis und hielt ihr vor, dass daraus nicht abzuleiten sei, dass sie asylrelevant verfolgt würde oder dass sie in Afghanistan bei einer Rückkehr in eine etwaige lebensbedrohliche Lage kommen würde. Es sei ihr zuzumuten, am Arbeitsmarkt nach einer Beschäftigung zu suchen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihr stehe auch "die innerstaatliche Fluchtalternative" zur Verfügung.

1.4.2. Der BF2 gab an, er sei im Iran geboren, habe in Afghanistan (traditionell) geheiratet und habe mit der BF1 zwei Kinder. Seine Familie hätte die BF1 nicht gewollt, und deshalb habe er das gemeinsame Haus verlassen müssen. Der BF2 gab auf die Frage, ob er nun im Iran oder in Afghanistan mit der BF1 und den beiden Kindern gelebt habe, an, sie hätten in Bamian (Afghanistan) gelebt, machte dazu aber wiederholt widersprüchliche Aussagen. Er sei im Iran aufgewachsen. Die allgemeine schlechte Sicherheits- und Wirtschaftslage in Afghanistan und das Leben selbst dort sei eine Katastrophe, er hätte für seine Frau, seine Kinder und sich selbst ein besseres Leben gewollt.

Auf die Frage, warum er sich in Österreich von seiner Frau getrennt habe, sagte der BF2, ihre Familie sei schuld. Die BF1 habe sich von ihm getrennt, weil sie glaube, dass sie dann nicht mehr abgeschoben werden könne. Er hätte sich nicht trennen wollen. Bamian sei eine relativ sichere Provinz, er wolle mit seiner Familie gut leben.

1.5. Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 06.07.2016 (BF1, BF3 und BF4) sowie 05.07.2016 (BF2) wies das BFA die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 21.09.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status von Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidungen in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden den BF nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF "2 Wochen" [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen der BF sei unglaubhaft. Sie hätten keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung der BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihnen keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Die BF würden nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG erfüllen, der Erlassung von Rückkehrentscheidungen stehe ihr Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidungen über die Anträge auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit der Abschiebung der BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass die BF bezüglich ihrer behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund ihrer Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu ihrem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wären. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zu ihrem Fluchtvorbringen führte das BFA aus, dass bei der BF1 "eine behauptete westliche Einstellung" nicht hätte erkannt werden können. Das Verhalten der BF1 in Österreich, etwa sich nicht an ein Frauenhaus zu wenden, sowie ihre den Aussagen des BF2 zum Fluchtgrund widersprechenden Aussagen würden erkennen lassen, dass sie "alles [zu] unternehmen versuche, eine Rückkehr in die Heimat zu vereiteln."

Der BF1 habe zuletzt keine konkreten individuellen asylrelevanten Probleme aufrechterhalten.

Subsidiärer Schutz wurde ihnen nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei.

1.6. Gegen diese Bescheide brachten die BF mit offenbar von ihrem Rechtsberater unterstützt erstellten Schreiben (BF1, BF3 und BF4: vom 29.07.2016, BF2: vom 20.07.2016) fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG), bezüglich des BF1 wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung erheblicher Verfahrensvorschriften, ein.

In den Beschwerdebegründungen wurden neben weitwendigen Rechtsausführungen (so etwa zur nicht unmittelbar verfahrensgegenständlichen Frage der Verfassungsmäßigkeit der zweiwöchigen Beschwerdefrist gemäß § 16 Abs. 1 BFA-VG) Ausschnitte aus diversen Berichten zu Afghanistan (zum Teil in englischer Sprache) – etwa zur Lage der Sayed (Sadat) in Afghanistan – und aus diversen Judikaten diverser Gerichte zitiert.

In der Beschwerde betreffend die BF1 wurde moniert, dass sie nach ihrer Trennung von ihrem Mann in Afghanistan als Frau wahrgenommen werden würde, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benehme.

In der Beschwerde betreffend den BF2 wurde moniert, dass dieser im Iran geboren sei und nur etwa vier Jahre in Bamian gelebt habe. Er geriete daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lebenssituation im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK. Mangels sozialer Anknüpfungspunkte sei ihm auch eine Fluchtalternative in Kabul nicht zumutbar.

1.7. Auf die Ladung zur Verhandlung am 30.10.2017 vor dem BVwG übermittelte die die BF1 betreuende NGO ärztliche Belege und Integrationsbelege.

Das BVwG führte am 30.10.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari (BF1) bzw. Farsi (BF2) durch, zu der die BF persönlich erschienen. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Die Verhandlung wurde getrennt geführt, zuerst mit der BF1 (im Beisein der BF4) und anschließend mit dem BF2 (im Beisein des BF3).

Die BF legten mehrere ärztliche und gerichtliche Dokumente vor, denen zufolge die BF1 wegen Depressionen in ärztlicher psychiatrischer Behandlung sei. Sie habe Mitte Oktober 2017 auf eigenen Wunsch die Medikamenteneinnahme eingestellt, sei psychisch stabil und solle und könne im jetzigen Heim bleiben.

Nachdem das Bezirksgericht Bruck/Leitha mit Beschluss vom 12.05.2017 zunächst noch – unter Zuteilung der Obsorge für die minderjährigen Kinder (BF3 und BF4) an die BF1 und den BF2 gemeinsam – den hauptsächlichen Betreuungsort der Kinder bei der Mutter festgelegt hatte, wurde vom selben Gericht mit Protokoll vom 13.07.2017 bestätigt, dass die BF eine gerichtliche Vereinbarung dahingehend getroffen hätten, dass sich die beiden Minderjährigen künftig beim Vater aufhalten werden.

In der Verhandlung gaben die BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an:

1.7.1. Die BF1 gab an, sie habe Nerventabletten und Schlaftabletten genommen. Seit ca. einem Monat habe sie diese aber abgesetzt. Sie sei verheiratet, wolle sich aber scheiden lassen. Sie hätte gerne eine Schule besucht, aber die Möglichkeit sei für sie nicht gegeben gewesen. Sie sei mit zwölf Jahren getraut und mit vierzehn verheiratet worden. In Österreich habe sie weitschichtige Verwandte.

Die BF1 verstand nicht gut Deutsch. Sie habe noch keinen Deutschkurs besucht. Auf die Frage nach ihrem Tagesablauf gab die BF1 an, in der Früh betreibe sie Sport. Sie übe in einem Fitnessraum, sie gehe Laufen und Radfahren, das Radfahren habe sie hier gelernt. Sie koche und gehe Einkaufen. Für weitere Aktivitäten habe sie keine Möglichkeiten. Auf die Frage, warum die Kinder nicht zur Gänze bei ihr seien, sagte die BF1: "Ich habe sie nur heute Nacht zu mir gebracht, sonst sind sie bei ihrem Vater. [Warum?] Mir ging es nicht so gut, ich habe Schlaftabletten genommen, bin morgens spät aufgewacht und mein Sohn ist oft zu spät zur Schule gekommen, deshalb wohnen die Kinder bei ihrem Vater. [Ist das aus Ihrer Sicht in Ordnung, dass Ihre Kinder beim Vater sind?] Er ist der Vater und ich bin die Mutter, keiner von uns will den Kindern schaden. Während der Schule sind sie beim Vater, und wenn Ferien sind und ich in der Lage bin, hol ich sie zu mir. [Sind die Kinder auch damit zufrieden?] Ja, ich habe mit ihnen stets Kontakt, bevor sie Schlafen gehen, telefoniere ich mit ihnen. [Ihr Mann hat kein Problem damit, dass Sie mit Ihren Kindern telefonieren?] Nein. [Darf ich Sie fragen, ob Sie Ihr Mann geschlagen hat?] Ja, manchmal. [Tut ihm das jetzt leid?] Das weiß ich nicht, das ist mir auch nicht mehr wichtig, ich will ihn nicht mehr. [Hat Ihr Mann den Sohn geschlagen und am Ohr verletzt?] In Afghanistan manchmal, wegen der Erziehung. Aber ob die Verletzung am Ohr von einem Schlag kommt, kann ich nicht sagen. [Ist Ihr Sohn gerne beim Vater?] Ja. [Ist er auch gerne bei Ihnen?] Ja, das macht für ihn keinen Unterschied."

Die Frage, ob ihre Schwester in Österreich lebe, verneinte die BF1, ihre zwei Schwestern würden in Afghanistan leben. Ihre Eltern hätten sie verstoßen, weil sie ihre Ehe jetzt auflösen wolle. Sie sei im Krankenhaus gewesen, als ihre Mutter mit ihr Kontakt aufgenommen habe, diese habe sie beschimpft und verstoßen.

Ihre Eltern lebten in Bamian, Distrikt Yakawlang, Dorf XXXX, ihr Mann habe im Dorf XXXX gelebt.

Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF1 an, sie hätten familiäre Probleme gehabt. Sie könne auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkehren, die Leute in Afghanistan seien nicht gut für sie. Das Leben, das sie jetzt in Österreich führe, könne sie sich nicht einmal im Traum vorstellen, dass sie das in Afghanistan führen könne. Erstens hätten sie ihre Eltern bedroht, sie werde auch von der Familie ihres Mannes bedroht, weil eine Frau sich nicht scheiden lassen dürfe. Man sage, eine Frau könne sterben, scheiden lassen gehe nicht.

Auf die Frage, wie sie sich die Zukunft ihrer Tochter vorstellen könne, sagte die BF1: "Wenn sie hier bleiben kann, wird sie eine gute Zukunft haben, sie wird selbst bestimmen können, was sie anzieht, ob sie die Schule besucht. In Afghanistan wäre das Ganze nicht möglich."

Festgehalten wurde, dass die BF1 geschminkt ist, sie trug eine Jeanshose bestickt mit Strasssteinen und eine schwarz-weiße Bluse mit Ausschnitt, sie trug kein Kopftuch, hatte gefärbte Haare (rötlich), die sie in einem Pferdeschwanz gebunden hatte, weiters ausreichend Schmuck und ein Nasenpiercing, das sie hier in Österreich hatte machen lassen. Sie trug Halbstiefel mit hohen Absätzen.

Die Tochter hatte offensichtlich ein gutes Naheverhältnis zu ihrer Mutter. Sie umarmte sie öfters, und die Mutter nahm sie auf den Schoß. Die Tochter zeichnete in der Verhandlung auf dem Tisch ein Bild von ihrer Mutter.

Die BF1 gab weiters an, dass sie in Afghanistan nicht so herumlaufen könne wie in Österreich. Man würde ihr den Kopf abhacken. Sie könne in Österreich selbst entscheiden, was sie anziehen möchte. Sie könne selbst entscheiden, ob sie etwas lernen will oder arbeiten will. Sie möchte auf eigenen Beinen stehen und selbständig leben. Sie wolle zuerst einmal Deutsch lernen. Dann werde sie sich eine Arbeit suchen und arbeiten.

Die BFV (Vertreterin der BF) brachte vor (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"Es wird beantragt, der BF1 den Status einer Asylberechtigten zu gewähren, da die BF1 Flüchtling im Sinne der GFK ist. Ihr droht im Falle einer Rückkehr Verfolgung durch die eigene Familie, die Familie ihres Ehepartners sowie andere Mitglieder der afghanischen Gesellschaft aufgrund der ihr zumindest unterstellten politischen Gesinnung und Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, in deren Lebensweise die Anerkennung und Inanspruchnahme von Grundrechten zum Ausdruck kommt (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388). Diese Lebensweise ist Bestandteil der Identität der BF1, und kann nicht erwartet werden, dass sie dieses Verhalten im Fall der Rückkehr unterdrückt. Diese Lebensweise und Einstellung kommt durch das eigenständige Leben der BF1, ihre einseitige Trennung des Wohnortes mit ihrem Ehemann [...] sowie ihre Vorstellungen bezüglich Bildung und Zukunft für ihre Tochter sowie ihre geäußerte Meinung zu Zwangs- bzw. Kinderheirat zum Ausdruck. In einem ähnlichen Fall des erkennenden Richters zur Zahl W191 2142220-1 vom 04.09.2017 wurde ebenso Asyl gewährt. Eine interne Fluchtalternative besteht nicht, da Frauen mit dem Profil der BF1 in ganz Afghanistan Verfolgung droht. Auch ein staatlicher Schutz steht der BF1 nicht zur Verfügung, da die afghanischen Sicherheitskräfte zum Einen nur unzureichend schutzfähig sind und in vielen Fällen auch nicht schutzwillig sind. Die vom BVwG in das Verfahren eingebrachten Länderberichte hinsichtlich der Situation von Frauen mit bestimmten Profilen bestätigen diese Furcht vor Verfolgung der BF1."

1.7.2. Der BF2 gab an, seine Muttersprache sei Dari, aber da er im Iran aufgewachsen sei, spreche er besser Farsi. Er sei körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen, habe aber manchmal Atembeschwerden. Er legte seinen im Iran ausgestellten afghanischen Reisepass vor, der ebenso wie Gerichtsbeschlüsse in Pflegschaftssachen und Belege zur Integration der BF (Deutschkursbestätigungen, Schulbesuchsbestätigung, Kindergartenbestätigung, Empfehlungsschreiben, etc.) in Kopie zum Akt genommen wurden.

Sein genaues Geburtsdatum kenne er nicht, da seine Eltern Analphabeten seien. Sein Sohn sei am XXXX (umgerechnet XXXX) und seine Tochter am XXXX (umgerechnet XXXX) geboren. Zum Beleg dafür legte er ein im Iran von einem Krankenhaus ausgestelltes Schriftstück vor, demzufolge laut Übersetzung durch die Dolmetscherin die BF4 am XXXX geboren ist.

Der BF2 gab an, er sei im Iran geboren und aufgewachsen. Er habe zwei Jahre im Iran die Schule besucht und dann auf diversen Baustellen gearbeitet. Seine Eltern und er seien im Jahr 1383 (umgerechnet 2004) nach Afghanistan abgeschoben worden, und dort habe er seine Frau 1385 (umgerechnet 2006) geheiratet. 2008 seien sie wieder in den Iran gegangen. Sie seien vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden und dann von dort geflüchtet, weil sie aus familiären Gründen nicht in Afghanistan leben konnten. Als sie aus Afghanistan zurückgekommen seien, habe er dann in einer Firma gearbeitet, die Mosaiksteine hergestellt hätte. Der BF2 legt diesbezügliche Belege vor, die in Kopie zum Akt genommen wurden. Laut Dolmetscherin handelte es sich dabei um eine Karte für Ausländer im Iran, ausgestellt 23.10.1393 (umgerechnet im Jahr 2014), eine vorübergehende Arbeitserlaubnis und Arbeitsstundenaufzeichnungen.

Der BF2 gab an, er habe in Österreich eine Schwester mit ihrer Familie. Ihr Asylverfahren sei noch nicht abgeschlossen. Er verstand die auf Deutsch gestellten Fragen ohne Überseztung durch die Dolmetscherin großteils und konnte sie holprig mit einzelnen Worten auf Deutsch beantworten.

Er habe einen Deutschkurs besucht und hoffe, dass er bald wieder in einem Deutschkurs sein werde. Es sei für ihn sehr schwer, einen Deutschkurs in Baden zu besuchen, da er sich um seine beiden Kinder kümmern müsse. Er lebe in einem kleinen Ort (XXXX).

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF2 an, er sei im Iran geboren und dort aufgewachsen. Als er mit der Familie aus dem Iran nach Afghanistan abgeschoben worden sei, sei das Leben dort in Afghanistan für ihn sehr schwer gewesen, deshalb sei er wieder in den Iran gegangen.

Der anwesende Sohn des BF2, der BF3, bejahte die Frage, ob er gerne bei seinem Vater sei. Er erweckte dabei einen unbeschwerten, aufgeweckten Eindruck, und seine Aussage wirkte authentisch.

Auf die Frage, was ihm konkret passieren würde, wenn er jetzt wieder in seinen Herkunftsstaat zurückkehren müsste, gab der BF2 an, seine Familie sei hier auseinandergegangen, das stelle in Afghanistan eine große Ehrverletzung da. Wenn er zurück nach Afghanistan müsse, würde ihn die Familie seiner Frau bedrohen. Auf die Frage, wie es ihm dabei gehe, dass ihn seine Frau verlassen habe, sagte der BF2, er fühle sich schlecht, auch für seine zwei Kinder sei es schwer. Es sei schwierig, wenn ein Elternteil fehle. Seine Eheprobleme seien erst in Österreich entstanden, zuvor habe er keine Probleme gesehen. Er hätte seine Frau niemals geschlagen.

Auf die Frage, wie er sich die Zukunft bzw. das Leben seiner Tochter in Österreich vorstelle, sagte der BF2, sie besuche den Kindergarten. Sie werde dann die Schule besuchen und selbst ihren Lebenslauf bestimmen. Auf die Frage, ob sie sich seiner Meinung nach selbst aussuchen könne, wen sie heiratet, sagte der BF2: "Wenn sie aufwächst, wird sie unterscheiden können, was für sie gut ist." Wenn er anderer Meinung als seine Tochter sei, was für sie gut sei, könne er ihr nur den Weg zeigen, entscheiden müsse sie aber selber.

Auf die Frage, ob er wisse, warum sich seine Frau von ihm trennen wolle, sagte der BF2: "Den Grund kenne ich nicht, da müssen Sie sie schon selbst fragen."

Auf Fragen der BFV gab der BF2 an, er habe keine familiären oder sozialen Kontakte in Kabul. In Afghanistan seien Schiiten und Hazara stets in Gefahr. Seine Familie sei nicht in der Lage, ihn am Anfang finanziell zu unterstützten.

Die BFV gab an: "Ich möchte darauf hinweisen, dass im konkreten Fall ein Familienverfahren aufgrund der nach wie vor aufrechten Ehe besteht. Es wurde im bisherigen Verfahren aufgezeigt, dass im Falle der BF1 jedenfalls Asylgründe im Sinne der GFK vorliegen, und gilt das aufgrund des Familienverfahrens auch für den BF2 sowie die gemeinsamen minderjährigen Kinder. Weiters ist darauf hinzuweisen, dass auch im Hinblick auf die minderjährigen Kinder, insbesondere auch die Tochter XXXX, Schutzgründe im Sinne des Kindeswohls als auch geschlechtsspezifische Verfolgung drohen."

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen von BF1 und BF2 am 21.09.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 05.07.2016 und 06.07.2016, ärztliche Belege betreffend die BF1, Integrationsbelege sowie die Beschwerden vom 20.07.2016 (BF2) bzw. 29.07.2016 (BF1, BF3 und BF4)

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (Aktenseiten 85 bis 126 im Verwaltungsakt der BF1):

* Einvernahme der BF1 und des BF2 im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 30.10.2017 sowie Einsichtnahme in die in der Verhandlung vorgelegten Dokumente (weitere ärztliche Belege betreffend die BF1, Integrationsbelege sowie Gerichtsbeschlüsse betreffend die Obsorge für und Betreuung von BF3 und BF4)

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Bamian (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 25.09.2017)

o Feststellungen zur Situation der Frauen in Afghanistan (Auszug aus dem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 06.11.2015 vom Deutschen Auswärtigen Amt)

o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 und Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016

o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann sowie das Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) vom 12.04.2017, "Notiz Afghanistan, Alltag in Kabul", festgehalten von der Schweizer Migrationsbehörde vom 20.06.2017, sowie

o Auszug aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren, vom 12.06.2015 (a-9219)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person der BF:

Die BF führt die Namen XXXX, geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX, geboren am XXXX (BF2), ihr gemeinsamer Sohn XXXX, geboren am XXXX (BF3), und ihre gemeinsame Tochter XXXX, geboren am XXXX (BF4).

Die BF sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara bzw. Sadat (auch Sayed) und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Dari, sie sprechen auch Farsi.

3.2. Lebensumstände der BF im Herkunftsstaat bzw. im Iran:

Die Familien der BF stammen aus angegebenen Dörfern im Distrikt Kharestan, Provinz Bamian (Afghanistan). Der BF2 ist im Iran geboren und aufgewachsen, wo er zwei Jahre die Schule besucht und dann auf diversen Baustellen gearbeitet hat. Ca. im Jahr 2004 sind die BF nach Afghanistan abgeschoben worden und wurden in einer arrangierten Ehe verheiratet. 2006 wurde die Ehe vollzogen. 2008 sind die BF1 und der BF2 wieder in den Iran gegangen, wo der BF2 in einer Firma gearbeitet hat, die Mosaiksteine hergestellt hat.

3.3. Flucht der BF und Lebensverhältnisse in Österreich:

3.3.1. BF1:

Die BF1 hat keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Sie wurde mit zwölf Jahren in einer arrangierten Ehe verheiratet. Sie wurde von ihren Schwiegereltern schlecht behandelt und geschlagen. Aus diesem Grund, aber auch wegen der mangelnden Möglichkeit für Frauen, selbstbestimmt und frei zu leben, sowie um ihrer Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, flohen die BF im September 2015 nach Europa und schließlich nach Österreich.

Hier lebten sie zunächst gemeinsam in einer Unterkunft in der Grundversorgung für Asylwerber, bis die BF1 am 29.02.2016 einen Suizidversuch mittels Medikamenteneinnahme unternahm und einige Tage stationär im Krankenhaus XXXX aufgenommen wurde. Sie trennte sich anschließend von ihrem Ehemann, mit dem sie nicht mehr zusammenleben wolle, und wurde in einer anderen Grundversorgungseinrichtung untergebracht.

Die Obsorge für den BF3 und die BF4 wurde BF1 und BF2 mit Gerichtsbeschluss gemeinsam zugesprochen. Während der Aufenthaltsort der beiden Kinder zunächst bei der Mutter bestimmt wurde, wurde dies im Juli 2017 aufgrund der gesundheitlichen Situation der Mutter einvernehmlich zugunsten des Vaters geändert.

Die BF1 ist wegen Depressionen in ärztlicher psychiatrischer Behandlung und hat Mitte Oktober 2017 auf eigenen Wunsch die Medikamenteneinnahme eingestellt. Laut ärztlicher Bestätigung ist sie psychisch stabil und kann im jetzigen Heim bleiben.

Sie lebt nun getrennt von ihrem Ehemann und gibt an, deswegen auch von ihrer eigenen Familie (Mutter) beschimpft und verstoßen worden zu sein.

In der Verhandlung vor dem BVwG war die BF1 geschminkt, trug eine Jeanshose bestickt mit Strasssteinen und eine schwarz-weiße Bluse mit Ausschnitt, kein Kopftuch, hatte gefärbte Haare (rötlich), die sie in einem Pferdeschwanz gebunden hatte, weiters Schmuck und ein Nasenpiercing, das sie hier in Österreich hatte machen lassen, sowie Halbstiefel mit hohen Absätzen.

Mit ihrer Tochter, die in Österreich in den Kindergarten geht, hatte sie offensichtlich ein gutes Naheverhältnis. Diese umarmte sie öfters, und die Mutter nahm sie auf den Schoß. Die Tochter zeichnete in der Verhandlung auf dem Tisch ein Bild von ihrer Mutter.

Die Lebensverhältnisse und das Verhalten der BF1 indizieren, dass ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen stehen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

Die BF1 ist nunmehr von ihrer persönlichen Wertehaltung her überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert.

Sie ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt. Sie kleidet, frisiert und schminkt sich nach westlicher Mode. Sie will auch ihre Kinder frei von Zwängen erziehen und weiterhin so leben, wie sie jetzt hier in Österreich lebt. Die BF1 lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, (neuerlich) nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

3.3.2. Für die BF2, BF3 und BF4 wurden keine asylrelevanten Gründe substantiiert geltend gemacht bzw. aufrechterhalten.

Der BF2 ist der Ehemann der BF1, der BF3 und die BF4 sind die gemeinsamen Kinder und leben mit ihrem Vater im gemeinsamen Haushalt. Sie schlossen sich dem Verfahren der BF1, der mit Erkenntnis vom heutigen Datum in Stattgebung der Beschwerde gegen den Bescheid des BFA der Status als Asylberechtigte zuerkannt wird, als Familienangehörige an.

Auch der BF2 hatte in seiner Verhandlung mit seinem Sohn (BF3), der in Österreich in die Schule geht, ein gutes Verhältnis. Der BF3 vermittelte glaubhaft den Eindruck, gerne bei seinem Vater zu leben.

Die Trennung von seiner Ehefrau stellt in Afghanistan eine Ehrverletzung dar. Der BF2 zeigte sich von der Trennung von der BF1 betroffen und gibt an, sie nie geschlagen zu haben. Es sei mit zwei Kindern sowohl für ihn als auch für die Kinder schwer, wenn ein Elternteil fehle. Im Herkunftstaat habe er keine Eheprobleme gesehen.

3.4. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten auszuschließen sind.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.5.1 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 25.09.2017, Schreibfehler teilweise korrigiert):

Politische Lage:

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.) und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.01.2004).

Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.01.2017), nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017).

Parlament und Parlamentswahlen:

Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wähler/innen. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik (AA 9.2016). Im Jänner 2017 verlautbarte das Büro von CEO Abdullah Abdullah, dass Parlaments- und Bezirksratswahlen im nächsten Jahr abgehalten werden (Pajhwok 19.01.2017).

Die afghanische Nationalversammlung besteht aus dem Unterhaus, Wolesi Jirga, und dem Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt. Das Unterhaus hat 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kutschi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 13.04.2016 vgl. auch: CRS 12.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für einen Sikh- oder Hindu-Repräsentanten reserviert (USDOS 13.04.2016).

Die Rolle des Zweikammern-Parlaments bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht (AA 9.2016).

Parteien:

Der Terminus Partei umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einigen von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die afghanische Parteienlandschaft ist mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf fehlende strukturelle Elemente (wie z.B. ein Parteienfinanzierungsgesetz) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016).

Im Jahr 2009 wurde ein neues Parteiengesetz eingeführt, das von allen Parteien verlangte, sich neu zu registrieren, und zum Ziel hatte, ihre Anzahl zu reduzieren. Anstatt wie zuvor die Unterschrift von 700 Mitgliedern müssen sie nun 10.000 Unterschriften aus allen Provinzen erbringen. Diese Bedingung reduzierte tatsächlich die Zahl der offiziell registrierten Parteien von mehr als 100 auf 63, trug aber anscheinend nur wenig zur Konsolidierung des Parteiensystems bei (USIP 3.2015).

Unter der neuen Verfassung haben sich seit 2001 zuvor islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu politischen Parteien gewandelt. Sie repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu Institutionen entwickelt. Keine von ihnen ist eine weltanschauliche Organisation oder ein Mobilmacher von Wähler/innen, wie es Parteien in reiferen Demokratien sind (USIP 3.2015). Eine Diskriminierung oder Strafverfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten nach Rückkehr aus dem Ausland ist nicht anzunehmen. Auch einige Führungsfiguren der RNE sind aus dem Exil zurückgekehrt, um Ämter bis hin zum Ministerrang zu übernehmen. Präsident Ashraf Ghani verbrachte selbst die Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren weitgehend im pakistanischen und US-amerikanischen Exil (AA 9.2016).

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Im afghanischen Friedens- und Versöhnungsprozess gibt es weiterhin keine greifbaren Fortschritte. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Die Reintegration versöhnungswilliger Aufständischer bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden (AA 9.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG):

Nach zweijährigen Verhandlungen (Die Zeit 22.09.2016) unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das der Hezb-e Islami Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtet sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der Hezb-e Islami und der Regierung erklärte erstere in einer Stellungnahme eine Waffenruhe (The Express Tribune 30.09.2016). Das Abkommen beinhaltet unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Sobald internationale Sanktionen aufgehoben sind, wird von Hekmatyar erwartet, nach 20 Jahren aus dem Exil nach Afghanistan zurückkehren. Im Jahr 2003 war Hekmatyar von den USA zum "internationalen Terroristen" erklärt worden (NYT 29.09.2016). Schlussendlich wurden im Februar 2017 die Sanktionen gegen Hekmatyar von den Vereinten Nationen aufgehoben (BBC News 04.02.2017).

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.01.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint Einzelberichten zufolge auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.02.2017).

INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).

Mit Stand September 2016 schätzt die Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10% der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (USDOD 12.2016). Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (SIGAR 30.01.2017).

Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften (USDOD 12.2016). Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen – ausgeführt durch die Polizei und das Militär – landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (VOA 05.01.2017).

Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: Intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.08. – 17.11.2016) (UN GASC 13.12.2016; vgl. auch: SCR 30.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (USDOD 12.2016).

Kontrolle von Distrikten und Regionen:

Den Aufständischen misslangen acht Versuche, die Provinzhauptstadt einzunehmen; den Rebellen war es möglich, Territorium einzunehmen. High-profile Angriffe hielten an. Im vierten Quartal 2016 waren 2,5 Millionen Menschen unter direktem Einfluss der Taliban, während es im dritten Quartal noch 2,9 Millionen waren (SIGAR 30.01.2017).

Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal sind 57,2% der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw. –einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2% gegenüber dem dritten Quartal an: Zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit fünf von sechs Distrikten und Helmand mit acht von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.01.2017).

Rebellengruppen:

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin, durch Bedrohungen, Entführungen und gezielte Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium (USDOD 12.2016).

Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistische Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan – gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden (USDOD 12.2016).

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihre Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).

Taliban und ihre Offensive:

Die afghanischen Sicherheitskräfte behielten die Kontrolle über große Ballungsräume und reagierten rasch auf jegliche Gebietsgewinne der Taliban (USDOD 12.2016). Die Taliban erhöhten das Operationstempo im Herbst 2016, indem sie Druck auf die Provinzhauptstädte von Helmand, Uruzgan, Farah und Kunduz ausübten sowie die Regierungskontrolle in Schlüsseldistrikten beeinträchtigten und versuchten, Versorgungsrouten zu unterbrechen (UN GASC 13.12.2016). Die Taliban verweigern einen politischen Dialog mit der Regierung (SCR 12.2016).

Die Taliban haben die Ziele ihrer Offensive "Operation Omari" im Jahr 2016 verfehlt (USDOD 12.2016). Ihr Ziel waren großangelegte Offensiven gegen Regierungsstützpunkte, unterstützt durch Selbstmordattentate und Angriffe von Aufständischen, um die vom Westen unterstützte Regierung zu vertreiben (Reuters 12.04.2016). Gebietsgewinne der Taliban waren nicht dauerhaft, nachdem die ANDSF immer wieder die Distriktzentren und Bevölkerungsgegenden innerhalb eines Tages zurückerobern konnte. Die Taliban haben ihre lokalen und temporären Erfolge ausgenutzt, indem sie diese als große strategische Veränderungen in sozialen Medien und in anderen öffentlichen Informationskampagnen verlautbarten (USDOD 12.2016). Zusätzlich zum bewaffneten Konflikt zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban kämpften die Taliban gegen den ISIL-KP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan) (UN GASC 13.12.2016).

Der derzeitige Talibanführer Mullah Haibatullah Akhundzada hat im Jänner 2017 16 Schattengouverneure in Afghanistan ersetzt, um seinen Einfluss über den Aufstand zu stärken. Aufgrund interner Unstimmigkeiten und Überläufern zu feindlichen Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, waren die afghanischen Taliban geschwächt. Hochrangige Quellen der Taliban waren der Meinung, die neu ernannten Gouverneure würden den Talibanführer stärken, dennoch gab es keine Veränderung in Helmand. Die südliche Provinz – größtenteils unter Talibankontrolle – liefert der Gruppe den Großteil der finanziellen Unterstützung durch Opium. Behauptet wird, Akhundzada hätte nicht den gleichen Einfluss über Helmand wie einst Mansour (Reuters 27.01.2017).

Im Mai 2016 wurde der Talibanführer Mullah Akhtar Mohammad Mansour durch eine US-Drohne in der Provinz Balochistan in Pakistan getötet (BBC News 22.05.2016; vgl. auch: The National 13.01.2017). Zum Nachfolger wurde Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt – ein ehemaliger islamischer Rechtsgelehrter – der bis zu diesem Zeitpunkt als einer der Stellvertreter diente (Reuters 25.05.2016; vgl. auch:

The National 13.01.2017). Dieser ernannte als Stellvertreter Sirajuddin Haqqani, den Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (The National 13.01.2017), und Mullah Yaqoub, Sohn des Talibangründers Mullah Omar (DW 25.05.2016).

Haqqani-Netzwerk:

Das Haqqani-Netzwerk ist eine sunnitische Rebellengruppe, die durch Jalaluddin Haqqani gegründet wurde. Sirajuddin Haqqani, Sohn des Jalaluddin, führt das Tagesgeschäft gemeinsam mit seinen engsten Verwandten (NCTC o.D.). Sirajuddin Haqqani wurde zum Stellvertreter des Talibanführers Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt (The National 13.01.2017).

Das Netzwerk ist ein Verbündeter der Taliban – dennoch ist es kein Teil der Kernbewegung (CRS 26.05.2016). Das Netzwerk ist mit anderen terroristischen Organisationen in der Region, inklusive al-Qaida und den Taliban, verbündet (Khaama Press 16.10.2014). Die Stärke des Haqqani-Netzwerks wird auf 3.000 Kämpfer geschätzt (CRS 12.01.2017). Das Netzwerk ist hauptsächlich in Nordwaziristan (Pakistan) zu verorten und führt grenzübergreifende Operationen nach Ostafghanistan und Kabul durch (NCTC o.D.).

Das Haqqani-Netzwerk ist fähig – speziell in der Stadt Kabul –,Operationen durchzuführen; es finanziert sich durch legale und illegale Geschäfte in den Gegenden Afghanistans, in denen es eine Präsenz hat, aber auch in Pakistan und im Persischen Golf. Das Netzwerk führt vermehrt Entführungen aus – wahrscheinlich, um sich zu finanzieren und seine Wichtigkeit zu stärken (CRS 12.01.2017).

Kommandanten des Haqqani Netzwerk sagten zu Journalist/innen, das Netzwerk sei bereit, eine politische Vereinbarung mit der afghanischen Regierung zu treffen, sofern sich die Taliban dazu entschließen würden, eine solche Vereinbarung einzugehen (CRS 12.01.2017).

Al-Qaida:

Laut US-amerikanischen Beamten war die Präsenz von al-Qaida in den Jahren 2001 bis 2015 minimal (weniger als 100 Kämpfer); al-Qaida fungierte als Unterstützer für Rebellengruppen (CRS 12.01.2017). Im Jahr 2015 entdeckten und zerstörten die afghanischen Sicherheitskräfte gemeinsam mit US-Spezialkräften ein Camp der al-Quaida in der Provinz Kandahar (CRS 12.01.2017; vgl. auch: FP 02.11.2015); dabei wurden 160 Kämpfer getötet (FP 02.11.2015). Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass al-Qaida die Präsenz in Afghanistan vergrößert hat. US-amerikanische Kommandanten bezifferten die Zahl der Kämpfer in Afghanistan mit 100-300, während die afghanischen Behörden die Zahl der Kämpfer auf 300-500 schätzten (CRS 12.01.2017). Im Dezember 2015 wurde berichtet, dass al-Qaida sich primär auf den Osten und Nordosten konzentrierte und nicht, wie ursprünglich von US-amerikanischer Seite angenommen, nur auf Nordostafghanistan (LWJ 16.04.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG):

Siehe oben unter "Friedens- und Versöhnungsprozess".

IS/ISIS/ISIL/ISKP/ISIL-K/Daesh – Islamischer Staat:

Seit dem Jahr 2014 hat die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eine kleine Präsenz in Afghanistan etabliert (RAND 28.11.2016). Die Führer des IS nennen diese Provinz Wilayat Khorasan – in Anlehnung an die historische Region, die Teile des Irans, Zentralasien, Afghanistan und Pakistan beinhaltete (RAND 28.11.2016; vgl. auch:

MEI 5.2016). Anfangs wuchs der IS schnell (MEI 5.2016). Der IS trat im Jahr 2014 in zwei getrennten Regionen in Afghanistan auf: in den östlichsten Regionen Nangarhars, an der AfPak-Grenze und im Distrikt Kajaki in der Provinz Helmand (USIP 03.11.2016).

Trotz Bemühungen, seine Macht und seinen Einfluss in der Region zu vergrößern, kontrolliert der IS nahezu kein Territorium außer kleineren Gegenden wie z.B. die Distrikte Deh Bala, Achin und Naziyan in der östlichen Provinz Nangarhar (RAND 28.11.2016; vgl. auch: USIP 03.11.2016). Zwar kämpfte der IS hart in Afghanistan, um Fuß zu fassen, die Gruppe wird von den Ansäßigen jedoch großteils als fremde Kraft gesehen (MEI 5.2016). Nur eine Handvoll Angriffe führte der IS in der Region durch. Es gelang ihm nicht, sich die Unterstützung der Ansäßigen zu sichern; auch hatte er mit schwacher Führung zu kämpfen (RAND 28.11.2016). Der IS hatte mit Verlusten zu kämpfen (MEI 5.2016). Unterstützt von internationalen Militärkräften führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch – dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).

Auch wenn die Gruppierung weiterhin interne Streitigkeiten der Taliban ausnützt, um die Präsenz zu halten, ist sie mit einem harten Kampf konfrontiert, um permanenter Bestandteil komplexer afghanischer Stammes- und Militärstrukturen zu werden. Anhaltender Druck durch US-amerikanische Luftangriffe haben weiterhin die Möglichkeiten des IS in Afghanistan untergraben; auch wird der IS weiterhin davon abgehalten, seinen eigenen Bereich in Afghanistan einzunehmen (MEI 5.2016). Laut US-amerikanischem Außenministerium hat der IS keinen sicherheitsrelevanten Einfluss außerhalb von isolierten Provinzen in Ostafghanistan (SIGAR 30.10.2017).

Unterstützt von internationalen Militärkräften führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch – dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).

Presseberichten zufolge betrachtet die afghanische Bevölkerung die Talibanpraktiken als moderat im Gegensatz zu den brutalen Praktiken des IS. Kämpfer der Taliban und des IS gerieten aufgrund politischer oder anderer Differenzen, aber auch aufgrund der Kontrolle von Territorium, aneinander

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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