TE Bvwg Erkenntnis 2017/12/13 G314 2171478-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.12.2017
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Entscheidungsdatum

13.12.2017

Norm

BFA-VG §18 Abs3
B-VG Art.133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70 Abs3

Spruch

G314 2171478-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, polnischer Staatsangehöriger, vertreten durch XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 08.09.2017,Zahl XXXX, betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid

ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) wurde am XXXX.2016 in XXXX verhaftet. Mit dem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX, XXXX, wurde er wegen des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Mit dem am 08.08.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eingelangten Schreiben nahm der BF zu der mit Schreiben vom 24.07.2017 angekündigten Absicht, gegen ihn ein Aufenthaltsverbot zu erlassen, Stellung.

Mit dem oben angeführten Bescheid wurde gegen den BF ein sechsjähriges Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 70 Abs 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.) und einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG aberkannt (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit den Straftaten des BF begründet.

Dagegen richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, das Aufenthaltsverbot ersatzlos zu beheben, in eventu, die Dauer zu verringern, in eventu, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Angelegenheit zur Verfahrensergänzung an das BFA zurückzuverweisen. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass er mit seiner Familie seit 25 Jahren in Österreich lebe und in Polen keine Angehörigen habe. Er sei in Österreich aufgewachsen und habe hier die Schule absolviert. Seine Ehefrau würde mit drei Kindern in XXXX leben. Er habe einen Arbeitsplatz für die Zeit nach seiner Haftentlassung in Aussicht.

Das BFA legte die Beschwerde und die Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo sie am 25.09.2017 einlangten.

Nach der Vorlage ergänzender Unterlagen und einer ergänzenden Stellungnahme des BF wurden bei der Beschwerdeverhandlung am 04.12.2017 der BF und seine Eltern vernommen.

Feststellungen:

Der BF wurde am XXXX in XXXX (Polen) geboren. Er kam Ende 1992 nach Österreich, wo seine Eltern lebten. Er hält sich seither im Bundesgebiet auf. Lediglich das Jahr seiner Erstkommunion, als er acht Jahre alt war, verbrachte er in Polen, wo er bei seiner Großmutter lebte. Nachdem ihm ab November 1992 Sichtvermerke für den Aufenthalt und die mehrmalige Wiedereinreise nach Österreich erteilt worden waren und er ab XXXX 1995 über eine befristete Aufenthaltsbewilligung verfügte, wurde ihm am XXXX.1999 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung erteilt.

Die Muttersprache des BF ist Polnisch. Er spricht auch sehr gut Deutsch. Er besuchte die Volksschule in XXXX und (für ein Jahr) in Polen. Die Neue Mittelschule absolvierte er in XXXX und in XXXX, die Polytechnische Schule in XXXX. Seine Eltern und seine Schwester leben in Österreich. In Polen hat der BF keine familiären Anknüpfungspunkte.

Ab 2008 war der BF bei verschiedenen Unternehmen in XXXX - zumeist für kurze Zeit - als Arbeiter erwerbstätig, immer wieder unterbrochen von Zeiten, in denen er Arbeitslosengeld bezog oder nur geringfügig beschäftigt war. Im XXXX 2014 war er einige Tage lang als Arbeiter beschäftigt, danach bezog er Arbeitslosengeld, Krankengeld und Notstands- bzw. Überbrückungshilfe. Er war im XXXX 2015 zwei Tage vollversichert erwerbstätig und im XXXX 2015 geringfügig beschäftigt. Vor seiner Verhaftung war er zuletzt von XXXX. bis XXXX.2016 als Arbeiter in XXXX tätig, danach bezog er bis XXXX.2016 Notstands- bzw. Überbrückungshilfe.

Der BF schloss am XXXX.2012 in XXXX die Ehe mit der polnischen Staatsangehörigen XXXX. Der Ehe entstammen der am XXXX in Zakopane geborene XXXX und der am XXXX in XXXX geborene XXXX. Ab 2012 lebte der BF mit seiner Frau, deren am XXXX geborenen Sohn XXXX und den beiden gemeinsamen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX. Die Frau des BF war in Österreich nicht erwerbstätig; sie bezog Kinderbetreuungsgeld.

Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, wurde der BF wegen des Verbrechens des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 206 Abs 1 StGB zu einer Strafenkombination (Geldstrafe von 240 Tagessätzen á EUR 4 und bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe von 15 Monaten) verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er am XXXX.2015 versuchte, mit einem damals noch nicht 12-jährigen Mädchen den Beischlaf zu unternehmen, indem er sie während ihres Heimwegs auf einem wenig befahrenen schmalen Güterweg mit seinem Auto verfolgte, neben ihr anhielt und ihr mit der Hand deutete, zu ihm zu kommen, die Fahrertüre öffnete und sie fragte, ob sie mit ihm "ficken" wolle, wobei er ihr seinen entblößten Penis präsentierte und es nur deshalb beim Versuch blieb, weil das Mädchen die Flucht ergriff. Als mildernd wurden die Unbescholtenheit und das Tatsachengeständnis gewertet; besondere Erschwerungsgründe lagen nicht vor. Dem BF wurde die Weisung erteilt, sich während der dreijährigen Probezeit einer Therapie zur Aufarbeitung der Deliktshintergründe zu unterziehen; gleichzeitig wurde die Bewährungshilfe angeordnet.

Der Verurteilung des BF durch das Landesgericht für Strafsachen XXXX vom XXXX, XXXX, liegt zugrunde, dass er am XXXX.2016 in XXXX eine Frau mit Gewalt zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung nötigte, indem er sie von hinten mit einer Hand über ihre Schulter am Brustkorb packte und festhielt, während er mit der anderen Hand intensiv in ihren Genitalbereich griff. Der BF wurde aufgrund von DNA-Spuren am Laufshirt des Opfers ausgeforscht und in Untersuchungshaft genommen. Er wurde wegen dieser Tat - ausgehend von einem Strafrahmen von sechs Monaten bis fünf Jahren - rechtskräftig zu einer fünfzehnmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Gleichzeitig wurde die ihm mit Urteil des Landesgerichts XXXX am XXXX, XXXX, gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen. Bei der Strafzumessung wurde das Geständnis als mildernd gewertet; erschwerend wirkten sich die einschlägige Vorstrafe und der äußerste rasche Rückfall aus.

Derzeit verbüßt der BF die über ihn verhängten Strafen in der Justizanstalt XXXX. Er ist gesund und arbeitsfähig und wird während der Haft bei ordnungsgemäßem Vollzugsverhalten als Reinigungskraft beschäftigt. Seit XXXX 2017 absolviert er eine Psychotherapie zur Rückfallsprävention und zur Verbesserung der Legalprognose. Seine Eltern besuchen ihn regelmäßig in der Justizanstalt, teilweise gemeinsam mit seinen Kindern. Seine Frau besuchte ihn zuletzt im XXXX 2017. Sie lebt mittlerweile mit ihren Kindern in Polen und kommt nur besuchsweise nach Österreich.

Der BF hat vor, nach seiner Haftentlassung wieder mit seiner Familie in XXXX zu wohnen. Er hat bereits eine Mietwohnung und einen Arbeitsplatz in Aussicht und möchte eine Ausbildung zum XXXX machen.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG, insbesondere den schlüssigen Angaben des BF und seiner Eltern in der Beschwerdeverhandlung und den vorgelegten Urkunden. Es liegen kaum entscheidungswesentliche Widersprüche vor.

Die Identität des BF ergibt sich aus den Feststellungen zu seiner Person in den Strafurteilen, die mit seiner in Kopie vorgelegten Geburtsurkunde übereinstimmen.

Der BF weist zwar für die Zeit zwischen 1992 und 2004 nur eine Nebenwohnsitzmeldung im Bundesgebiet auf, was an sich dafür spricht, dass sich sein Hauptwohnsitz woanders befand. Das Gericht geht aber aufgrund der Angaben des BF und seiner als Zeugen vernommenen Eltern in der Beschwerdeverhandlung davon aus, dass er sich seit 1992 - abgesehen vom Jahr seiner Erstkommunion - durchgehend in Österreich aufhält. Dies wird durch die Sichtvermerke und Aufenthaltstitel in den abgelaufenen Reisepässen des BF untermauert. Anhaltspunkte dafür, dass sein Aufenthalt zu irgendeinem Zeitpunkt nicht rechtmäßig gewesen wäre, liegen nicht vor.

Der BF bezeichnete in der Beschwerdeverhandlung, bei der er seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellte, Polnisch als seine Muttersprache. Seine Deutschkenntnisse können auch deshalb festgestellt werden, weil er die Schule im Wesentlichen in Österreich absolvierte.

Aus dem Schreiben des XXXXschulrats für XXXX vom XXXX.2017 ergibt sich, dass der BF ab dem Schuljahr XXXX in XXXX die Neue Mittelschule und im Schuljahr XXXX die Polytechnische Schule in XXXX besuchte. Aufgrund der Aussagen des BF und seiner Eltern geht das Gericht davon aus, dass er (abgesehen vom Jahr seiner Erstkommunion) seine gesamte Schulbildung in Österreich absolvierte, zumal er in seiner Stellungnahme vom 08.08.2017 die von ihm besuchten Schulen konkret nannte.

Der langjährige Aufenthalt der Eltern des BF in Österreich ergibt sich aus ihren Aussagen und aus den Wohnsitzmeldungen laut dem Zentralen Melderegister (ZMR). Die Eltern des BF erklärten übereinstimmend, dass auch seine Schwester in Österreich lebt.

Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit des BF basieren auf dem Versicherungsdatenauszug.

Die familiären Verhältnisse des BF ergeben sich aus seiner Darstellung, die mit den dazu in Kopie vorgelegten Unterlagen (Geburtsurkunden, Reisepässe, Anmeldebescheinigungen) und dem ZMR übereinstimmt. Der BF bestätigte, dass seine Ehefrau aufgrund ihrer Betreuungspflichten keiner Erwerbstätigkeit nachging.

Die Feststellungen zu den vom BF begangenen Straftaten, zu seinen Verurteilungen und zu den Erschwerungs- und Milderungsgründen basieren auf den vorliegenden Strafurteilen und dem Strafregisterauszug. Sein Vollzugsverhalten wird anhand seiner Angaben in der Beschwerdeverhandlung und der Mitteilung der Justizanstalt XXXX vom XXXX.2017 festgestellt. Der BF legte bei der Beschwerdeverhandlung auch eine Therapievereinbarung vor.

Aus dem Besucherverzeichnis der Justizanstalt XXXX ergibt sich, dass die Ehefrau des BF ihn nur zwei Mal im XXXX 2017 besuchte. Der BF und seine Mutter gaben an, sie halte sich abwechselnd in Österreich und in Polen auf. Da aktuell keine Wohnsitzmeldung der Frau und der Kinder des BF in Österreich vorliegt und sie sich laut dem BF in der nur XXXX m2 großen Wohnung seiner Eltern aufhalten, wenn sie in Österreich sind, ist davon auszugehen, dass sie sich vorwiegend in Polen und nur besuchsweise in Österreich aufhalten, solange der BF in Haft ist. Dafür spricht auch, dass der Vater des BF erklärte, er habe derzeit keinen Kontakt zu ihnen.

Der BF legte eine Einstellungszusage der XXXX vor und erklärte in der Beschwerdeverhandlung, dass er eine Mietwohnung für die Zeit nach seiner Haftentlassung in Aussicht habe.

Rechtliche Beurteilung:

Als Staatsangehöriger von Polen ist der BF EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Wenn der EWR-Bürger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt (so etwa, wenn er zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verurteilt wurde), kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG auch unbefristet erlassen werden. Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbots ist gemäß § 67 Abs 4 FPG auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen.

Voraussetzung für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 FPG, durch das in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingegriffen wird, ist gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG, dass dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

§ 9 Abs 4 BFA-VG normiert ein Verbot der Erlassung einer Rückkehrentscheidung bei einer Aufenthaltsverfestigung. Demnach darf gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs 1 StbG verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbots von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor (Z 1) oder wenn er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist (Z 2). § 9 Abs 5 und 6 BFA-VG enthalten weitere Einschränkungen für die Erlassung von Rückkehrentscheidungen bei langer Aufenthaltsdauer im Inland.

Dem Wortlaut nach findet § 9 Abs 4 BFA-VG nur für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen rechtmäßig niedergelassene Drittstaatsangehörige Anwendung. Da dies zu einem Wertungswiderspruch und einer Schlechterstellung von EWR-Bürgern führen würde, ist diese Bestimmung auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 FPG zu berücksichtigen (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht § 9 BFA-VG K 11; vgl zur vergleichbaren Rechtslage vor BGBl 2012/I/87 VwGH 09.11.2011, 2011/22/0264).

Die Wendung "von klein auf" in § 9 Abs 4 Z 2 BFA-VG erfasst Personen, die vor Vollendung ihres vierten Lebensjahres nach Österreich eingereist oder hier geboren sind und sich danach nicht wieder für längere Zeit ins Ausland begeben haben, sondern schon im Kleinkindalter sozial in Österreich integriert wurden (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht § 9 BFA-VG K 13, vgl zu § 64 Abs 1 Z 2 FPG idF BGBl 2011/I/038 VwGH 07.11.2012, 2012/18/0052).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Der BF kam im Alter von XXXX Jahren nach Österreich und ist seither rechtmäßig im Inland niedergelassen. Er hat bis auf ein Schuljahr, das er in Polen verbrachte, seine gesamte Schulausbildung in Österreich absolviert und verfügt seit 18 Jahren über einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Er ist daher als von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen iSd § 9 Abs 4 Z 2 BFA-VG anzusehen. Daran ändert auch ein einjähriger Aufenthalt in Polen vor 20 Jahren nichts, zumal der BF bereits davor mehrere Jahre lang in Österreich gelebt hatte und somit schon im Kleinkindalter hier sozial integriert wurde, zumal er sich nach einem Jahr wieder durchgehend in Österreich aufhielt und damit hier "aufgewachsen" ist.

Da § 9 Abs 4 Z 2 BFA-VG keine Einschränkung enthält, wonach die Erlassung eines Aufenthaltsverbots bei einer schwerwiegenden Verurteilung doch zulässig wäre, ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots trotz der schwerwiegenden Straftaten des BF gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung und seiner Verurteilung zu einer längeren Haftstrafe unzulässig. Der angefochtene Bescheid ist daher ersatzlos aufzuheben.

Es liegt zwar keine Rechtsprechung des VwGH zur Anwendung des § 9 Abs 4 Z 2 FPG in einer vergleichbaren Konstellation vor. Da § 9 Abs 4 Z 2 BFA-VG § 64 Abs 1 Z 2 FPG idF BGBl 2011/I/038 nachgebildet ist, ist die dazu ergangene Rechtsprechung übertragbar (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht § 9 BFA-VG K 10). Der VwGH hat am 09.11.2011 zu 2011/22/0264 ausgesprochen, dass ein Fremder, der in Österreich geboren wurde und zwischen seinem vierten und neunten Lebensjahr in der Türkei lebte, dort die Volksschule besuchte und seine weitere Schulausbildung sowie seine Berufsausbildung in Österreich absolvierte, als von klein auf im Inland aufgewachsen anzusehen ist und sich bei langjähriger rechtmäßiger Niederlassung die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes als unzulässig erweist.

Da sich das BVwG somit an an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte, ist die Revision mangels einer Rechtsfrage, der grundsätzliche Bedeutung iSd Art 133 Abs 4 B-VG zukommt, nicht zuzulassen.

Schlagworte

Aufenthaltsverbot, EU-Bürger, Gefährdungsprognose, Minderjährige,
Missbrauch, öffentliches Interesse, sexuelle Belästigung,
strafrechtliche Verurteilung, Verbrechen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2017:G314.2171478.1.00

Zuletzt aktualisiert am

27.12.2017
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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