Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Gitschthaler, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ä*****, vertreten durch Lansky Ganzger + Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei K*****-GmbH, *****, vertreten durch Schaffer Sternad Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Räumung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 24. Mai 2017, GZ 19 R 2/17f-37, womit das Urteil des Bezirksgerichts Mödling vom 31. Oktober 2016, GZ 28 C 48/14k-31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.
Text
Begründung:
Die Klägerin ist Eigentümerin von Liegenschaften, auf denen ein im Wesentlichen aus U-förmig angeordneten Hallen bestehendes Betriebsgebäude errichtet worden ist. Den Mittelteil des Gebäudes bildet eine zweigeschossige Halle, deren Erdgeschoss über eine Stiege mit der westlich benachbarten Halle verbunden ist. Das obere Geschoss der mittleren Halle ist Gegenstand dieses Rechtsstreits.
Die Klägerin begehrte die Räumung der im Obergeschoss der mittleren Halle befindlichen Lagerflächen. Die Beklagte sei nach dem am 8. November 2001 zwischen den Streitteilen geschlossenen Mietvertrag lediglich Mieterin der im damals zugrunde gelegten Plan rot markierten Flächen sowie der weiteren Freiflächen, die strittige Fläche im ersten Obergeschoss der Mittelhalle benütze die Beklagte hingegen titellos. Der strittige Lagerraum sei in den Plänen, die dem Mietvertrag angeschlossen worden seien, deutlich erkennbar, weil das konkrete Flächenausmaß händisch eingetragen worden sei. Die Räume seien über einen gesonderten Stiegenaufgang und Gangbereich erreichbar, ohne dass die unstrittig an die Beklagte vermietete Fläche berührt werde. Die Klägerin habe nach Wahrnehmung der titellosen Nutzung umgehend die Räumungsklage eingebracht. Aus ihrem Verhalten könne nicht geschlossen werden, dass die strittige Fläche vom Mietvertrag umfasst sei.
Die Beklagte beantragte nicht nur die Abweisung der Räumungsklage, sondern stellte darüber hinaus einen Zwischenantrag auf Feststellung, dass die strittige Fläche vom Mietvertrag vom 8. November 2001 umfasst sei. Sie wendete ein, die Parteien seien übereingekommen, dass der strittige Lagerraum auch vom Mietvertrag umfasst sein solle. Er sei Teil des Handelswarenlagers, das sich über Untergeschoss, Erdgeschoss und Obergeschoss erstrecke und Teil des zusammenhängenden Gesamtlagers sei, das durch eine einheitliche und zusammenhängende Förderanlage durchgehend miteinander verbunden sei. Der Rechtsvorgänger der Beklagten habe seinerzeit die Gesamteinrichtung einschließlich des Schienensystems erworben. Zwar sei auf dem Übersichtsplan zum Mietvertrag vom 8. November 2001 das strittige Lager nicht rot umrandet worden, das erkläre sich aber daraus, dass dieses Lager ohnedies Teil des Gesamtlagers gewesen sei. Auf dem Übersichtsplan sei das erste Obergeschoss höchst rudimentär dargestellt und das strittige Lager gar nicht erkennbar gewesen.
Das Erstgericht wies das Räumungsbegehren ab und gab dem Zwischenfeststellungsantrag der Beklagten statt. Es sah die strittige Lagerfläche im Obergeschoss des Mittelteils als mitgemietet an, weil es eine ergänzende Vertragsauslegung nach dem festgestellten hypothetischen Parteiwillen vornahm. Eine separate Nutzung des strittigen Lagers durch jemand anderen als die Beklagte sei bloß theoretisch, praktisch aber wegen der eingeschränkten Zugangsmöglichkeit nur sehr eingeschränkt möglich.
Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinn der Stattgebung des Räumungsbegehrens sowie der Abweisung des Zwischenfeststellungsantrags ab und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei. Es erachtete die von der Klägerin bekämpften Feststellungen des Erstgerichts über die vom Vertreter der Beklagten gegenüber der Klägerin erklärte Parteienabsicht beim Mietvertrag, über den hypothetischen Willen der Parteien beim Vertragsabschluss sowie über bestimmte Details des Gebäudes und seiner Darstellung in den dem Mietvertragsabschluss zugrunde liegenden Plänen als irrelevant und befasste sich daher mit der Tatsachenrüge nicht. Das Berufungsgericht beschränkte sich vielmehr auf die Auslegung des schriftlichen Mietvertrags samt den Einzeichnungen des Geschäftsführers der Beklagten. Diese seien eindeutig, eine Vertragslücke als Voraussetzung für eine ergänzende Vertragsauslegung bestehe daher nicht. Die Vertreter der Klägerin hätten die eindeutige Erklärung des Geschäftsführers der Beklagten aufgrund ihres Wissensstands nur dahin verstehen können/dürfen, dass eben nur die im Erdgeschoss befindliche Lagerfläche der Mittelhalle gemietet werden sollte und nicht auch die strittige Fläche im Obergeschoss. Im Hinblick auf die Unzulässigkeit der ergänzenden Vertragsauslegung seien die von der Klägerin bekämpften Feststellungen zur hypothetischen Parteienabsicht ebenso wie weitere bekämpfte Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten (Betretungs- und Nutzungsmöglichkeiten) sowie zur Erkennbarkeit der Fläche im Plan ohne Relevanz.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt, ist im Hinblick auf die korrekturbedürftige Vertragsauslegung des Berufungsgerichts zulässig und im Sinn des in jedem Abänderungsantrag implizit enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Zwischen den Parteien strittig und für die Berechtigung des Räumungsbegehrens und des auf das Bestehen eines Mietvertrags gerichteten Feststellungsbegehrens maßgeblich ist die Frage, ob vom zwischen den Streitteilen am 8. November 2001 geschlossenen Mietvertrag auch der oberhalb der Zwischendecke in der mittleren Halle des Gebäudekomplexes vorhandene Lagerraum umfasst ist.
Nach den erstgerichtlich getroffenen Feststellungen war es die auch den Vertretern der Klägerin bekanntgegebene Absicht des Geschäftsführers der Beklagten, sämtliche Lagerhallenflächen in einem bestimmten Bereich anzumieten. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt aber den auf beiden Seiten handelnden Personen nicht bewusst, dass die Mittelhalle des Gebäudekomplexes in zwei Geschosse geteilt war und der aufrecht zu erhaltende Betrieb der Beklagten beide Geschosse umfasste. Aufgrund der Pläne, die im Erdgeschoss die Mittelhalle als einheitlich mit der benachbarten Halle ausweisen und keinen Hinweis auf eine teilweise Zwischendecke enthalten, sowie der doppelt so hohen Ausführung der anderen Hallen gingen beide Seiten vielmehr davon aus, dass auch der mittlere Hallenbereich zweigeschossig ausgeführt war. Dass hier ein durch eine Zwischendecke baulich getrennter Raum bestand, wurde weder besprochen, noch war dies den Vertragschließenden auch nur bewusst. Wäre ihnen das bewusst gewesen, so die erstgerichtliche Sachverhaltsfeststellung, hätte der Geschäftsführer der Beklagten die Anmietung der weiteren nunmehr strittigen im Obergeschoss befindlichen Halle gewollt, die Vertreter der Klägerin wären damit auch einverstanden gewesen, und zwar auch zum vorweg festgelegten Gesamtmietzins. Darüber hinaus bestand ein von der Rechtsvorgängerin der Beklagten installiertes Warenbeförderungssystem, das auch den strittigen Bereich erschloss. Dieses war von der Beklagten mit sonstigem Inventar erworben worden und sollte auch weiter benützt werden. Es wurde von den Mitarbeitern der Beklagten, die auch die strittige Hallenfläche weiter nutzten, auch tatsächlich weiter benützt. In dem dem Mietvertragsabschluss zugrunde gelegten Plan ist die nunmehr strittige Fläche insoweit handschriftlich eingezeichnet, als dort eine Quadratmeterzahl angegeben ist. Die Zugänge sind nach den erstgerichtlichen Feststellungen „im Wesentlichen nicht ersichtlich – so ist der Zugang vom Aufzug nicht eingezeichnet, ebensowenig der Zugang zu einem bestimmten Büroraum“. Im Mietvertrag festgelegt wurde, dass die in dem bestimmten Plan rot umrandeten Flächen sowie Freiflächen und Parkplätze den Mietgegenstand bilden sollten. Die roten Einzeichnungen stammen vom Geschäftsführer der Beklagten und umfassen die strittige Fläche nicht.
Die Beklagte macht zu Recht geltend, die berufungsgerichtliche Vertragsauslegung, die ausschließlich die Einzeichnungen des Geschäftsführers der Beklagten in dem dem Mietvertrag zugrunde liegenden Plan anerkennt, stehe mit den Grundsätzen der Rechtsprechung zur Vertragsauslegung nicht im Einklang.
Nach § 914 ABGB ist bei der Auslegung von Verträgen vom Wortlaut ausgehend die Parteienabsicht
– unter Berücksichtigung der redlichen Verkehrsübung und unter Heranziehung des Parteienverhaltens und ihrer Erklärungen, gemessen am Empfängerhorizont – zu erforschen. Es ist also nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern die Absicht der Parteien zu erforschen und der Vertrag so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht. Es ist also nicht das, was schriftlich geäußert wurde, allein entscheidend (RIS-Justiz RS0017797, vgl RS0044358 [T49]). Die einfache Vertragsauslegung geht so weit, als der ermittelte Sinn im Wortlaut der Erklärung noch eine Stütze findet (RIS-Justiz RS0017797 [T6]; Bollenberger in KBB5 § 914 ABGB Rz 2 mwN).
Eine ergänzende Vertragsauslegung wird von der Rechtsprechung in zwei (nicht immer ganz scharf voneinander abgrenzbaren) Fällen vorgenommen: Einerseits ist der Vertrag zu ergänzen, wenn feststeht, dass der schriftliche Vertragsinhalt die Absicht der Parteien nicht richtig wiedergibt (RIS-Justiz RS0017791 [T2 = T4]; vgl auch RS0017865). Andererseits können nach Abschluss der Vereinbarung Problemfälle auftreten, die von den Parteien nicht bedacht und daher auch nicht ausdrücklich geregelt wurden. Wollten die Parteien in einem solchen Fall (allenfalls vorhandenes) dispositives Recht nicht angewendet wissen (oder erweist sich die gesetzliche Regelung für den konkreten Fall als unangemessen), ist von einer planwidrigen Unvollständigkeit des Vertrags (Vertragslücke) auszugehen. Dann ist ebenfalls im Rahmen ergänzender Vertragsauslegung zu prüfen, welche Lösung redliche und vernünftige Parteien für diesen Fall vereinbart hätten (RIS-Justiz RS0017758, RS0017890; vgl auch RS0017899).
Die vom Erstgericht getroffenen, von der Klägerin in ihrer Berufung aber bekämpften Feststellungen über die auch der Gegenseite mitgeteilte Absicht des Geschäftsführers der Beklagten können nur dahin verstanden werden, dass der Vertragswortlaut im Zusammenhalt mit der zugrunde gelegten Planeinzeichnung die der Gegenseite offen gelegte Parteienabsicht nicht richtig (nicht vollständig) wiedergibt. Unter dem übereinstimmend erklärten Parteiwillen ist der dem Erklärungsgegner erkennbare, redlicherweise zu unterstellende Geschäftszweck zu verstehen (2 Ob 253/08g). Wenn feststeht, dass der Vertragstext die Absicht der Parteien nicht richtig wiedergibt, ist ein weiterer Parteiwille zu erforschen und der Vertrag zu ergänzen (3 Ob 597/82; RIS-Justiz RS0017791).
Entweder beurteilt man im Rahmen einfacher Vertragsauslegung die roten Einzeichnungen in dem dem Mietvertragsabschluss zugrunde gelegten Plan im Zusammenhang mit der auch der Klägerin erklärten Absicht, die gesamten bisher genutzten Lagerflächen (also unter Einschluss der jetzt strittigen, damals aber nicht bedachten Lagerfläche) in Bestand nehmen zu wollen, als eine insgesamt doch eindeutige Willenserklärung, die auch auf die Anmietung der nunmehr strittigen Lagerfläche im Zwischengeschoss der Mittelhalle gerichtet war, oder der Vertrag ist als unvollständig anzusehen, weil er nicht den Gesamtumfang der von der Beklagten beabsichtigten und auch der Klägerin mitgeteilten Anmietung schriftlich festlegt, sodass insoweit eine Lücke besteht, die durch ergänzende Auslegung im Sinn des hypothetisch festgestellten Parteiwillens zu füllen ist. In beiden Varianten kommt man zum erstgerichtlichen Ergebnis, dass die Beklagte die strittige Lagerfläche nicht titellos, sondern aufgrund des zwischen den Streitteilen geschlossenen Mietvertrags benützt und daher das Räumungsbegehren unberechtigt, das Feststellungsbegehren betreffend die Einbeziehung der strittigen Fläche in den Mietvertrag aber berechtigt ist.
Ungeachtet der berufungsgerichtlichen Pauschalerklärung, die erstgerichtlichen Feststellungen zu übernehmen und seiner Entscheidung zugrunde zu legen, hat das Berufungsgericht bloß die Irrelevanz der von der Klägerin bekämpften Tatsachenfeststellungen seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Auf diese kommt es aber durchaus an, ist doch sowohl die erklärte Parteienabsicht als auch der festgestellte hypothetische Wille maßgeblich. Darüber hinaus kommt es auch auf die Aussagekraft des Plans an, ist doch die (unvollständige) Roteinzeichnung maßgeblich danach zu beurteilen, ob aus dem Plan für den objektiven Erklärungsempfänger überhaupt die zusätzliche strittige Lagerfläche erkennbar ist, wie also die Vertragserklärung der Gegenseite überhaupt zu verstehen ist. Auch weitere bekämpfte Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten (Betretungs- und Nutzungsmöglichkeiten) sind nicht ohne Relevanz für die Auslegung der Vertragserklärungen.
Das Berufungsgericht wird daher die Tatsachenrüge der Klägerin inhaltlich zu behandeln haben, um eine abschließende Beurteilung des Räumungs- und Feststellungsbegehrens zu ermöglichen.
Schon jetzt ist allerdings festzuhalten, dass der Rechtsmissbrauchseinwand der Beklagten nicht geeignet ist, das klägerische Räumungsbegehren abzuwehren.
Das Recht des Grundstückseigentümers wird nur durch das Verbot schikanöser Rechtsausübung beschränkt (RIS-Justiz RS0010395). Rechtsmissbrauch (Schikane) ist nicht erst dann anzunehmen, wenn demjenigen, der sein Recht ausübt, jedes andere Interesse abgesprochen werden muss als jenes, dem Anderen Schaden zuzufügen, sondern bereits dann, wenn das unlautere Motiv der Rechtsausübung augenscheinlich im Vordergrund steht und daher andere Ziele der Rechtsausübung völlig in den Hintergrund treten, oder wenn zwischen den vom Handelnden verfolgten eigenen Interessen und den beeinträchtigten Interessen des anderen Teils ein krasses Missverhältnis besteht (RIS-Justiz RS0025230, RS0026265, RS0026271 [T24]).
Grundsätzlich kann der Liegenschaftseigentümer aufgrund seines Eigentumsrechts aber jederzeit die Räumung der Liegenschaft von jedem verlangen, der ihm gegenüber keinen Rechtstitel zu ihrer Inanspruchnahme hat. Dieses Recht ist in der natürlichen Freiheit des Eigentums begründet; seine Geltendmachung allein verstößt nicht gegen die guten Sitten (7 Ob 49/07t mwN).
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Textnummer
E120060European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2017:0040OB00142.17M.1121.000Im RIS seit
13.12.2017Zuletzt aktualisiert am
12.11.2018