TE OGH 2017/10/25 8ObS5/17v

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Veröffentlicht am 25.10.2017
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Tarmann-Prentner und Dr. Weixelbraun-Mohr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martina Rosenmayr-Khoshideh und Mag. Susanne Haslinger als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*****, vertreten durch Mag. Andreas Zach, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei IEF-Service GmbH, *****, vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17–19, 1010 Wien, wegen Insolvenz-Entgelt (94.374,53 EUR sA), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Dezember 2016, GZ 8 Rs 41/16g-18, mit dem das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Oktober 2015, GZ 34 Cgs 130/14s-14, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei hat ihre Kosten des Berufungsverfahrens sowie des Rekursverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin war bis 16. Dezember 2013 Dienstnehmerin der im Jänner 1995 gegründeten M*****Qualitätsmanagement GmbH, die Ende November 2000 in M***** Management GmbH umbenannt wurde. Gründungsgesellschafter der GmbH waren die Klägerin und ihr Ehemann Ing. M*****. Mit Einbringungsvertrag vom 12. Mai 1995 wurde das nicht protokollierte Einzelunternehmen Ing. M***** in die GmbH eingebracht. Ab Oktober 1995 hielt die Klägerin einen GmbH-Anteil von 19 %. Geschäftsführer der GmbH war seit deren Gründung der Ehemann der Klägerin. Von April 2001 bis November 2008 war ein zweiter Geschäftsführer bestellt. Die Klägerin war von Oktober 1995 bis März 1998 als kollektivvertretungsbefugte Prokuristin und seit März 1998 als einzelvertretungsbefugte Prokuristin im Firmenbuch eingetragen. Die Klägerin war zunächst seit April 1992 im Einzelunternehmen ihres Ehemanns und ab 1995 in der GmbH angestellt. Mit Beschluss des Erstgerichts vom 10. September 2012 wurde über das Vermögen der GmbH das Sanierungsverfahren eröffnet, das nach rechtskräftiger Bestätigung eines von den Gläubigern angenommenen Sanierungsplans am 8. Jänner 2013 aufgehoben wurde. Der Sanierungsplan sah die Zahlung einer 20%igen Quote vor. Die Beklagte leistete an die Klägerin in Zusammenhang mit diesem ersten Insolvenzverfahren Zahlungen nach dem IESG. Nach Aufhebung des Sanierungsverfahrens erhielt die Klägerin für die Zeit ab März 2013 kein Gehalt mehr ausbezahlt. Die letzte Gehaltszahlung erfolgte am 15. April 2013 für den Monat Februar. Im September 2013 stellte die Gebietskrankenkasse einen Insolvenzantrag. Daraufhin wurde mit Beschluss des Erstgerichts vom 11. Dezember 2013 über das Vermögen der GmbH der Konkurs eröffnet. Am 13. Dezember 2013 wurde die Schließung des Unternehmens angeordnet. Am 16. Dezember 2013 erklärte die Klägerin ihren Austritt aus dem Dienstverhältnis.

Die Klägerin hatte Kenntnis davon, dass auch bei den anderen Dienstnehmern im Unternehmen das Entgelt aushaftete. Sie selbst hat die offenen Forderungen nur mündlich bei ihrem Ehemann geltend gemacht. Es wurden regelmäßig Workshops abgehalten, in denen die Mitarbeiter über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens, insbesondere über die laufenden Projekte, informiert wurden. Die Klägerin wusste als Gesellschafterin der GmbH, als Ehefrau des Geschäftsführers und wegen ihrer Tätigkeit als Prokuristin zu jeder Zeit genau über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens Bescheid. Die Klägerin hoffte zwar, dass das Unternehmen durch den Abschluss eines größeren Geschäfts finanziell gerettet werden könne, ihr war aber bewusst, dass dieses Projekt auch scheitern könne. Sie wusste aus der früheren Insolvenz ihrer Arbeitgeberin, dass offene Gehaltsansprüche im Fall des Arbeitgeberkonkurses bei der Beklagten geltend gemacht werden können.

Die Klägerin begehrte von der Beklagten (letztlich) Insolvenz-Entgelt in der Höhe von 94.374,53 EUR. Die Beklagte unterstelle zu Unrecht eine völlig atypische Gestaltung des Arbeitsverhältnisses. Sie sei vom Weiterbestand des Unternehmens ausgegangen; von einem (bedingten) Vorsatz, ihre offenen Lohnansprüche letztlich beim Insolvenz-Entgelt-Fonds geltend zu machen, könne keine Rede sein.

Die Beklagte wendete im Wesentlichen ein, dass der Sachverhalt einem Fremdvergleich nicht standhalte. Die Klägerin habe nicht ernstlich versucht, ihr Entgelt einbringlich zu machen. Sie habe gewusst, dass schon die im August 2013 fällige Quote aus dem Sanierungsverfahren von der GmbH nicht habe geleistet werden können; spätestens im September 2013 sei klar gewesen, dass eine Insolvenz unabwendbar sei. Ein anderer Dienstnehmer hätte unter diesen Umständen schon lange vorher das Dienstverhältnis beendet. Die Klägerin habe stattdessen weiter gearbeitet und ihr Dienstverhältnis erst nach Eröffnung des Konkursverfahrens beendet. Es liege somit ein atypisches Arbeitsverhältnis vor; andererseits stehe damit auch fest, dass die Klägerin das Finanzierungsrisiko des Arbeitgegbers auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds überwälzen habe wollen. Die Geltendmachung der Ansprüche sei daher rechtsmissbräuchlich.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus fest, dass die Klägerin trotz der schlechten finanziellen Lage des Unternehmens und trotz des neunmonatigen Gehaltsrückstands weiter gearbeitet und ihren Austritt erst nach Einleitung des Insolvenzverfahrens erklärt habe, weil sie davon ausgegangen sei, ihr Entgelt von der Beklagten zu erhalten.

In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Erstgericht davon aus, dass die Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds unzulässig und sittenwidrig sei, wenn dem Arbeitnehmer bewusst sein müsse, dass er die Gegenleistung für seine Arbeit nicht von seinem Arbeitgeber, sondern vom Fonds bekommen werde, und er deshalb weiter arbeite. Ob aus dem langen Stehenlassen von Entgelten ein bedingter Vorsatz in diesem Sinn erschlossen werden könne, sei im Rahmen des Fremdvergleichs zu beurteilen, bei dem zu prüfen sei, ob unter den konkreten Umständen auch ein unbeteiligter Arbeitnehmer im Unternehmen verblieben wäre. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass etwa bei Famililenangehörigen und Gesellschaftern regelmäßig das Wissen um die finanzielle Situation des Betriebs größer und daher auch schon bei kürzeren Entgeltrückständen zumindest der bedingte Vorsatz anzunehmen sei, das Entgeltrisiko auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds zu überwälzen. Der festgestellte Sachverhalt halte einem Fremdvergleich nicht stand. Die Klägerin, die jederzeit über die finanzielle Lage des Unternehmens Bescheid gewusst habe, habe damit gerechnet, ihre Ansprüche in dem von ihr ernstlich für möglich gehaltenen Insolvenzfall vom Insolvenz-Entgelt-Fonds zu erhalten, und habe dies billigend in Kauf genommen. Sie habe daher mit zumindest bedingtem Vorsatz versucht, das Finanzierungsrisiko auf den Fonds zu übertragen. Daher sei ihr Klagebegehren nicht berechtigt.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin Folge, hob das Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Es erachtete die von der Klägerin bekämpften Feststellungen, wonach sie das Arbeitsverhältnis deshalb nicht früher beendet habe, weil sie davon ausgegangen sei, ihr Entgelt von der Beklagten zu erhalten, als rechtlich nicht relevant und ging daher auf die entsprechende Tatsachenrüge der Berufung nicht ein.

In rechtlicher Hinsicht führte es aus:

Beim Fremdvergleich sei auf die Maßfigur eines unbeteiligten Arbeitnehmers abzustellen, der über den selben Informationsstand wie die Klägerin verfügte. Daher komme es weder darauf an, ob und warum die anderen Arbeitnehmer im Unternehmen verblieben seien, noch darauf, von welchen konkreten Absichten die Klägerin sich habe leiten lassen. Nach dem Sachverhalt sei der bedingte Vorsatz der Klägerin, das Finanzierungsrisiko des Arbeitgebers auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds zu überwälzen, indiziert. Ein unbeteiligter Arbeitnehmer mit ihrem Wissensstand hätte spätestens im September 2013 seinen Austritt aus dem Arbeitsverhältnis erklärt, weil sich die Arbeitgeberin trotz des unmittelbar vorangegangenen Sanierungsverfahrens neuerlich in massiven Zahlungsschwierigkeiten befunden und monatelang keine Löhne gezahlt habe. Dazu sei gekommen, dass ein erhoffter umsatzträchtiger Geschäftsabschluss nicht zustande gekommen sei.

Die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens stehe jedoch nicht im Einklang mit der Entscheidung des EuGH vom 11. September 2003, C-201/01 (Walcher). Nach dieser Entscheidung dürfe ein Mitgliedstaat zur Vermeidung von Missbräuchen Maßnahmen ergreifen, durch die einem Arbeitnehmer ein Garantieanspruch für Entgeltforderungen versagt werde, die nach dem Zeitpunkt entstanden seien, zu dem ein Arbeitnehmer wegen Vorenthalten des Entgelts aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre. Es dürfe nicht unterstellt werden, dass ein Arbeitnehmer in der Regel aus diesem Grund aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre, bevor die nicht erfüllten Entgeltsansprüche einen Zeitraum von drei Monaten betreffen.

Hier habe das unbezahlte Arbeitsentgelt der Klägerin schon einen Zeitraum von sechs Monaten betroffen, als sie im September 2013 mit der ernsthaften Möglichkeit rechnen musste, dass sie dieses nicht mehr von ihrem Arbeitgeber erhalten werde, sondern allenfalls nur mehr nach dem IESG. Der vom EuGH geforderte dreimonatige Zeitraum stehe daher der Annahme eines fiktiven Austritts eines unbeteiligten Arbeitnehmers im September 2013 nicht entgegen. Nach der Entscheidung des EuGH komme aber nur ein Entfall der Sicherung für jene Ansprüche in Betracht, die nach dem Zeitpunkt entstanden seien, zu dem ein unbeteiligter Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre. Da nicht feststehe, wann das Scheitern des Großprojekts und der Konkursantrag bekannt geworden sind, sei zu Lasten der für die Sittenwidrigkeit der Anspruchstellung beweispflichtigen Beklagten davon auszugehen, dass die laufenden Gehälter der Klägerin von Juni bis September 2013 sowie der darauf entfallende aliquote Urlaubszuschuss, die aliquote Weihnachtsremuneration und die Abfertigung gesichert seien. Es sei nicht gerechtfertigt, dem Arbeitnehmer die Deckung seiner bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Ansprüche zur Gänze zu versagen, wenn er aus einem Arbeitsverhältnis, das nicht von Anfang an atypisch gestaltet war, verspätet ausgetreten sei. Zur Höhe der Beendigungsansprüche seien aber noch Erörterungen und Feststellungen erforderlich.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil diese Rechtsauffassung im Widerspruch zu dessen Rechtsprechung stehe, nach der bei Bejahung des (bedingten) Vorsatzes zur Risikoüberwälzung auf den Fonds das insoweit atypisch gestaltete Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG falle und eine Bedachtnahme auf ein hypothetisches Verhalten des Arbeitnehmers (auf einen tatsächlich nicht binnen angemessener Frist erfolgten Austritt) nicht in Betracht komme.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts wendet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

Die Klägerin beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise, ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig und berechtigt.

1. Seit Inkrafttreten der IESG-Novelle, BGBl I 142/2000, judiziert der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass regelmäßig allein aus der zeitlichen Komponente des „Stehenlassens“ von Entgeltansprüchen nicht darauf geschlossen werden kann, dass der Arbeitnehmer missbräuchlich das Finanzierungsrisiko auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds überwälzen will (RIS-Justiz RS0119679; RS0116935). Allerdings wird auch für den Anwendungsbereich des § 3a Abs 1 IESG ausgesprochen, dass im Einzelfall dann, wenn zu dem „Stehenlassen“ der Entgeltansprüche weitere Umstände hinzu treten, die konkret auf den Vorsatz des Arbeitnehmers schließen lassen, das Finanzierungsrisiko auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds zu überwälzen, trotzdem die Geltendmachung von Ansprüchen auf Insolvenz-Ausfallgeld missbräuchlich sein kann (RIS-Justiz RS0119679).

Ob aus dem langen Stehenlassen der Entgelte der zumindest bedingte Vorsatz der Verlagerung des Finanzierungsrisikos geschlossen werden kann, ist im Rahmen des „Fremdvergleiches“ zu beurteilen.

Dieser besteht im Wesentlichen darin, dass aus typischerweise bekannten Tatsachen anhand des einem „fremden“ Arbeitnehmer (bei dem also der Interessengegensatz und das Bewusstsein des Risikos des Entgeltverlusts voll ausgeprägt ist) bei den konkreten Umständen zu unterstellenden Verhaltens auf den im Ergebnis relevanten „inneren“ – zumindest bedingten – Vorsatz geschlossen wird. Ergibt sich aus dem Fremdvergleich der Schluss, dass zumindest der bedingte Vorsatz einer Überwälzung des Finanzierungsrisikos anzunehmen ist, so kann dieser nicht durch einen Beweis über die konkreten Absichten des Arbeitnehmers widerlegt werden (RIS-Justiz RS0114470).

2. Hier ist das Berufungsgericht aufgrund des von ihm angestellten Fremdvergleichs vom bedingten Vorsatz der Klägerin ausgegangen, das Finanzierungsrisiko betreffend ihre Gehaltszahlungen auf die Beklagte zu überwälzen, weil sie unmittelbar nach dem Sanierungsverfahren und der Finanzierung ihrer damals offenen Gehaltsansprüche durch den Insolvenz-Entgelt-Fonds neuerlich ihre Gehaltsansprüche insgesamt neun Monate lang stehen ließ und weiterarbeitete, statt viel früher – nach Meinung des Berufungsgerichts spätestens im September 2013 – auszutreten. Die Klägerin hat gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts kein Rechtsmittel erhoben, sodass die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, es sei von einer missbräuchlichen Überwälzung des Finanzierungsrisiko auf den Insolvenz-Entgelt-Fonds auszugehen, nicht mehr Gegenstand des Rekursverfahrens ist. Gegen die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung bestehen im Übrigen aus den schon vom Berufungsgericht angeführten Gründen auch inhaltlich keine Bedenken.

3. Dennoch hält das Berufungsgericht die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens durch das Erstgericht für unrichtig: Sie stehe mit der Richtlinie 80/987/EWG und deren Auslegung durch den EuGH in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 11. 9. 2003, C-201/01 (Walcher) nicht in Einklang. Es sei auch nicht gerechtfertigt, dem Arbeitnehmer sämtliche Ansprüche zu versagen, wenn er aus einem Arbeitsverhältnis, das nicht von Anfang an atypisch gestaltet war, verspätet ausgetreten sei. Die Ansprüche der Klägerin auf Abfertigung, Urlaubsersatzleistung und Kündigungsentschädigung seien daher in jenem Umfang gesichert, in dem sie im Falle eines rechtzeitigen Austritts (nach Meinung des Berufungsgerichts im September 2013) bestanden hätten.

Das Berufungsgericht erkennt aber selbst, dass es mit dieser Rechtsauffassung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht.

4. Nach langjähriger ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat ein Arbeitnehmer, der sich entschließt, trotz Nichtzahlung des Lohns über längere Zeit im Unternehmen tätig zu bleiben, ohne auch nur ernsthaft zu versuchen, die aushaftenden Beträge einzubringen, damit bewirkt, dass das insoweit atypisch gestaltete Arbeitsverhältnis insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG fällt und die aus diesem Arbeitsverhältnis resultierenden Ansprüche in vollem Umfang ungesichert sind. Eine Bedachtnahme auf ein hypothetisches Verhalten des Arbeitnehmers (nämlich auf einen tatsächlich nicht oder nicht binnen angemessener Frist erklärten Austritt), was zur Folge hätte, dass gerade die ältesten, am wenigsten mit der Sicherung des laufenden Lebensunterhalts zusammenhängenden Rückstände gesichert wären, kommt nicht in Betracht. Diese Überlegungen gelten auch für die beendigungsabhängigen Ansprüche (8 ObS 183/98i; 8 ObS 56/00v; 8 ObS 57/00s; 8 ObS 150/00t; 8 ObS 252/00t; 8 ObS 195/02g; 8 ObS 20/11s uva).

Die Entscheidung C-202/01, Walcher, hat den Obersten Gerichtshof nicht veranlasst, von seiner Rechtsauffassung abzugehen; sie steht der eben wiedergegebenen Rechtsprechung – wie erst vor kurzem zu 8 ObS 6/16i klargestellt wurde – nicht entgegen. In dieser Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof zur Frage Stellung genommen, wann eine missbräuchliche Verhaltensweise zu Lasten der Garantieeinrichtung vorliegt und welche Rechtsfolgen sich daran knüpfen. Auch in dieser Entscheidung ging es um die Problematik des sogenannten „Stehenlassens“ (der Vorenthaltung) des Entgelts ohne Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer. Der Europäische Gerichtshof gelangte zum Ergebnis, dass die (ohne sachlichen Grund erfolgende) Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Zeitpunkt hinaus, zu dem der Arbeitnehmer die finanzielle Krise der Gesellschaft erkennen konnte, eine missbräuchliche Verhaltensweise darstelle, die es dem Mitgliedstaat erlaube, eine Ausnahme von der Entgeltsicherung vorzusehen. Nach der Insolvenzrichtlinie (Art 4) könne die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer aber nicht als ungewöhnlich angesehen werden, wenn das unbezahlte Arbeitsentgelt einen Zeitraum von weniger als drei Monaten betreffe.

Aus dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs folgt somit, dass die Ausnahme von der Entgeltsicherung für Missbrauchsfälle mit der Insolvenzrichtlinie und demnach mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl C-435/10, van Ardennen, Rn 38; C-311/13, Tümer, Rn 48; vgl allgemein auch C-126/10, Foggia, Rn 50). In einem Missbrauchsfall ist die Beklagte daher berechtigt, die geltend gemachten Ansprüche abzulehnen (vgl 8 ObS 2/11v; 8 ObS 3/16y). Hingegen ist der zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und überhaupt dem Unionsrecht nicht zu entnehmen, dass trotz eines Missbrauchsfalls dem Arbeitnehmer die Mindestsicherung nach Art 3 der Insolvenzrichtlinie zusteht. Liegt ein Missbrauchsfall (im Sinn eines atypischen Arbeitsverhältnisses, das einem Fremdvergleich nicht standhält) vor, so führt dies zur Ablehnung der Ansprüche (näher 8 ObS 6/16i).

Ein Anspruch der Klägerin auf Insolvenz-Ausfallgeld besteht daher nicht.

5. Entgegen der in der Rekursbeantwortung vertretenen Auffassung stellt dieses Ergebnis keine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung der Klägerin im Verhältnis zu den anderen Arbeitnehmern dar: Dazu hat schon das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Beklagte in jedem einzelnen Verfahren die eingebrachten Anträge zu prüfen hat und dass es keineswegs unsachlich ist, zu berücksichtigen, dass der Informationsstand der anderen Arbeitnehmer nicht jenem der Klägerin als Mitgesellschafterin, Prokuristin und Ehegattin des Mehrheitsgesellschafters und Geschäftsführers entsprochen hat.

6. Dem Rekurs der Beklagten ist daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und in der Sache selbst im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden weder behauptet noch haben sich dafür Anhaltspunkte ergeben.

Textnummer

E120001

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2017:008OBS00005.17V.1025.000

Im RIS seit

11.12.2017

Zuletzt aktualisiert am

08.08.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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