Index
001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
AVG §37;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der C M in W, vertreten durch Dr. Wolfgang Langeder, Rechtsanwalt in 1150 Wien, Stutterheimstraße 16-18/2/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.9.2016, Zl. W166 2003742-1/58E, betreffend Anträge nach dem Verbrechensopfergesetz - VOG (belangte Behörde im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin hatte am 16.10.2012 bei der belangten Behörde Anträge nach dem VOG gestellt. Mit Bescheid vom 15.11.2013 entschied die belangte Behörde (stattgebend) über den Antrag auf Zuerkennung der Kostenübernahme für Psychotherapie; die Entscheidung über die weiteren Anträge der Revisionswerberin blieb vorbehalten.
2 Daraufhin erhob die Revisionswerberin am 29.1.2014 Säumnisbeschwerde. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurden von den vom Verwaltungsgericht beigezogenen Sachverständigen Gutachten erstattet, am 21.9.2016 erging - ohne vorangehende mündliche Verhandlung - gegenüber der Revisionswerberin das nunmehr in Revision gezogene Erkenntnis, mit dem "Die Beschwerde" als unbegründet abgewiesen und die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt wurde.
3 Begründend führte das Verwaltungsgericht unter anderem aus, die Beschwerde der Revisionswerberin sei, wie sich aus der Erfüllung eines diesbezüglichen verwaltungsgerichtlichen Mängelbehebungsauftrags ergebe, als Säumnisbeschwerde zu werten, die zulässig sei, zumal die der belangten Behörde offenstehende Frist für die Sachentscheidung längst verstrichen sei.
4 Das Verwaltungsgericht gab den wesentlichen Inhalt der von ihm eingeholten Sachverständigengutachten wieder und führte (auf das Wesentliche zusammengefasst) aus, die Revisionswerberin sei am 26.12.2010 bei einer Auseinandersetzung mit ihrem damaligen Lebensgefährten von diesem verletzt worden und habe dabei mit Wahrscheinlichkeit eine Schädelprellung, eine Zerrung der Halswirbelsäule und der Muskulatur des rechten Oberarmes sowie in weiterer Folge eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Von der Revisionswerberin geltend gemachte Augen- und Zahnverletzungen sowie eine Hörstörung seien nicht verbrechenskausal. Die Schädelprellung, die Zerrung der Halswirbelsäule und der Muskulatur des rechten Oberarmes seien vollkommen folgenlos abgeheilt. Die bei ihr vorliegende posttraumatische Belastungsstörung sei mit Wahrscheinlichkeit auf den gegenständlichen Vorfall zurückzuführen; eine verbrechenskausale Arbeitsunfähigkeit bzw. Einschränkung der Arbeitsfähigkeit könne aber nicht festgestellt werden. Die Revisionswerberin sei von 2.12.2010 bis 30.4.2011 als Arbeiterin geringfügig beschäftigt gewesen. Konkrete Angaben oder Beweismittel zu Art, Dauer und Umfang einer Beschäftigung vor diesem Zeitraum lägen nicht vor.
5 Beweiswürdigend verwies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf die - unter anderem auf persönlichen Untersuchungen beruhenden - Sachverständigengutachten, an deren Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit keine Zweifel bestünden. Was den geltend gemachten Verdienstentgang anlange, sei von der Sachverständigen aus dem Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie zwar eine verbrechenskausale posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, aber auch ausgeführt worden, dass das verbrechenskausale psychische Leiden keine Arbeitsunfähigkeit und auch keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bewirkt habe. Die Revisionswerberin sei einem eingeholten Versicherungsdatenauszug entnehmbar bei ihrem damaligen Lebensgefährten geringfügig beschäftigt gewesen, ihren eigenen Angaben nach als Putzhilfe. Über die von ihr vorgebrachte sehr erfolgreiche berufliche Tätigkeit vor dem gegenständlichen Vorfall habe sie keine konkreten Angaben machen können und habe sie nur unvollständige und größtenteils unverständliche Unterlagen vorgelegt.
6 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung gab das Verwaltungsgericht einleitend die maßgebenden Bestimmungen des VOG und Grundsätze für die vorzunehmende Kausalitätsbeurteilung wieder. Fallbezogen führte es weiters aus, es seien bei der Revisionswerberin weder Sehstörungen noch Gesichtsfeldausfälle objektivierbar und es liege eine Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht vor. Ein verbrechensbedingter Zahnverlust habe nicht nachgewiesen werden können. Die festgestellte Hörstörung sei nicht verbrechenskausal, was auch für die Hyperakusis und den Tinnitus rechts gelte. Zwar sei die bei ihr vorliegende posttraumatische Belastungsstörung mit Wahrscheinlichkeit auf den gegenständlichen Vorfall zurückzuführen. Dennoch seien die Voraussetzungen für die Gewährung des Ersatzes von Verdienstentgang nach dem VOG nicht erfüllt: Es sei zu klären gewesen, ob die verbrechenskausale Gesundheitsschädigung zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt habe, was seitens der beigezogenen nervenfachärztlichen Sachverständigen in ihrem Gutachten verneint worden sei. Eine begründbare Arbeitsunfähigkeit oder auch nur eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit liege danach nicht vor. Zudem habe die Revisionswerberin gar keine konkreten Angaben über Art, Dauer und Umfang ihrer Berufstätigkeit gemacht.
7 Es sei deshalb "spruchgemäß zu entscheiden und die Anträge auf Ersatz des Verdienstentganges, Übernahme der Heilfürsorge in Form von Selbstbehalten, orthopädische Versorgung in Form von Zahnersatz und Brille sowie Rehabilitation abzuweisen" gewesen.
8 Eine mündliche Verhandlung könne gemäß § 24 Abs. 2 bis 4 VwGVG entfallen, weil sich der maßgebliche, als geklärt anzusehende Sachverhalt aus dem Akteninhalt und den eingeholten fachärztlichen Sachverständigengutachten aus den Bereichen Psychiatrie/Neurologie, HNO-Heilkunde, Augenheilkunde und Allgemeinmedizin ergebe. Die von der Revisionswerberin vorgelegten Beweismittel seien nicht geeignet, die fachärztlichen Sachverständigengutachten zu entkräften. Weder Art. 6 EMRK noch Art. 47 GRC stünden somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG entgegen; zudem habe die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch nicht beantragt.
9 Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung weder in der Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren hervorgekommen seien. Vielmehr habe sich das Verwaltungsgericht bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen können.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vom Verwaltungsgericht unter Anschluss der Verfahrensakten vorgelegte (außerordentliche) Revision.
11 Die belangte Behörde hat eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf Zurück-, in eventu auf Abweisung der Revision erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
12 Die für die Beurteilung der Zulässigkeit maßgebliche Zulässigkeitsbegründung der Revision macht (zusammengefasst)
Folgendes geltend:
13 Es liege noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu der in der Revision relevierten Frage vor, ob anlässlich der medizinischen und neurologischen Befundung durch die Amtssachverständigen ein Dolmetsch beizugeben gewesen wäre. Die Revisionswerberin sei von den Amtssachverständigen dazu gezwungen worden, während der Befundaufnahme Deutsch zu sprechen, obwohl das nicht ihre Muttersprache sei. Dadurch habe die Qualität der Befundaufnahme, insbesondere der neurologisch-psychiatrischen, gelitten, weshalb die Beantwortung der gestellten Frage relevant im vorliegenden Fall sei. § 39a AVG trage der Behörde auf, erforderlichenfalls einen Dolmetsch beizuziehen, falls die Partei der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei. Dies solle sich auf den mündlichen Verkehr zwischen Behörde und Partei beziehen. Ob auch beigezogene Amtssachverständige, welche abseits einer mündlichen Verhandlung die Befundaufnahme und Begutachtung durchführten, darunter fielen, sei weder dem Gesetzestext eindeutig zu entnehmen noch existiere zu dieser Frage eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs.
14 Als Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung sei zudem anzusehen, dass das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis den Spruch als Abweisung einer unbegründeten Beschwerde formuliere, die tatsächlich aber als Säumnisbeschwerde eingebracht und als solche gewertet worden sei, wobei das Verwaltungsgericht selbst das alleinige Verschulden der belangten Behörde an der Verzögerung festgestellt habe.
15 Der zuletzt geltend gemachte Umstand begründet mit Blick auf den Akteninhalt und vor dem Hintergrund der Entscheidungsbegründung keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG: Im Kopf des angefochtenen Erkenntnisses heißt es, es werde "über die Beschwerde (der Revisionswerberin) wegen Verletzung der Entscheidungspflicht ... betreffend den am 16.10.2012 gestellten Antrag auf Gewährung von
Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz ... entschieden".
Aus der Wiedergabe des Verfahrensgangs, wonach die Revisionswerberin den Mängelbehebungsauftrag des Verwaltungsgerichts dahin beantwortet habe, dass ihre Beschwerde als Säumnisbeschwerde zu verstehen sei, was zudem in einem weiteren Verbesserungsauftrag klargestellt wurde, und den Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung, wonach die von der Revisionswerberin erhobene Säumnisbeschwerde sich als zulässig erweise und nicht ersichtlich sei, dass die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde zurückzuführen sei, in Verbindung mit den abschließenden Ausführungen, es sei
"spruchgemäß zu entscheiden und die Anträge ... abzuweisen"
gewesen, ergibt sich noch mit hinreichender Deutlichkeit, dass die angefochtene Entscheidung darauf zielte, die Sachanträge der Revisionswerberin (und nicht etwa ihre Säumnisbeschwerde) abzuweisen. Der damit nicht in Einklang stehende Spruch (wonach die "Beschwerde" abgewiesen werde) ist daher einer Berichtigung zugänglich. Dieser Fehler kann deshalb auf sich beruhen, zumal die unzutreffende Formulierung auch schon vor einer Berichtigung in der erkennbar richtigen Fassung zu lesen ist (vgl. VwGH 14.2.2013, 2010/08/0013). Der gerügte Widerspruch zwischen Spruch und Begründung liegt daher nicht vor.
16 Die Revision ist aber aus dem von ihr eingangs geltend gemachten Grund (Fehlen von Judikatur zur Reichweite des § 39a AVG) zulässig; sie ist auch begründet.
17 Gemäß § 17 VwGVG sind auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG - mit hier nicht relevanten Ausnahmen - die Bestimmungen des AVG anzuwenden.
18 § 39a AVG (idF der Novelle BGBl. I Nr. 5/2008) lautet:
"Dolmetscher und Übersetzer
§ 39a. (1) Ist eine Partei oder eine zu vernehmende Person der deutschen Sprache nicht hinreichend kundig, stumm, gehörlos oder hochgradig hörbehindert, so ist erforderlichenfalls der der Behörde beigegebene oder zur Verfügung stehende Dolmetscher (Amtsdolmetscher) beizuziehen. Die §§ 52 Abs. 2 bis 4 und 53 sind anzuwenden.
(2) Als Dolmetscher im Sinne dieses Bundesgesetzes gelten auch die Übersetzer."
19 § 39a AVG ist Teil des mit "Zweck und Gang des Ermittlungsverfahrens" überschriebenen 1. Abschnitts des II. Teils ("Ermittlungsverfahren") des AVG. Nach den "allgemeine(n) Grundsätze(n)" dieses Abschnitts ist Zweck des Ermittlungsverfahrens die Feststellung des für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalts, wobei das Parteiengehör zu wahren ist (vgl. § 37 AVG). Erst im 2. Abschnitt ("Beweise") werden Regelungen über die aufzunehmenden Beweise getroffen und dabei insbesondere allgemeine Beweisgrundsätze sowie Vorschriften betreffend einzelne Beweismittel festgelegt.
20 Gemäß § 52 Abs. 1 AVG sind die der Behörde beigegebenen oder zur Verfügung stehenden amtlichen Sachverständigen (Amtssachverständige) beizuziehen, wenn die Aufnahme eines Beweises durch Sachverständige notwendig wird, wenn also die Verwaltungsvorschriften dies ausdrücklich anordnen oder wenn die Beantwortung entscheidungsrelevanter Tatfragen besonderes Fachwissen erfordert, über das die Verwaltungsorgane nicht selbst verfügen.
21 § 39a AVG geht zurück auf die Novelle BGBl. Nr. 199/1982. In der Regierungsvorlage (160 BlgNR, 15. GP) dazu wird u. a. Folgendes ausgeführt:
"Zu Art. 1 Z. 10
Die Frage der Beiziehung von Dolmetschern bzw. Übersetzern war bisher im AVG nicht geregelt. Im Hinblick auf den Umstand, daß es immer häufiger vorkommt, daß in einem Verwaltungsverfahren, insbesondere auch in Verwaltungsstrafverfahren, Personen beteiligt sind, die der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtig sind, erweist sich eine entsprechende Regelung als zweckmäßig. Es entspräche auch nicht dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit eines Verfahrens (fair trial), sprachunkundigen Personen keinen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen.
...
Die vorliegende Bestimmung enthält zunächst den Grundsatz, daß die Behörde einen Dolmetscher beizuziehen hat, wenn die Partei selbst oder wenn Personen, die im Rahmen der Beweisaufnahme zu vernehmen sind, der deutschen Sprache dermaßen unkundig sind, daß die erforderliche Verständigung zwischen der Behörde und den anderen im Verfahren auftretenden Personen nicht gewährleistet wäre.
Durch die Formulierung der vorgeschlagenen Regelung soll auch dem Umstand Rechnung getragen werden, daß z.B. in einem Einparteienverfahren ein sprachkundiges Verwaltungsorgan die Aufgabe des Dolmetschers selbst übernehmen kann. Ferner obliegt es der Behörde dann, wenn die Partei von sich aus einen Dolmetscher mitbringt, zu beurteilen, ob die Beiziehung eines Amtsdolmetschers erforderlich ist, oder ob mit Hilfe des von der Partei mitgebrachten Dolmetschers die Amtshandlung durchgeführt werden soll. Damit wird auch dem Grundsatz der Sparsamkeit entsprochen.
Hinsichtlich der beizuziehenden Dolmetscher verfolgt der vorliegende Entwurf die Linie, die der geltende Wortlaut des AVG hinsichtlich der Amtssachverständigen und nicht amtlichen Sachverständigen vorzeigt. Grundsätzlich sollen die der Behörde beizugebenden oder ihr zur Verfügung stehenden Dolmetscher (Amtsdolmetscher) herangezogen werden; nur dann, wenn ein solcher nicht zur Verfügung steht, soll die Möglichkeit gegeben sein, eine geeignete Person heranzuziehen.
Die Dolmetscher werden wie die Sachverständigen behandelt, weshalb die §§ 52 Abs. 2 und 53 für anwendbar erklärt werden.
Hinsichtlich der Kosten für den Dolmetscher ist auf Z. 16 des Entwurfes und die Erläuterungen dazu zu verweisen.
Durch diese Regelungen werden die besonderen Vorschriften des V. Abschnittes des Volksgruppengesetzes, BGBl. Nr. 396/1976, nicht berührt; dieses ist vielmehr als lex specialis anzusehen."
22 Spätere (im gegebenen Zusammenhang nicht relevante) Änderungen, die zum nunmehr geltenden Wortlaut führten, betrafen Erleichterungen für die Beiziehung nichtamtlicher Dolmetscher - durch die sinngemäße Anwendung der (geänderten) Regelungen nach § 52 AVG betreffend Sachverständige - (vgl. die Novelle BGBl. Nr. 471/1995) bzw. die Ersetzung des früheren Wortlauts "taubstumm, taub oder stumm" (idF der Novelle BGBl. Nr. 199/1982) durch die Wendung "stumm, gehörlos oder hochgradig hörbehindert" (vgl. die Novelle BGBl. I Nr. 5/2008).
23 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass § 39a AVG einen Rechtsanspruch auf Beistellen eines Dolmetschers nur im mündlichen Verkehr zwischen der Behörde und den Parteien begründet, jedoch kein Anspruch auf Verwendung einer fremden Sprache im schriftlichen Verkehr mit der Behörde besteht, es sei denn, es ist eine weitere Sprache als Amtssprache zugelassen (vgl. VwGH 14.5.2014, 2012/06/0226, mwN). Zu der in der Revision aufgeworfenen Frage, ob - gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen - bei einer Befragung der Partei im Rahmen einer Befundaufnahme durch einen Sachverständigen ein Dolmetscher beizuziehen ist, hat sich der Verwaltungsgerichtshof bislang - soweit ersichtlich - nicht geäußert.
24 Der - für die Auslegung primär maßgebliche - Wortlaut des § 39a AVG ist offen für eine Auslegung dahin, dass gegebenenfalls auch bei der Befragung einer der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Person durch einen Sachverständigen bei der Befundaufnahme ein Dolmetscher beizuziehen ist, zumal er den Anwendungsbereich der Regelung nicht auf Vernehmungen (unmittelbar) durch die Behörde einschränkt.
25 Der erkennbare Zweck der Regelung und ihr systematischer Kontext verlangen aber auch ein solches Verständnis:
26 Die (oben wiedergegebenen) Materialien sprechen den entscheidenden Gesichtspunkt für die Neuregelung (durch Einfügung des § 39a AVG) an, nämlich Rechtsschutzerfordernisse; es entspräche "nicht dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit eines Verfahrens (fair trial), sprachunkundigen Personen keinen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen".
27 Primärer Zweck des Ermittlungsverfahrens ist regelmäßig nach dem Grundsatz des § 37 AVG, an dem sich die Auslegung der folgenden Bestimmungen insoweit zu orientieren hat, die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts. Verlangt dessen Feststellung die Befragung einer Partei oder einer sonstigen zu vernehmenden Person, ist "erforderlichenfalls" (wenn also der Betreffende der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig ist) ein Dolmetscher zur Befragung beizuziehen. Schon die Stellung des § 39a AVG im (einleitenden) 1. Abschnitt des das Ermittlungsverfahren regelnden II. Teils des AVG, also noch vor den im 2. Abschnitt getroffenen Einzelregelungen über die Beweise, legt nahe, die Anwendbarkeit dieser Bestimmung nicht auf einzelne Beweismittel zu beschränken (vgl. VwGH 19.3.2003, 98/08/0028, wonach dem Kreis der "zu vernehmenden Personen" iSd § 39a AVG auch von der Behörde im Rahmen der Beweisaufnahme als Zeugen einzuvernehmende Personen zuzuzählen sind).
28 Hinzu tritt Folgendes: Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann "notwendig" iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das Verwaltungsorgan selbst nicht verfügt; der Sachverständige ist derart also "Hilfsorgan" des erkennenden Verwaltungsorgans (vgl. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I, 2. Auflage, E 141 zu § 52 AVG). Kann sich der Sachverständige bei seiner Gutachtenserstattung nicht auf schon aktenkundige Umstände stützen, sondern hat er selbst erst - im Rahmen einer Befundaufnahme - die entscheidenden Tatsachen zu erheben, auf Grund derer er dann das eigentliche Gutachten abgibt, sind die gleichen Aspekte, die bei einer unmittelbar durch die Behörde durchzuführenden Vernehmung gegebenenfalls die Beiziehung eines Dolmetschers erfordern, auch hier maßgeblich: Eine solche Beiziehung ist erforderlich, wenn der zu Vernehmende nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, um verlässlich die an ihn gerichteten Fragen zu verstehen und sie zweckentsprechend beantworten zu können (vgl. VwGH 19.2.2003, 99/08/0146). Gerade dann, wenn den Angaben des im Rahmen der Befundaufnahme durch den Sachverständigen zu Vernehmenden entscheidende Bedeutung zukommt, weil der aufzunehmende Befund Grundlage für das zu erstattende Gutachten ist, beeinträchtigen nämlich allfällige Verständigungsprobleme die Verlässlichkeit eines entscheidenden Beweismittels und damit die Schlüssigkeit der Beweiswürdigung.
29 Dies bedeutet, dass "erforderlichenfalls" auch bei einer Befragung im Rahmen einer Befundaufnahme durch einen Sachverständigen ein Dolmetscher beizuziehen ist, um dem Gebot des § 39a AVG, dessen Befolgung für ein mängelfreies Verfahren unabdingbar ist, zu entsprechen.
30 Liegen der erkennenden Behörde also Anhaltspunkte dafür vor, dass eine zu vernehmende Person der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig ist, hat sie dem nachzugehen und weitere Ermittlungen in dieser Richtung anzustellen (vgl. VwGH 8.11.2016, Ra 2016/09/0098). Je nach dem Ergebnis dieser Ermittlungen hat sie die Beiziehung eines Dolmetschers - auch im Rahmen der Befundaufnahme durch einen Sachverständigen - zu veranlassen, oder, falls sie dies nicht für erforderlich hält und demgemäß davon Abstand nimmt, schlüssig zu begründen, warum die Beiziehung eines Dolmetsch (ungeachtet der gegebenen Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit seiner Beiziehung) nicht notwendig sei.
31 Nichts anderes gilt für das Verfahren vor dem - sei es im Wege einer Beschwerde gegen einen behördlichen Bescheid oder aufgrund einer Säumnisbeschwerde angerufenen - Verwaltungsgericht (§ 17 VwGVG). Auch dieses trifft also die Verpflichtung, gegebenenfalls für die erforderliche Beiziehung eines Dolmetschers Sorge zu tragen.
32 Vor diesem Hintergrund kommt der Verfahrensrüge der Revision, das Verwaltungsgericht habe nicht für die erforderliche Beiziehung eines Dolmetschers gesorgt, Berechtigung zu. Die Revision macht in diesem Zusammenhang geltend, dem Verwaltungsgericht habe aufgrund zahlreicher Telefonate mit der Revisionswerberin und deren englischsprachigen Eingaben klar sein müssen, dass diese der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtig sei und insbesondere juristisches und medizinisches Fachvokabular nicht verstehe. Sie verweist dazu zudem auf Passagen in den vorliegenden Gutachten, wonach die Revisionswerberin bei der Befundaufnahme auf eine Kommunikation auf Englisch gedrängt habe, dennoch sei sie von den Sachverständigen "gezwungen worden", ihre Leiden in einer anderen Sprache als ihrer Muttersprache wiederzugeben. Damit fehle es an der erforderlichen Gewissheit, dass sie die an sie gestellten Fragen richtig verstehen und beantworten habe können.
33 Die Revision zeigt damit einen relevanten Verfahrensmangel auf: Dem Verwaltungsgericht lagen der Aktenlage nach (etwa:
zahlreiche englischsprachige Eingaben der Revisionswerberin, wobei in der vom 9.9.2014 ausdrücklich das Erfordernis der Beiziehung eines "suitable translator", also eines geeigneten Übersetzers, angesprochen wurde; die von der Revision ins Treffen geführten Passagen der Gutachten) zumindest Anhaltspunkte dafür vor, dass die Revisionswerberin der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sei. Vor diesem Hintergrund konnte das Verwaltungsgericht nicht ohne weiteres Gewissheit haben, dass die Revisionswerberin die bei der Befundaufnahme an sie gerichteten Fragen verstehen und beantworten konnte. Nach dem Gesagten wäre es also dazu verhalten gewesen, dem nachzugehen und gegebenenfalls für die Beiziehung eines Dolmetschers zu sorgen. Dies hat es unterlassen, ohne auch nur ansatzweise zu begründen, warum eine solche Beiziehung nicht notwendig sei.
34 Zu diesem Verfahrensmangel tritt ein weiterer, von der Revision mit Recht gerügter: Wie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 27.4.2015, Ra 2015/11/0004, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ausgeführt hat, besteht im Verfahren über Ansprüche nach dem VOG grundsätzlich Verhandlungspflicht. Es ist evident, dass die Durchführung einer - im vorliegenden Fall unterbliebenen - mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG zu einer weiteren Klärung der Rechtssache und zu einem für die Revisionswerberin allenfalls günstigeren Ergebnis hätte führen können.
35 Nach dem Gesagten war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
36 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung.
Wien, am 23. November 2017
Schlagworte
Sachverhalt SachverhaltsfeststellungAuslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016110160.L00Im RIS seit
20.12.2017Zuletzt aktualisiert am
18.06.2018