Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gabriele Griehsel (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. April 2017, GZ 12 Rs 22/17t-39, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgericht vom 23. November 2016, GZ 18 Cgs 34/15m-34, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger ist am 16. 6. 1984 geboren. Er absolvierte eine Lehre zum Sanitär- und Klimatechniker, die er im Juli 2003 abschloss. Er bezog eine vom 1. 8. 2011 bis zum 31. 10. 2014 befristete Invaliditätspension von der Beklagten. Zwischen den Parteien ist nicht strittig, dass der Kläger Berufsschutz genießt, und dass er als dauerhaft invalid anzusehen ist.
Der Kläger ist ungeachtet seines eingeschränkten medizinischen Leistungskalküls aufgrund seiner kognitiven und intellektuellen Leistungsfähigkeit für eine Umschulung zum Bürokaufmann oder technischen Zeichner sowie die uneingeschränkte Berufsausübung in diesen Berufsfeldern geeignet. Infolge eines von der Beklagten durchgeführten Berufsfindungsverfahrens begann der Kläger am 28. 9. 2015 die Umschulung zum Bürokaufmann, die er jedoch am 19. 11. 2015 – krank gemeldet – abbrach.
Dem Kläger ist die Teilnahme an einem Kurs in der Dauer von sechs bis acht Stunden pro Tag mit normalen Arbeitspausen möglich. Aufgrund des Alters, der sehr hohen Arbeitsmotivation, der intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie der bisherigen Vorkenntnisse des Klägers besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dahingehend, dass der Kläger nach Abschluss einer einschlägigen Ausbildung innerhalb von drei bis sechs Monaten vermittelt werden kann.
Eine längerfristige Reintegration in den Arbeitsmarkt als Bürokaufmann oder technischer Zeichner ist mit einer Wahrscheinlichkeit von zumindest 50 % und höchstens 75 % zu erwarten. Der Kläger ist zumindest für die Hälfte der Restarbeitszeit bis zum Pensionsantrittsalter integrierbar. Der Kläger präferiert den Beruf Bürokaufmann; in zweiter Linie möchte er sich zum technischen Zeichner umschulen lassen.
Mit Bescheid vom 24. 4. 2015 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 25. 7. 2014, ihm eine Invaliditätspension über den 31. 10. 2014 hinaus weiter zu gewähren, ab und sprach aus, dass beim Kläger weiterhin vorübergehende Invalidität vorliege. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zum Bürokaufmann oder technischen Zeichner seien zweckmäßig und dem Kläger auch zumutbar. Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig.
Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Invaliditätspension über den 31. 10. 2014 hinaus; hilfsweise begehrt er, ihm eine „konkrete berufliche Rehabilitationsmaßnahme samt Umschulungsgeld zu gewähren, die den gesetzlichen Anforderungen entspricht“. Der Kläger sei dauerhaft invalid. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht geeignet, die Invalidität des Klägers zu beseitigen und seine Wiedereingliederung auf dem Arbeitsmarkt auf Dauer sicherzustellen.
Die Beklagte wandte dagegen ein, dass der Kläger durch berufliche Maßnahmen der Rehabilitation dauerhaft in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden könne. Eine Umschulung zum Bürokaufmann oder zum technischen Zeichner sei zweckmäßig und dem Kläger zumutbar.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension über den 31. 10. 2014 hinaus ab. Es sprach weiters aus, dass der Kläger Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation in den Berufsfeldern Bürokaufmann und technischer Zeichner habe. Diese Maßnahmen seien zweckmäßig und zumutbar. Dem Kläger komme Berufsschutz zu. Invalidität liege bei ihm dauerhaft vor. Nicht erfüllt sei jedoch die negative Anspruchsvoraussetzung des § 254 Abs 1 Z 2 ASVG, weil der Kläger in die Berufe des Bürokaufmanns und technischen Zeichners umschulbar sei und er eine realistische Chance habe, nach Ende der Umschulung in seinem neuen Beruf voraussichtlich einen Arbeitsplatz zu finden. Ein Rechtsanspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation und damit verbunden Umschulungsgeld bestehe für nach dem 1. 1. 1964 geborene Versicherte gegenüber dem Arbeitsmarktservice aus der Arbeitslosenversicherung bei „berufungsgeschützten“ Tätigkeiten, nicht aber nach der hier anzuwendenden Rechtslage gegenüber der Beklagten.
Das Berufungsgericht gab der vom Kläger gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Damit – im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 – eine berufliche Maßnahme zweckmäßig im Sinn des § 303 Abs 2 ASVG sei, müsse eine realistische Chance bestehen, dass der konkret Umgeschulte nach dem Ende der Umschulung im neuen Beruf voraussichtlich – im Sinn einer hohen Wahrscheinlichkeit – einen neuen Arbeitsplatz findet, ohne dass das Arbeitsplatzrisiko des nicht mehr voll Arbeitsfähigen zur Gänze auf die Pensionsversicherung verlagert werden dürfe. Die Behauptungs- und Beweislast treffe auch für das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung des § 254 Abs 1 Z 2 ASVG den Versicherten. Bestehe – wie hier – eine Bandbreite der rechtlichen Beurteilung, sei der für die beweisbelastete Partei ungünstigere Wert zugrundezulegen. Im vorliegenden Fall sei daher von einer – ausreichend hohen – Wahrscheinlichkeit von 75 % für eine dauerhafte Reintegration auf dem Arbeitsmarkt auszugehen. Aus der Feststellung, dass der Kläger zumindest für die Hälfte der Restarbeitszeit bis zum Pensionsantrittsalter integrierbar sei, könne nicht gefolgert werden, dass der Kläger nur für etwa 15 der zwischen dem Abschluss der beruflichen Maßnahme der Rehabilitation und dem Pensionsantrittsalter von 65 Jahren liegenden 30 Jahre am Arbeitsmarkt integrierbar sei.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Beweislastverteilung im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit von beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation fehle.
Gegen dieses Urteil richtet sich die – von der Beklagten nicht beantwortete – Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung der Klage anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
Wie bereits in der Berufung bekämpft der Kläger auch in seiner Revision lediglich die Annahme einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit der Sicherstellung der Eingliederung in den Arbeitsmarkt durch berufliche Maßnahmen der Rehabilitation durch die Vorinstanzen. Die Beweislast für das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG treffe die Beklagte. Ein Prozentsatz von lediglich 50 % sei für das Vorliegen einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend. Das Gericht habe seine Feststellungen materiell zu begründen; Prozentsätze würden dafür, wie sich aus der Entscheidung 10 ObS 29/17p ergebe, nicht genügen.
1.1 Auf den Kläger, der das 50. Lebensjahr vor dem 1. 1. 2014 noch nicht vollendet hatte, ist, worüber zwischen den Parteien auch Einigkeit besteht, mit Auslaufen der befristeten Invaliditätspension am 31. 10. 2014 die Rechtslage nach dem SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, anwendbar. Ein Anspruch auf Invaliditätspension besteht daher nach § 254 Abs 1 ASVG (idF vor dem SVÄG 2016, BGBl I 2017/29) – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – nur mehr dann, wenn Invalidität (§ 255 ASVG) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands voraussichtlich dauerhaft vorliegt und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig (§ 303 Abs 3 ASVG idF vor dem SVÄG 2017, BGBl I 2017/38) oder nicht zumutbar (§ 303 Abs 4 ASVG idF vor dem SVÄG 2017, BGBl I 2017/38) sind.
1.2 Im gerichtlichen Verfahren stellte die Beklagte außer Streit, dass beim Kläger dauerhafte Invalidität vorliegt. Stellt sich erst im sozialgerichtlichen Verfahren die dauernde Invalidität heraus, muss das Sozialgericht von Amts wegen das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 Z 2 ASVG (ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind) prüfen, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Invaliditätspension erfüllt sind (10 ObS 107/12a, SSV-NF 27/9; 10 ObS 54/16p; 10 ObS 52/16v; 10 ObS 107/16g; 10 ObS 139/16p). An den zu 10 ObS 107/12a, SSV-NF 27/9, festgehaltenen Verfahrensgrundsätzen ist auch im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 festzuhalten (10 ObS 52/16v).
2.1 Als zweckmäßig werden Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation dann anzusehen sein, wenn – wie sich aus der Verweisung auf § 303 Abs 3 ASVG ergibt – die Schulungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen ausreichend und zweckmäßig sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten; sie müssen jedenfalls „erfolgversprechend“ sein.
2.2 Während es bei der Frage der Zweckmäßigkeit um die „objektive“ Seite geht, geht es bei der Frage der Zumutbarkeit von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation kraft Verweisung auf § 303 Abs 4 ASVG um die „subjektive“ Seite. Maßgebend ist die physische und die psychische Eignung der versicherten Person, deren bisherige Tätigkeit, Dauer und Umfang der bisherigen Ausbildung, das Alter, der Gesundheitszustand etc (10 ObS 139/16p).
2.3 Richtig hat das Berufungsgericht die Rechtsprechung wiedergegeben, wonach bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer beruflichen Rehabilitation im Einzelfall zu prüfen ist, ob der Versicherte eine realistische Chance hat, nach Ende der Umschulung im neuen Beruf voraussichtlich einen Arbeitsplatz zu finden (RIS-Justiz RS0113667 [T1]).
2.4 In der – erst nach der Entscheidung des Berufungsgerichts veröffentlichten – Entscheidung 10 ObS 29/17p hat der Oberste Gerichtshof diese bereits auf die Entscheidung 10 ObS 49/00d, SSV-NF 14/44, zurückgehende Rechtsprechung für den Anwendungsbereich des SRÄG 2012 wie folgt fortgeschrieben:
„4. … Auch im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 verlangen Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nach § 303 Abs 2 ASVG (nur), dass der Versicherte im umgeschulten Beruf eine realistische Chance hat, einen Arbeitsplatz zu finden. Dass der Versicherte nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme tatsächlich einen Arbeitsplatz erlangt und einen solchen für sein restliches Berufsleben (bis zum Pensionsantritt) innehat, bildet hingegen keine (negative) Anspruchsvoraussetzung. Ein andersartiges Verständnis kann dem Gesetzgeber im Hinblick darauf, dass der Arbeitsmarkt durch ein hohes Maß an Veränderungen geprägt ist, nicht unterstellt werden. „Auf Dauer sichergestellt“ iSd § 303 Abs 2 ASVG ist eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt demnach (bereits) dann, wenn nach einem etwaigen Verlust des Arbeitsplatzes die Berufstätigkeit, zu der die Umschulung erfolgt ist, am Arbeitsmarkt regelmäßig nachgefragt wird bzw weiterhin die grundsätzliche Chance besteht, sich am Arbeitsmarkt im umgelernten Beruf zu behaupten. …“
3.1 Damit kommt es aber entgegen den Ausführungen in der Revision im vorliegenden Fall weder darauf an, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine „längerfristige Reintegration“ des Klägers in den Arbeitsmarkt als Bürokaufmann oder technischer Zeichner zu erwarten ist, noch darauf, wie weit der Kläger für „den Rest“ seiner Arbeitszeit bis zu seinem Pensionsantritt in den Arbeitsmarkt eingliederbar ist. Es bedarf daher auch keiner näheren Auseinandersetzung mit der vom Revisionsverfahren thematisierten Frage, ob eine „Wahrscheinlichkeit von zumindest 50 % und höchstens 75 %“ für die längerfristige Reintegration in den Arbeitsmarkt den Anforderungen des Beweisverfahrens der Zivilprozessordnung entspricht (zur Untauglichkeit von Prozentsätzen im Sinn einer „objektiven Beweismaßtheorie“ in einem Fall wie dem vorliegenden vgl 10 ObS 29/17p).
3.2 Wesentlich ist nach den dargestellten Grundsätzen vielmehr allein, ob der Kläger im umgeschulten Beruf eine realistische Chance hat, einen Arbeitsplatz zu finden. Dies ist hier aber nach den – unangefochtenen – Feststellungen der Fall, weil der Kläger nach Abschluss der von der Beklagten angebotenen Ausbildung mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei bis sechs Monaten auf einen Arbeitsplatz vermittelt werden kann. Lediglich der Vollständigkeit halber ist auszuführen, dass das Erstgericht diese Feststellung in seiner Beweiswürdigung entgegen den Ausführungen in der Revision nicht bloß mit einem Verweis auf „Prozentsätze“ begründet, sondern darlegt, aus welchen Gründen beim Kläger eine „sehr hohe Vermittlungswahrscheinlichkeit“ besteht (vgl zum Regelbeweismaß der Zivilprozessordnung RIS-Justiz RS0110701). Es bedarf daher im vorliegenden Fall keiner weiteren Auseinandersetzung mit der vom Berufungsgericht als erheblich bezeichneten Rechtsfrage.
Der Revision war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage (RIS-Justiz RS0085829 [T1]).
Textnummer
E120099European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00079.17S.1114.000Im RIS seit
15.12.2017Zuletzt aktualisiert am
08.08.2019