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66/01 Allgemeines SozialversicherungsgesetzNorm
B-VG Art140 Abs1 Z1 litdLeitsatz
Verfassungswidrigkeit der Regelung des ASVG betreffend den Anfallszeitpunkt von Waisenpensionen bei verspäteter Antragstellung wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsrecht; keine sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Minderjährigen und geschäftsunfähigen Volljährigen; im Übrigen Zurückweisung des ParteiantragsRechtssatz
Unzulässigkeit des Antrags auf Aufhebung der Wortfolge "längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten" in §86 Abs3 Z1 zweiter Satz ASVG, BGBl 189/1955 idF BGBl I 2/2015 (Hauptantrag).
Der Antragsteller behauptet die verfassungswidrige Ungleichbehandlung von - psychisch gesunden - Minderjährigen und geschäftsunfähigen Volljährigen in Bezug auf den Schutz vor den Folgen eines unverschuldet verspätet gestellten Antrages auf Gewährung einer Waisenpension.
Der Antragsteller war im Zeitpunkt des Todes seines Vaters nicht minderjährig, sodass mit der Aufhebung der sechsmonatigen Antragsfrist die behauptete Verfassungswidrigkeit der Norm aus der Sicht des Geschäftsunfähigenschutzes nicht beseitigt werden würde, sondern sich aus dem verbleibenden Text vielmehr im Gegenschluss ergäbe, dass eine rückwirkende Pensionsgewährung dann nicht in Frage kommt, wenn der Antrag vor Erreichung der Volljährigkeit gestellt wird, ein Ergebnis, welches die Regelung für nicht geschäftsfähige Erwachsene nicht öffnen, sondern nur zur Verfassungswidrigkeit der Minderjährigenregelung führen würde. Abgesehen davon, würde auch der darauf folgende Satz zwar anwendbar bleiben, aber mangels Vorhandenseins der Frist, an die er anknüpft, ein unverständlicher Torso werden.
Zulässigkeit des ersten Eventualantrags auf Aufhebung der Wortfolge "wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird" im ersten Satz sowie des zweiten bis sechsten Satzes des §86 Abs3 Z1 ASVG.
Nach dem Antragsvorbringen hat der Gesetzgeber die Ausnahmen von dem grundsätzlich mit dem Eintritt des Versicherungsfalles festgesetzten Beginn des Laufes der sechsmonatigen Antragsfrist zu wenig weit gezogen, weil er geschäftsunfähige Erwachsene unberücksichtigt gelassen hat. Im Falle der Verfassungswidrigkeit des Fehlens einer Ausnahme könnte ein verfassungskonformer Zustand nur durch die Beseitigung der Regel (also der Wortfolge "wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird" im ersten Satz des §86 Abs3 Z1 ASVG) samt dem daran anknüpfenden und im untrennbaren Zusammenhang stehenden zweiten bis sechsten Satz der angefochtenen Bestimmung hergestellt werden. Insoweit besteht hier ein systematischer Zusammenhang zwischen Grundtatbestand und Ausnahmebestimmung.
Im Hinblick auf die Zulässigkeit des ersten Eventualantrages muss auf den zweiten Eventualantrag nicht eingegangen werden.
Mit dem SRÄG 1993, BGBl 335/1993, wurde der Minderjährigenschutz dahin erweitert, dass - für den Fall der Säumigkeit des gesetzlichen Vertreters - die Antragsfrist von sechs Monaten für eine rückwirkende Zuerkennung der Waisenpension erst mit der Erlangung der Volljährigkeit zu laufen beginnt. Für Personen, die aus Gründen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage sind, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu besorgen, sieht das Gesetz hingegen keine Sonderregelung vor.
Im Zivilrecht stehen hingegen Minderjährige und Personen, die aus einem anderen Grund als dem ihrer Minderjährigkeit alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten selbst gehörig zu besorgen nicht vermögen, unter dem besonderen Schutz der Gesetze. Dieser Schutz ist in unterschiedlichen Rechtsvorschriften zum Teil unterschiedlich gestaltet. Im Zusammenhang mit dem Lauf von Fristen sind Minderjährige und Personen "die den Gebrauch der Vernunft nicht haben" aber insofern gleichgestellt, als gegen sie - sofern sie über keinen gesetzlichen Vertreter verfügen - eine Verjährungsfrist nicht beginnen bzw eine begonnene Verjährungsfrist nicht früher als binnen zwei Jahren ablaufen kann (§1494 ABGB).
Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes ist auch mit Blick auf die Regelung des §86 Abs3 Z1 ASVG ein auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung nicht Postulations- oder Geschäftsfähiger einer minderjährigen Person gleichzuhalten, soweit in dieser Bestimmung für die rückwirkende Gewährung von Waisenpensionen eine sechsmonatige Antragsfrist vorgesehen ist. Denn eine auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- und prozessunfähige Person befindet sich mit einem Minderjährigen in einer rechtlich vergleichbaren Lage. Hinzu kommt, dass gerade bei Waisenpensionen in besonderem Maße mit Anspruchsberechtigten aus dem Personenkreis geistig oder psychisch behinderter Personen gerechnet werden muss, da die Gewährung einer Waisenpension an Erwachsene voraussetzt, dass die betreffende Person seit der Vollendung des 18. Lebensjahres bzw seit dem Ablauf einer sich daran anschließenden Schul- oder Berufsausbildung spätestens seit dem 27. Lebensjahr "infolge Krankheit oder Gebrechens" erwerbsunfähig ist (§252 Abs2 Z3 iVm §260 ASVG).
Im Hinblick darauf vermag der VfGH aber keinen sachlichen Grund dafür zu erkennen, wenn der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für mündige Minderjährige vorsieht, hingegen keinen vergleichbaren Schutz für den soeben genannten Personenkreis, obgleich diese Personen auf diese Pensionsleistungen als Einkommensersatzleistung für den verlorenen Elternunterhalt typischerweise besonders angewiesen sind.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Sozialversicherung, Pensionsrecht, Waisenpension, Ausnahmeregelung - Regel, VfGH / Parteiantrag, VfGH / PrüfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2017:G125.2017Zuletzt aktualisiert am
21.03.2019