TE Vwgh Erkenntnis 2017/11/22 Ra 2017/19/0177

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Veröffentlicht am 22.11.2017
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
AVG §37;
AVG §45 Abs3;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §24;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Pürgy als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des M E in W, vertreten durch MMag. Dr. Albrecht Haller, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Garnisongasse 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. April 2017, I403 2155542-1/3E, in der Fassung der Berichtigung vom 22. Juni 2017, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist ein nigerianischer Staatsangehöriger, der sich zum christlichen Glauben bekennt. Er stellte am 26. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass die Boko Haram seine Boutique und das Haus seiner Eltern im Rahmen eines Gefechts mit nigerianischen Soldaten zerbombt habe.

2 In der am 14. März 2017 durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gab der Revisionswerber zu seinen Fluchtgründen befragt an, seine Mutter sei im Jahr 2009 gestorben. In diesem Jahr habe "alles begonnen", vorher habe es keine Probleme gegeben. Es seien Kirchen angezündet worden und es habe Kämpfe gegeben. Nachdem am 4. November 2009 um 16:00 Uhr eine Bombe eingeschlagen habe, sei seine Boutique in der Stadt Minna in Flammen gestanden. Alle hätten nur "Boko Haram" geschrien. Danach sei der Revisionswerber nach Guada gefahren, um seine Mutter aus dem brennenden Haus zu retten. Er sei jedoch ohnmächtig geworden und zwei Tage später im Krankenhaus in der Stadt Kano aufgewacht. Die Boko Haram habe mehrere Häuser in seiner Nachbarschaft zerbombt.

3 Mit Bescheid vom 7. April 2017 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei.

Das BFA führte begründend aus, es sei vom Revisionswerber zu keiner Zeit eine konkrete, gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlung geschildert worden. Er habe keine solche glaubhaft und namhaft machen können. Den von ihm vorgebrachten Gründen für das Verlassen des Herkunftslandes sei somit keine Asylrelevanz zu entnehmen.

4 In der dagegen erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht rügte der Revisionswerber, er sei zu seinen Fluchtgründen unzureichend befragt worden. Er habe vor dem BFA konkret und nachvollziehbar vorgebracht, dass die Boko Haram gezielt gegen Christen und deren Häuser vorgehe und er von dieser "religiös motivierten Zerstörungsabsicht" betroffen sei. Sowohl sein Haus als auch sein Geschäft seien zerstört worden. Er sei auf Grund seiner Religion weiterhin einer Verfolgung durch die Boko Haram ausgesetzt. Zudem ergebe sich aus den Länderfeststellungen des BFA, dass er in seiner Provinz von den staatlichen Organen nicht vor den Verfolgern geschützt werden könne. Da in der Beschwerde der vom BFA vorgenommenen Beweiswürdigung substantiiert entgegengetreten werde, lägen die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht vor.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig. Hinsichtlich des Vorbringens des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen schloss sich das Bundesverwaltungsgericht zunächst den beweiswürdigenden Überlegungen des BFA an. In weiterer Folge führte es - unter auszugsweiser Heranziehung der Protokolle aus der Erstbefragung und der niederschriftlichen Einvernahme - aus, die Angaben des Revisionswerbers wiesen darauf hin, dass es sich um eine "konstruierte Fluchtgeschichte" handle. Nach Aufzeigen weiterer Widersprüchlichkeiten und "Ungereimtheiten" im Vorbringen gelangte das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, die Darlegung des Revisionswerbers habe sich "lediglich auf einige Eckpunkte einer Rahmengeschichte" begrenzt, ohne diese durch die "Präsentation spezifischer detaillierter Angaben anzureichern". Eine abschließende Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens könne unterbleiben, weil selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung kein Fluchtgrund im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorliege bzw. eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben sei. Der Beschwerdeschriftsatz enthalte keine konkreten Ausführungen, die zu einer anderslautenden Entscheidung führen könnten. Es sei daher auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht geboten gewesen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 In der Revision wird zur Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

8 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 9 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung

unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich:

10 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 26.4.2017, Ra 2016/19/0290, mwN).

11 Diesen in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entsprochen:

12 Der Revisionswerber ist mit seinem Beschwerdevorbringen dem verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahren nicht bloß unsubstantiiert entgegengetreten. Schon deshalb hätte sich das Bundesverwaltungsgericht einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber im Rahmen einer mündlichen Verhandlung verschaffen müssen.

13 Das Bundesverwaltungsgericht erachtete offenkundig die vom BFA angestellten beweiswürdigenden Überlegungen für nicht ausreichend, um das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers vollständig zu würdigen. Es sah sich vielmehr veranlasst, weitere Widersprüche und "Ungereimtheiten" aufzuzeigen, wodurch es aber die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Entscheidung nicht bloß unwesentlich ergänzte (vgl. VwGH 19.9.2017, Ra 2016/20/0357). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes darf eine solche ergänzende Beweiswürdigung aber regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung erfolgen (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0302, mwN).

14 Des Weiteren wird das Bundesverwaltungsgericht mit seinen Ausführungen, wonach auch bei Wahrunterstellung des Revisionsvorbringens keine Verfolgung aus einem Konventionsgrund vorliege, den in der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nicht gerecht. Im Rahmen einer Wahrunterstellung ist es nämlich erforderlich, in der Entscheidung offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Sachverhaltsvorbringens ausgegangen wurde. Bei der rechtlichen Beurteilung im Rahmen einer "Wahrunterstellung" ist - soweit nicht ausdrücklich anderslautende Feststellungen getroffen werden - vom gesamten Vorbringen auszugehen (vgl. auch dazu VwGH Ra 2016/19/0290, mwN).

15 Der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses ist nicht zu entnehmen, welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhalt das Bundesverwaltungsgericht seiner rechtlichen Beurteilung zu Grunde legte. Dem Vorbringen des Revisionswerbers kann die Asylrelevanz auch nicht von vornherein abgesprochen werden.

16 Die erstmals vom Bundesverwaltungsgericht bei Wahrunterstellung des Vorbringens hilfsweise herangezogenen Erwägungen betreffend eine bestehende innerstaatliche Fluchtalternative hätten zudem die - von einem Gericht grundsätzlich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu erfolgende - Einräumung von rechtlichem Gehör vorausgesetzt (vgl. VwGH 27.1.2015, Ra 2014/19/0014, mwN).

17 Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG kann im vorliegenden Fall daher nicht die Rede sein, weshalb die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht vorlagen.

18 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. November 2017

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung VerfahrensmangelBegründung BegründungsmangelSachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel ParteienvernehmungParteiengehör AllgemeinParteiengehör

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017190177.L00.1

Im RIS seit

27.12.2017

Zuletzt aktualisiert am

05.01.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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