RS Vfgh 2017/11/29 G94/2017 (G94/2017-13)

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Veröffentlicht am 29.11.2017
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Index

32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
FinStrG §53, §265 Abs1p
EMRK Art7
EU-Grundrechte-Charta Art49

Leitsatz

Verstoß einer Übergangsvorschrift über die Weitergeltung der vor Erhöhung durch die Finanzstrafgesetz-Novelle 2010 zuständigkeitsbestimmenden Wertgrenzen für bei Staatsanwaltschaften und Gerichten anhängige Verfahren gegen das Gebot der Gewährung des Vorteils des milderen Strafgesetzes nach der EMRK; keine bloße Zuständigkeitsverschiebung, sondern Veränderung des materiell-rechtlichen Charakters der Finanzvergehen

Rechtssatz

Zulässigkeit des Parteiantrags auf Aufhebung des vorletzten Satzes des §265 Abs1p FinStrG idF BGBl I 104/2010.

Aufhebungsumfang nicht zu eng gewählt.

Nach Aufhebung des vorletzten Satzes des §265 Abs1p FinStrG würde keine Übergangsbestimmung mehr gelten, was zur Anwendung der derzeit idF BGBl I 104/2010 geltenden Fassung des §53 FinStrG auf am 01.01.2011 anhängig gewesene Verfahren und daher auch auf den Anlassfall führte.

Da sich das Landesgericht Eisenstadt zur Begründung seiner Zuständigkeit auf §265 Abs1p vorletzter Satz FinStrG idF BGBl I 104/2010 beruft, ist auch von der Präjudizialität der angefochtenen Bestimmung auszugehen.

Aufhebung der angefochtenen Regelung wegen Verstoßes gegen Art7 EMRK.

Der VfGH geht in seiner Rechtsprechung (vgl VfSlg 19628/2012) von jenem Inhalt des Art7 EMRK aus, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesem zuletzt beigelegt hat. Im Lichte dessen gebietet es Art7 EMRK, bei Änderung der Rechtslage nach Begehung der Straftat die für den Angeklagten mildere Strafe zu verhängen.

Da die Regeln des Art7 EMRK über die Rückwirkung nur auf Bestimmungen anwendbar sind, die Straftaten und die jeweils drohenden Strafen festlegen, während verfahrensrechtliche Strafbestimmungen, die keinen materiell-strafrechtlichen Inhalt aufweisen, nicht vom Schutzbereich des Art7 EMRK erfasst sind, ist im vorliegenden Fall entscheidend, ob die angefochtene Regelung des §265 Abs1p vorletzter Satz FinStrG (letztlich) als eine Bestimmung des materiellen Strafrechts zu qualifizieren ist. Dies ist zu bejahren.

Bei der den Prüfungsgegenstand bildenden Anordnung des §265 Abs1p vorletzter Satz FinStrG handelt es sich zwar um eine Übergangsvorschrift, die für am 01.01.2011 anhängige Verfahren die Weitergeltung der bisherigen Zuständigkeitsgrenzen des §53 (und des §58 Abs2) FinstrG und damit den Fortbestand der bis dahin maßgeblich gewesenen Zuständigkeit für bei Staatsanwaltschaften und Gerichten (sowie bei Spruchsenaten) anhängige Verfahren festlegt; sie ist aber vor dem Hintergrund jener (novellierten) Bestimmungen des FinStrG zu beurteilen, deren Übergang sie regelt. Durch die davon erfasste Vorschrift des §53 FinStrG wird die Zuständigkeit der Gerichte von jener der Verwaltungsbehörden zur Ahndung von Finanzvergehen (ua) nach dem strafbestimmenden Wertbetrag abgegrenzt.

Da es bei der Abgrenzung der gerichtlichen von der finanzstrafbehördlichen Zuständigkeit nicht um eine Frage der prozessualen (sachlichen, funktionellen oder örtlichen) Kompetenz (eines bestimmten Gerichtes oder gerichtlichen Spruchkörpers), sondern um die gerichtliche Strafbarkeit bestimmter (Finanz-) Delikte überhaupt geht, somit im Ergebnis um eine Frage des materiellen Strafrechts, beinhaltet §53 iVm §265 Abs1p vorletzter Satz FinStrG nicht bloß eine im Kontext mit dem materiellen Recht stehende Zuständigkeitsregelung; vielmehr ist diese mit Blick auf ihre Konsequenzen (jedenfalls auch) als materielle Vorschrift zu verstehen.

Bei gebotener Berücksichtigung der Gesamtauswirkungen der in Rede stehenden Übergangsregelung zeigt sich nämlich, dass die Fortschreibung der gerichtlichen Ahndung bestimmter Finanzvergehen im Vergleich zur Ahndung durch Finanzbehörden für den Verurteilten gravierende Nachteile bringt.

Da mit der Anhebung der für die gerichtliche Zuständigkeit maßgeblichen Wertbeträge nicht bloß eine Zuständigkeitsverschiebung hinsichtlich der Ahndung von Finanzvergehen bewirkt, sondern der materiell-rechtliche Charakter der Finanzvergehen einschließlich aller daraus resultierenden Schranken und Wirkungen, insbesondere in Bezug auf die Höhe der - zulässigerweise - zu verhängenden Freiheitsstrafe verändert wird, steht die angefochtene Übergangsvorschrift des §265 Abs1p vorletzter Satz FinStrG der Gewährung des Vorteils des milderen Strafgesetzes entgegen; sie verstößt daher gegen Art7 EMRK.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Finanzstrafrecht, Finanzverfahren, Übergangsbestimmung, Strafrecht, Günstigkeitsprinzip, Gericht Zuständigkeit, Behördenzuständigkeit, Gericht Zuständigkeit - Abgrenzung von Verwaltung, VfGH / Parteiantrag, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Präjudizialität

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:G94.2017

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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