Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gabriele Griehsel (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Mag. Dr. Johann Etienne Korab, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Aufrechnung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. August 2017, GZ 10 Rs 37/17k-13, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die nach Beendigung des Abschöpfungsverfahrens erteilte Restschuldbefreiung (§ 213 Abs 1 Z 1 KO) zum Erlöschen der für die Aufrechnung nach § 103 ASVG herangezogenen Forderung an rückständigen Sozialversicherungsbeiträgen führt, wenn die Aufrechnung nur den unpfändbaren Teil des Pensionsbezugs betrifft.
Mit Bescheid der beklagten Partei vom 22. 9. 2016 wurde der Antrag des Klägers auf Einstellung der Aufrechnung seiner rückständigen Beitragsschuld von 30.450,75 EUR zu Gunsten der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft sowie auf Rückerstattung der aus diesem Titel seit Februar 2012 (des Zeitpunkts der Erteilung der Restschuldbefreiung) bezahlten Beträge abgewiesen.
Der Kläger begehrt mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage die Feststellung der Unzulässigkeit der Aufrechnung sowie den Rückersatz der seit Februar 2012 einbehaltenen Raten von monatlich 80 EUR. Die erteilte Restschuldbefreiung erfasse auch die Forderung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, zu deren Hereinbringung die Aufrechnung gemäß § 103 ASVG angeordnet worden sei.
Die beklagte Partei bestritt und wendete ein, die von ihr erklärte Aufrechnung habe nur den unpfändbaren Teil der Pensionseinkünfte des Klägers betroffen, der nicht zur Konkursmasse gehöre und der durch das Schuldenregulierungsverfahren nicht tangiert werde.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dabei ging es – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – von folgendem Sachverhalt aus:
2003 war über das Vermögen des Klägers das Schuldenregulierungsverfahren eröffnet worden. Die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft meldete in diesem Verfahren eine Forderung für rückständige Beiträge in Höhe von 30.787,40 EUR an. 2005 wurde das Schuldenregulierungsverfahren nach rechtskräftiger Einleitung des Abschöpfungsverfahrens aufgehoben. Mit Bescheid der beklagten Partei vom 15. 9. 2009 sprach die beklagte Partei aus, dass auf die Pension des Klägers die offene Forderung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft an Beiträgen zur Sozialversicherung in Höhe von 30.450,75 EUR ab dem 1. 1. 2009 gemäß § 103 Abs 1 Z 1 ASVG aufgerechnet wird. Die mittels dieses Bescheids vorgenommene Aufrechnungserklärung nach § 103 ASVG betraf ausschließlich den unpfändbaren Teil der Pensionsbezüge des Klägers. Die dagegen erhobene Klage wurde mit rechtskräftigem Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 11. 5. 2010, GZ 3 Cgs 311/09k abgewiesen. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 10. 2. 2012 wurde das Abschöpfungsverfahren beendet und die Restschuldbefreiung erteilt. Nach der Restschuldbefreiung verfügt der Kläger wieder über eine Nettopension von 1.466,10 EUR, von der – gemäß dem Bescheid der beklagten Partei vom 15. 9. 2009 – ein monatlicher Betrag von 80 EUR aufrechnungsweise abgezogen wird.
Rechtlich ging das Erstgericht zusammengefasst davon aus, dass die Forderung der beklagten Partei auf rückständige Sozialversicherungsbeiträge auch nach Beendigung des Abschöpfungsverfahrens und Restschuldbefreiung bestehen bleibe und eine Aufrechnung in vollem Umfang weiterhin möglich sei.
Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Seien durch die Aufrechnung nach § 103 ASVG ausschließlich unpfändbare Bezüge bzw Bezugsteile betroffen, werde die Aufrechnungsbefugnis durch das Schuldenregulierungs-verfahren nicht tangiert. Dies gelte auch, wenn das Schuldenregulierungsverfahren – wie im vorliegenden Fall – zu einem vor dem Aufrechnungsbescheid liegenden Zeitpunkt eröffnet worden sei. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision des Klägers ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung als unzulässig zurückzuweisen.
1.1 Gemäß § 273 Abs 1 IO sind die Änderungen dieses Bundesgesetzes durch das IRÄG 2010 BGBl I 2010/29 mit 1. 7. 2010 in Kraft getreten und haben – soweit die folgenden Absätze nichts anderes bestimmen – auf Insolvenzverfahren (Konkursverfahren, Sanierungsverfahren) Anwendung zu finden, die nach dem 30. 6. 2010 eröffnet oder wieder aufgenommen (§ 158 Abs 2 IO) werden.
1.2 Angesichts der eingangs festgehaltenen Verfahrensdaten sind im Schuldenregulierungsverfahren des Klägers materiell noch die Bestimmungen der KO anzuwenden (8 Ob 64/11m). Mangels Anwendbarkeit der materiell-rechtlichen Änderungen der Konkursordnung durch das IRÄG 2010 ist daher auf die Terminologie der KO zurückzugreifen (vgl 8 Ob 126/10b).
2.1 Pensionsbezüge des Schuldners sind in dem nach der EO pfändbaren Ausmaß (§ 290a Abs 1 Z 4 EO) Massebestandteile. Hingegen gehört der unpfändbare Teil der Pensionsbezüge zwecks Sicherung eines gewissen Mindesteinkommens von vornherein nicht zur Konkursmasse.
2.2 Die durch § 1 KO verfügte Spaltung des Schuldnervermögens in die Konkursmasse einerseits und das konkursfreie Vermögen andererseits gilt auch im Schuldenregulierungsverfahren (RIS-Justiz RS0107924; RS0063790).
3. Zur Aufrechnung gegen zum konkursunterworfenen Vermögen zu zählende Forderungen hat der Oberste Gerichtshof zur Frage, ob einem Insolvenzgläubiger nach rechtskräftiger Bestätigung des Sanierungsplans und Aufhebung des Insolvenzverfahrens die volle Aufrechnungsbefugnis zusteht oder er nur mehr mit der Sanierungsplanquote der Forderung aufrechnen kann, nunmehr dahin Stellung genommen, dass der Insolvenzgläubiger, der von der gesetzlichen Möglichkeit, während des Insolvenzverfahrens gemäß § 19 Abs 1 IO aufzurechnen, keinen Gebrauch gemacht hat, regelmäßig nur mehr mit der Sanierungsplanquote seiner Forderung aufrechnen kann (6 Ob 179/14p verst Senat).
4.1 Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist eine Aufrechnung nach § 103 ASVG. Diese räumt dem Versicherungsträger die Möglichkeit ein, auf die von ihm zu erbringenden Geldleistungen ua fällige, nicht verjährte Beitragsrückstände aufzurechnen (§ 103 Abs 1 Z 1 ASVG). Die Aufrechnungsbefugnis nach § 103 ASVG gibt dem Sozialversicherungsträger zugunsten seiner Konkursforderung somit eine zusätzliche Befriedigungsmöglichkeit und verleiht ihm eine Deckung, die einem Absonderungsrecht (§ 19 Abs 1 KO) vergleichbar ist (10 ObS 233/02s, SSV-NF 16/138).
4.2 § 103 ASVG privilegiert den Sozialversicherungsträger aber nicht bloß konkursintern, sondern auch in Bezug auf das konkursfreie Vermögen. Da § 103 ASVG eine dem eigentlichen Exekutionsrecht vorrangige spezielle Norm ist, ist eine Aufrechnung nach § 103 ASVG auch in den pfändungsfreien Teil der Pensionsbezüge des Schuldners bis zu der in § 103 Abs 2 ASVG festgelegten Grenze zulässig (RIS-Justiz RS0013254, RS0110621).
5. Bleiben die unpfändbaren Teile der zu erbringenden Geldleistung (Pensionsleistung) konkursfrei, wird die Aufrechnungsbefugnis in diese unpfändbaren Bezugsteile daher weder durch die Eröffnung des Schuldenregulierungsverfahrens tangiert (10 ObS 54/11f, SSV-NF 25/99), noch gilt die Aufrechnungsbeschränkung des § 12a Abs 2 KO (10 ObS 233/02s, SSV-NF 16/138; RIS-Justiz RS0115709 [T2]; 10 ObS 152/01b). Auch die Verpflichtung zur Bekanntgabe von Aussonderungs- und Absonderungsrechten nach § 113a Abs 2 KO kommt nicht (analog) zur Anwendung (10 ObS 63/12f, SSV-NF 26/52; RIS-Justiz RS0107924 [T2]; Fellinger, SV-Komm § 103 ASVG Rz 30/2). Zusammenfassend sind für den Sozialversicherungsträger – soweit infolge der Aufrechnungsmöglichkeit der Beitragsrückstand gedeckt ist – die für „normale“ Konkursgläubiger geltenden Beschränkungen unbeachtlich (10 ObS 233/02s, SSV-NF 16/138).
6. Mit diesen Grundsätzen der Rechtsprechung steht die Ansicht der Vorinstanzen, die Forderung der beklagten Partei sowie die Aufrechnungsbefugnis bleibe nicht nur nach Eröffnung des Schuldenregulierungsverfahrens, sondern auch nach der – nach Beendigung des Abschöpfungsverfahrens erteilten – Restschuldbefreiung (§ 213 KO) bestehen, in Einklang:
6.1 Die Restschuldbefreiung befreit den Schuldner von dem noch offenen Teil der Konkursforderungen. Der von der Restschuldbefreiung erfasste Teil der Forderung wird eine Naturalobligation (§ 214 Abs 3 KO). Von den Wirkungen der Restschuldbefreiung ausgenommen sind die in § 215 KO erwähnten Forderungen (Verbindlichkeiten aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung und einer vorsätzlichen strafgesetzwidrigen Unterlassung sowie Verbindlichkeiten, die nur aus Verschulden des Schuldners unberücksichtigt geblieben sind). Voraussetzung für den Eintritt der schuldbefreienden Wirkung ist aber immer, dass es sich um eine Forderung eines Konkursgläubigers handelt. Andere Forderungen werden von der Restschuldbefreiung nicht erfasst.
6.2 Der beklagten Partei kommt im vorliegenden Fall eine Stellung als Konkursgläubigerin jedoch nicht zu, weil die von ihr abgegebene Aufrechnungserklärung nach § 103 ASVG zur Hereinbringung von Beitragsschulden aus der Zeit vor Eröffnung des Schuldenregulierungsverfahrens (unstrittig) ausschließlich den unpfändbaren – konkursfreien – Teil der Pensionsbezüge des Klägers betrifft. Für die Aufrechnung mit Beiträgen gegen den unpfändbaren – nicht konkursunterworfenen – Teil der Geldleistung kommen die Bestimmungen der Konkursordnung nicht zum Tragen (Derntl, Die Aufrechnung mit Beiträgen gemäß § 103 ASVG, 2. Teil, SozSi 2003, 308 [318]). Ist die Stellung der beklagten Partei in diesem Bereich nicht die einer Konkursgläubigerin, steht ihr die Aufrechnungsbefugnis weiter offen (Mohr, Privatkonkurs2 [2007], 53 und 125).
6.3 Eine Stellung als Konkursgläubigerin hätte die beklagte Partei nur im Bereich des ungedeckten Betrags (10 ObS 54/11f, SSV-NF 25/99 mwN); nur insofern könnte die Restschuldbefreiung nach § 215 KO wirken und träfen die in der Entscheidung 6 Ob 179/14p getroffenen Aussagen zur Aufrechnung nach Aufhebung des Konkursverfahrens zu.
7.1 Die Ansicht der Vorinstanzen, die von der beklagten Partei in den pfändungsfreien Pensionsteil aufgerechnete Forderung werde von den Wirkungen der Restschuldbefreiung nicht erfasst, gibt somit keinen Anlass für eine Korrektur durch den Obersten Gerichtshof.
7.2 Mit seinem Vorbringen, die gerichtliche Restschuldbefreiung sei ihrer Wirkung beraubt, indem der öffentlichen Hand weitergehender Schutz gewährt („Fiskalprivileg“) und die Intention des Gesetzgebers konterkariert werde, dem Schuldner einen Neustart zu ermöglichen, zeigt der Revisionswerber keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf. Nach ständiger Rechtsprechung schafft § 103 Abs 1 ASVG keine gleichheitswidrige und grundrechtswidrige Bevorzugung der Gläubigergruppe der Sozialversicherungs-träger (RIS-Justiz RS0110624).
Die außerordentliche Revision war daher zurückzuweisen.
Textnummer
E120075European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00128.17X.1114.000Im RIS seit
14.12.2017Zuletzt aktualisiert am
08.08.2019