TE Bvwg Erkenntnis 2017/11/15 W171 2139372-1

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Veröffentlicht am 15.11.2017
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Entscheidungsdatum

15.11.2017

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W171 2139372-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor MORAWETZ, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.10.2016, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.09.2017, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF und §§ 52, 55 FPG idgF als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführerin reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens, in dem die Beschwerdeführerin unter Beiziehung eines Dolmetschers der russischen Sprache einvernommen wurde, brachte diese bei der am Tag der Antragstellung durchgeführten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Wesentlichen vor, sie sei in der Stadt XXXX, Kasachstan, geboren, sei muslimischen Glaubens und gehöre der Volksgruppe der Tschetschenen an. Als Fluchtgrund führte sie an, dass ihre vier Kinder bereits seit zehn Jahren in Österreich lebten und bereits Enkelkinder hätten. Sie habe schon seit langem zu ihren Kindern nach Österreich reisen wollen; zu Hause sei sie alleine, Probleme habe sie sonst keine.

Bei der Einvernahme vor der belangten Behörde am 20.09.2016 brachte die Beschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand vor, dass sie vor kurzem wegen den Bronchien im Krankenhaus gewesen sei. Sie nehme Medikamente gegen hohen Blutdruck, hohen Blutzucker und Gelenksschmerzen. Diesbezüglich legte sie ein Konvolut an medizinischen Unterlagen vor, aus denen sich die Diagnosen arterielle Hypertonie [Bluthochdruck], Diabetes mellitus Typ 2, Vitamin D-Hypovitaminose [Krankheiten, die durch einen Mangel an Vitamin D entstehen], Pertionsillarabszess [Abszessbildung im Bereich der Gaumenmandeln], fortgeschrittene Varusgonarthrose [Gelenkabnutzung durch Fehlstellung] und chronische Cerviko-Dorsalgie [Rückenschmerzen] ergeben.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat gab sie an, Witwe zu sein. In Tschetschenien lebten noch zwei ihrer Schwestern und deren Familien. Sie stehe mit ihren Schwestern alle ein bis zwei Wochen im Kontakt. Darüber hinaus würden noch Cousins dritten Grades in Tschetschenien leben. Da ihr Haus im Krieg zerstört worden sei, habe sie die letzten Jahre bei ihren Neffen gewohnt. Sie habe acht Jahre Grundschule, aber keine Berufsausbildung absolviert. In den 80er-Jahren habe sie als Köchin gearbeitet, ansonsten sei sie Hausfrau gewesen. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie im Herkunftsstaat Pension bezogen oder teilweise gearbeitet. Den Entschluss zur Ausreise habe sie bereits im Jahr 2012 gefasst, da sie bei ihren Kindern habe sein wollen.

Zu ihren Ausreisegründen befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, sie sei nach Österreich gekommen, da alle ihre Kinder hier lebten. Man habe sich bei ihr auch ständig nach ihren Kindern erkundigt, wo sich diese aufhielten und warum sie weggegangen seien.

Auf Nachfrage, wer nach ihren Kindern gefragt habe, antwortete sie, dass es Leute vom Innenministerium, wahrscheinlich von der Polizei, gewesen seien. Hauptsächlich seien es Russen gewesen und sie seien etwa einmal in der Woche am Morgen gekommen. Teilweise seien sie in Uniform und teilweise in Zivilkleidung, jedoch immer maskiert erschienen. Das letzte Mal seien sie etwa zwei Wochen vor der Ausreise gekommen. Sie habe ihren Kindern nicht erzählt, dass sie so oft aufgesucht worden sei. Sie sei immer nur zu Hause befragt worden und habe man ihr keine körperliche Gewalt angetan. Ihr sei jedoch gedroht worden, dass sie noch "schlimmeres erfahren" werde, wenn sie nicht sage, wo sich ihre Kinder aufhielten. Im Falle einer Rückkehr befürchte sie, dass sie weiterhin von diesen Leuten aufgesucht werde und sich dadurch ihr Gesundheitszustand verschlechtere.

Zu ihren Verhältnissen in Österreich befragt, gab sie an, regelmäßigen Kontakt zu ihren Kindern zu haben. Darüber hinaus habe sie keine Verwandten in Österreich. Sie besuche zurzeit einen Deutschkurs, lebe in einer Flüchtlingsunterkunft und beziehe Grundversorgung.

1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.10.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 abgewiesen und ihr der Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 leg.cit. der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Der Beschwerdeführerin wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat einer asylrelevanten Verfolgung unterliege. Die Beschwerdeführerin gebe als Fluchtgrund keine Furcht vor Verfolgung an, sondern den Wunsch bei ihren vier Kindern und deren Familien zu sein. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach sich die Behörden ständig nach ihren Kindern erkundigt hätten, stelle demgegenüber eine Steigerung dar und sei unglaubhaft. Selbst wenn man dieses Vorbringen als den Tatsachen entsprechend unterstelle, käme man zu keinem anderen Ergebnis, da wiederholte Befragungen durch die Sicherheitskräfte noch keine asylrelevante Verfolgung darstellen würden. Außerdem seien ihm Verfahren keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine lebensbedrohende Notlage geraten würde. Sie könne bei einer Rückkehr weiterhin Pension beziehen und fallweise arbeiten. Sie leide auch an keinen Erkrankungen, die ein Abschiebehindernis darstellten. Ihre Erkrankungen könne sie auch im Herkunftsstaat behandeln lassen. Im Herkunftsstaat lebten auch noch Angehörige, die als soziales Auffangnetz zur Verfügung stünden. Zu Spruchpunkt III. wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin im Bundesgebiet unabhängig von ihren vier erwachsenen Kindern lebe und daher kein Familienleben bestehe. Es lägen zudem keine Aspekte einer außergewöhnlichen und schützenswerten Integration vor.

1.3. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und im Wesentlichen ausgeführt, dass der in Österreich befindliche Sohn nach dem zweiten Tschetschenienkrieg festgenommen worden sei. Wegen diesem Sohn sei die Beschwerdeführerin erstmals einen Monat nach dessen Ausreise von maskierten Männern aufgesucht worden und deswegen schlussendlich ausgereist. Die Beschwerdeführerin sei auch bereits in XXXX, wo sie mit ihrem Ehemann gelebt habe, von maskierten Männern aufgesucht worden, bevor sie zu ihren Neffen gezogen sei. Die belangte Behörde hätte die Angaben in den Asylverfahren der Kinder berücksichtigen müssen. Die Verfolgung werde nun dadurch verstärkt, dass sie sich bereits längere Zeit im Ausland aufhalte, weshalb sie bei Rückkehr - ohne ihren Sohn - mit hoher Wahrscheinlichkeit noch massiverer Verfolgung ausgesetzt sein werde. Die Beschwerdeführerin sei als alleinstehende Frau in ihrer Heimat besonders vulnerabel, zumal sich auch ihre Kinder in Österreich befänden. Die Verfolgungsgefahr sei aktuell und wurde diesbezüglich auf verschiedene Berichte über die Verfolgung von Familienangehörigen in Tschetschenien verwiesen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei für die Beschwerdeführerin aufgrund der angeführten Berichte und weil es sich bei ihr um eine ältere, alleinstehende, kranke Frau handle, nicht gegeben. In Tschetschenien sei zudem die Behandlung der Herzprobleme der Beschwerdeführerin nur unzureichend und könne sie sich diese auch nicht leisten. Sie könne auch nicht bei ihren Angehörigen Unterkunft nehmen. Mit den in Österreich lebenden Kindern sei sie auch nach deren Ausreise im regelmäßigen Kontakt gestanden und telefoniere sie nunmehr täglich mit ihren Kindern. An den Wochenenden würden auch öfter persönliche Besuche stattfinden. Hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes legte die Beschwerdeführerin einen vorläufigen Arztbrief vom 10.10.2016 mit den Diagnosen "mehrere kleine Lungenherde mit teilweiser Verkalkung beidseits offener Ätiologie, mediastinale sowie bihiläre Lymphadenopathie mit teilweiser Verkalkung offener Ätiologie, Bilaterale Milchglastrübungen im Bereich beider Unterlappen, arterielle Hypertonie sowie Diabetes mellitus" sowie einen Ambulanzbrief vom 17.06.2016 mit dem Ergebnis "komplette Stammvarikositas der V. saph. Magna rechts, Seitenastvarikositas im V. saph. Magna Stromgebiet rechts", vor. Zudem wurden zwei Berichte zur aktuellen Menschenrechtssituation in Tschetschenien beigelegt.

1.4. In einer vor dem Bundesverwaltungsgericht am 12.09.2017 durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme der Beschwerdeführerin, Einsichtnahme in den Verwaltungsakt und durch Einsicht in den Akt des Bundesverwaltungsgerichts.

Die Beschwerdeführerin gab im Beisein ihrer Rechtsberatung an, wegen ihren Knieproblemen, Diabetes und Bluthochdruck in Tschetschenien mit Tabletten behandelt worden zu sein. Sie habe Schmerzen in allen Gelenken, ihr sei ein Gallenstein und schließlich die Gallenblase entfernt worden. Darüber hinaus nehme sie wegen ihren Herzbeschwerden Tabletten.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat befragt, brachte sie vor, dass ihre Schwestern in Nordossetien und Tschetschenien lebten und stehe sie mit diesen sowie mit ihren Nichten und Neffen noch regelmäßig im telefonischen Kontakt. Eine Schwester sei noch erwerbstätig und die andere sei bereits in Pension. Ansonsten lebten noch entfernte Verwandte im Herkunftsstaat. Vor ihrer Ausreise habe sie im Haus eines Neffen gewohnt. Der Neffe lebe noch in Tschetschenien und bestreite seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten. Sie habe die Pflichtschule, aber keine weitere Ausbildung absolviert. In ihrer Jugend habe sie etwa zwölf Jahre lang in einer Kantine gearbeitet.

Befragt, ungefähr wann und in welcher Intensität Personen sie nach ihren Kindern befragt hätten, führte sie aus, der letzte Vorfall sei etwa zwei Wochen vor ihrer Ausreise passiert, wobei sie nicht mehr wisse, wann sie ausgereist sei. Die Leute seien seit 2013 etwa einmal im Monat zu ihr gekommen und hätten dabei immer nach den Söhnen gefragt. Einer ihrer Söhne sei während des Krieges mitgenommen worden und erst nach neun Jahren zurückgekehrt. Sie könne nicht sagen, wer zu ihr gekommen sei, sie hätten jedenfalls Russisch gesprochen. Sie könne auch nicht sagen, ob es immer dieselben Personen gewesen seien, da sie sich wegen der Aufregung die Gesichter nicht gemerkt habe. Die Leute seien immer in schwarzer Kleidung erschienen. Auf Vorhalt, dass sie in der letzten Einvernahme am 20.09.2016 (AS 145) angegeben habe, dass es sich dabei wahrscheinlich um Polizisten des Innenministeriums gehandelt habe und die Leute einmal Zivil und einmal in Uniform gekommen seien, gab sie nunmehr an, sie habe die Uniformen nicht zuordnen können, sie hätten jedenfalls Russisch mit ihr gesprochen. Sie hätten etwas Ziviles angehabt, die Männer seien schwarz gekleidet gewesen und dann gebe es auch noch gefleckte Tarnuniformen.

Die Fragen der Männer habe sie nicht beantwortet. Daraufhin hätten die Männer gesagt, sie würden wieder kommen. Sie hätte herausfinden sollen, wo sich ihre Kinder aufhielten. Das habe sich in dieser Form wiederholt; Gewalt hätten sie nicht angewendet, da sie eine Frau sei.

Auf Nachfrage, was passieren würde, wenn sie nach Tschetschenien zurück müsste, erklärte sie, sehr gerne hier bei ihren Söhnen und Enkeln bleiben zu wollen. Sie sei eine alte, kranke und einsame Frau und möchte deshalb hier bleiben.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen in Österreich brachte die Beschwerdeführerin vor, bislang noch keinen Deutschkurs besucht zu haben; sie könne ein bisschen Deutsch verstehen. Mit Österreichern habe sie in ihrer Pension Kontakt und sonst während ihrer häufigen Spitalsaufenthalte, insbesondere ihre Dolmetscherin kenne sie gut. Bekannte habe sie durch Strickkurse kennengelernt. Sie habe in Österreich noch nicht gearbeitet und lebe derzeit von der Grundversorgung. Von ihren Kindern werde sie mit Kleidung unterstützt.

Ihre Söhne XXXX und XXXX lebten in XXXX und sie besuche sie etwa ein bis zwei Mal im Monat. In letzter Zeit habe sie ihre Söhne wegen der anhaltenden Physiotherapie nicht besuchen können. Einer der Söhne sei derzeit auf Arbeitssuche und wohne in einer Mietwohnung für Flüchtlinge. Der andere sei Lagerarbeiter in einem Geschäft. Ihr Sohn XXXX lebe in XXXX und sei sie letzten April bei seiner Hochzeit gewesen. Telefonisch sei sie mit ihm jeden Tag in Kontakt. Er sei von Beruf Botenfahrer. Ihre Söhne hätten sie auch besucht, als sie etwa im Krankenhaus gewesen sei. Ihre Tochter XXXX wohne in XXXX und sei derzeit arbeitslos. Sie besuche ihre Tochter etwa zwei Mal im Monat.

Auf Nachfrage, weshalb sie nicht bei einem ihrer Kinder lebe, antwortete sie, in XXXX bleiben zu wollen, da sie hier das Spital und auch ihre Termine habe. Bei ihrer Tochter könne sie wegen Platzmangel nicht leben. Ihre Pensionswirtin habe sich bereits erkundigt, wie sie nach XXXX kommen könnte. Wenn sie nach XXXX kommen könnte, würde sie bei ihrem Sohn XXXX unterkommen.

Der Rechtsberater führte abschließend zu Spruchpunkt I aus, dass zwei in Österreich lebende Söhne der Beschwerdeführerin asylberechtigt seien und der Grund dafür jeweils in den Tschetschenienkriegen liege. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin stehe insofern im Einklang mit den Länderberichten der Staatendokumentation. Der Beschwerdeführerin drohe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung von Seiten der tschetschenischen Sicherheitsbehörden. Der Konventionsgrund liege bereits in einer unterstellten politischen Gesinnung durch das Kadirov-Regime aufgrund einer vermeintlichen Unterstützung von Rebellen, in konkreto ihren Kindern. Das die bisher stattgefundenen Befragungen noch nicht die Intensität einer Verfolgungshandlung erreicht hätten, sei insofern irrelevant, als es im Sinne einer Prognose darauf ankomme, was der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr drohen würde. Diesbezüglich wurde der Beschwerdeführerin bereits angedroht, dass ihr noch was Schlimmeres passieren würde.

Zu Spruchpunkt II führte der Rechtsberater aus, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine beinahe siebzigjährige, gebrechliche und kranke Frau handle, die - abgesehen von den entfernten Verwandten, die selbst kaum genug zum Überleben hätten - keinen familiären Anschluss in Tschetschenien habe, der ihr tatsächlich Unterstützung bieten könnte. Sie könne sich nur auf Krücken fortbewegen und benötige auch hinsichtlich ihres zweiten Knies eine Operation. Im Falle der Beschwerdeführerin kämen noch weitere in ihrer persönlichen Situation begründete Umständen hinzu, die gerade bei ihr -im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im allgemeinen- ein höheres Risiko einer dem Artikel 3 EMRK widersprechend Behandlung indizieren würden, so insbesondere ihre Eigenschaft als Mutter von zwei anerkannten Flüchtlingen und damit Regime-Gegner. Solche besondere Gefährdungsprognosen seien nach jüngster Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch im Rahmen des subsidiären Schutzes mit zu berücksichtigen (Vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0267).

Zu Spruchpunkt III wurde dargelegt, dass sich alle vier Kinder der Beschwerdeführerin legal in Österreich aufhielten. Die Beschwerdeführerin sei krank und würde gerne nach XXXX zu ihrem ältesten Sohn ziehen, damit sich dieser um sie kümmern könnte. Es sei daher von einem Abhängigkeitsverhältnis folglich vom Bestehen eines Familienlebens, im Sinne des Art. 8 EMRK auszugehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes komme es bei der Abwägung des Art. 8 EMRK überdies Bedeutung zu, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen werde, die in einem Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich führen könnte (Vgl. VwGH 28.04.2015 Ra 2014/18/0146).

Hinsichtlich des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin wurden zudem folgende medizinische Unterlagen vorgelegt:

* Entlassungsbrief über einen stationären Aufenthalt in der Abteilung für Allgemein- und Viszeralchirurgie vom 08.01.2017 bis 12.01.2017 mit den Diagnosen "Symptomatische Cholezystolithiasis bei Z.n. Cholestase bei Choledocholithiasis [Gallenblasenstein bei Zustand nach Gallestauung bei Gallengangsstein]"

* Entlassungsbrief über einen stationären Aufenthalt vom 07.06.2017 bis 04.07.2017 in der Abteilung für Akutgeriatrie und Remobilisation mit den Diagnosen "Gonarthrose li [Kniegelenksarthrose], KTEP-Implantation li am 08.06.2017 [Knieprothese], arterielle Hypertonie, laparoskop. Cholezystekomie und ERCP 11/2016 [Entfernung der Gallenblase], steatosis hepatis [Fettleber], Splenomegelie [vergrößerte Milz] und Diabetes mellitus"

* Ambulanter Befundbericht vom 03.08.2017 mit den Diagnosen "Diabetes mellitus Typ 2, arterielle Hypertonie, Vitamin D-Hypovitaminose, Zustand nach CHE 01/2017, Steatosis hepatis, Splenomegalie, ausgeprägte Antrum- und Corpusgastritis [Magenschleimhautentzündung], Kardiainsuffizienz [mangelnder Verschluss des Magen-Eingangs], Gonarthrose beidseits"

1.5. Am 20.09.2017 wurde ein orthopädischer Befundbericht vom 19.09.2017 vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin bezüglich des linken Kniegelenks weiterhin Physiotherapie erhält und für das rechte Knie die Implantation einer Knieprothese für Juni 2018 vereinbart wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Aufgrund jener der Entscheidung zugrunde liegenden Akten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des Bundesverwaltungsgerichtes steht nachstehender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:

Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und ist muslimischen Glaubens. Sie wurde in XXXX, Kasachstan geboren. Zuletzt wohnte sie im Haus eines Neffen in Tschetschenien. Sie verfügt über eine abgeschlossene Grundschulbildung sowie über Berufserfahrung als Köchin. Im Herkunftsstaat leben noch zwei Schwestern samt deren Familien und weitere entfernte Verwandte. Sie steht mit ihren Familienangehörigen noch im regelmäßigen Kontakt.

Die Beschwerdeführerin reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführerin war vor ihrer Ausreise keiner konkreten, individuellen Verfolgung ausgesetzt und konnten von ihr asylrelevante Gründe für das Verlassen ihres Heimatstaates nicht glaubhaft gemacht werden. Es konnte von ihr auch nicht glaubhaft vermittelt werden, dass sie im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

Im Falle einer Verbringung der Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat droht dieser kein reales Risiko einer Verletzung der Artikel 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

Die Beschwerdeführerin leidet an einer beidseitigen Kniegelenksarthrose und wurde sie deshalb im Bundesgebiet am linken Knie operativ und in Folge physiotherapeutisch behandelt. Weiters wurde ihr die Gallenblase operativ entfernt. Sie leidet weiters an Bluthochdruck, Diabetes, einer Magenschleimhautentzündung, einer Fettleber und an einer vergrößerten Milz.

Die Beschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten.

Im Bundesgebiet leben drei Söhne, XXXX, XXXX, und XXXX, sowie eine Tochter der Beschwerdeführerin, XXXX XXXX. XXXX reiste im September 2011 ins Bundesgebiet ein und ist asylberechtigt. XXXX hält sich seit November 2006 in Österreich auf und ist ebenfalls asylberechtigt. XXXX stellte im Juni 2005 in Österreich einen Asylantrag, welcher als unbegründet abgewiesen wurde. Ihm wurde subsidiärer Schutz zuerkannt. XXXX XXXX lebt seit Juli 2012 in Österreich und verfügt über eine Rot-Weiß-Rot-Karte Plus. Die Beschwerdeführerin lebt mit ihren Kindern nicht in einem gemeinsamen Haushalt, ein Abhängigkeitsverhältnis konnte nicht festgestellt werden. Sie hat bislang keinen Deutschkurs besucht und besitzt keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Sie geht keiner Erwerbstätigkeit nach, ist nicht selbsterhaltungsfähig und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Sie ist kein Mitglied in einem Verein und engagiert sich nicht ehrenamtlich. Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte individuelle Integration der Beschwerdeführerin in Österreich vorliegt.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

1.2. Zur Lage in der Russischen Föderation:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 1.6.2016b).

Russland hat den IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).

Das "Kaukasus-Emirat", das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen. Aus dem Pankisi-Tal in Georgien, das mehrheitlich von einer tschetschenischen Volksgruppe bewohnt wird, stammen einige Teilnehmer an den Kämpfen in Syrien - so Umar al-Shishani (eigentl. Tarkhan Batiraschwili), der dort prominenteste Milizen-Führer aus dem Kaukasus (SWP 10.2015).

Seit Ende 2014 mehren sich Meldungen über Risse im bewaffneten Untergrund und Streitigkeiten in der damaligen Führung des Emirats, die vor allem mit der Beteiligung nordkaukasischer Kämpfer am Jihad des IS in Syrien zu tun haben. Eine wachsende Zahl von Feldkommandeuren (Emiren) aus Dagestan, Tschetschenien und anderen Teilen des Nordkaukasus haben IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi den Treueid geschworen (SWP 4.2015). Nach Dokku Umarows Tod 2013 wurde Aliaschab Kebekow [aka Ali Abu Muhammad] zum Anführer des Kaukasus Emirates. Dieser ist im Nordkaukasus bei einem Einsatz russischer Spezialkräfte im Frühling 2015 getötet worden (Zeit Online 20.4.2015). Abu Usman Gimrinsky (Magomed Suleimanov) wurde zum Nachfolger (Open Democracy 29.6.2015). Im August 2015 erlitt der Rest des noch bestehenden Kaukasus Emirat einen erneuten harten Rückschlag. Drei der Top-Kommandanten wurden im Untsukul Distrikt in Dagestan von Regierungskräften getötet, darunter der neue Anführer des Emirates Abu Usman Gimrinsky (Magomed Suleimanov) (Jamestown 14.8.2015).

Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).

Der russische Generalstaatsanwalt erklärte im November 2015, dass 650 Strafverfahren aufgrund der Beteiligung in einer illegalen bewaffneten Gruppierung im Ausland eröffnet wurden. Laut Chef des FSB (Inlandsgeheimdienst) sind davon 1.000 Personen betroffen. Zusätzlich wurden 770 Aufständische und ihre Komplizen inhaftiert und 156 Kämpfer wurden im Nordkaukasus 2015 getötet, einschließlich 20 von 26 Anführern, die dem IS die Treue geschworen hatten. Mehr als 150 Rückkehrer aus Syrien und dem Irak wurden zu Haftstrafen verurteilt. 270 Fälle wurden eröffnet, um vermeintliche Terrorfinanzierung zu untersuchen; 40 Rekrutierer sollen allein in Dagestan verhaftet und verurteilt worden sein. Vermeintliche Rekrutierer wurden verhaftet, da sie Berichten zufolge junge Personen aus angesehenen Familien in Tschetschenien, aber auch aus Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg, der Stavropol Region und der Krasnodar Region für den IS gewinnen wollten (ICG 14.3.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (1.6.2016b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 1.6.2016

-

ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad?

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-north-caucasus-insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 1.6.2016

-

Jamestown Foundation (14.8.2015): After Loss of Three Senior Commanders, Is the Caucasus Emirate on the Ropes? Eurasia Daily Monitor Volume 12, Issue 154,

http://www.jamestown.org/programs/edm/single/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=44288&tx_ttnews%5BbackPid%5D=27&cHash=e1581c2f53e999f26a5cc0261f489d38, Zugriff 1.6.2016

-

Open Democracy (29.6.2015): Is this the end of the Caucasus Emirate?,

https://www.opendemocracy.net/regis-gente/is-this-end-of-caucasus-emirate, Zugriff 1.6.2016

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 1.6.2016

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 1.6.2016

-

Zeit Online (20.4.2015): Islamistischer Rebellenführer Kebekow im Nordkaukasus getötet,

http://www.zeit.de/news/2015-04/20/russland-islamistischer-rebellenfuehrer-kebekow-im-nordkaukasus-getoetet-20222007, Zugriff 1.6.2016

Nordkaukasus allgemein

Die patriotische Begeisterung, mit der in Russland die Annexion der Krim einherging, rückte die Sicherheitslage im Nordkaukasus in ein trügerisch positives Licht. Dieser Landesteil ragt in der nachsowjetischen Periode aus dem regionalen Gefüge der Russischen Föderation wie kein anderer hervor, bedingt durch die zwei Kriege in Tschetschenien, anhaltende Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und einem bewaffneten islamistischen Untergrund in weiteren Teilen der Region sowie mannigfache sozial-ökonomische Probleme. Bis vor kurzem rangierte der Nordkaukasus in der Gewaltbilanz des gesamten post-sowjetischen Raumes an oberster Stelle, fielen den bewaffneten Auseinandersetzungen doch jährlich mehrere Hundert Menschen zum Opfer - Zivilisten, Sicherheitskräfte und Untergrundkämpfer. 2014 wurde der Nordkaukasus in dieser Hinsicht von der Ostukraine überholt. Zugleich stufen auswärtige Analysen die Sicherheitslage im Nordkaukasus aber weiterhin mit ‚permanent low level insurgency' ein. Im Unterschied zum Südkaukasus mit seinen drei unabhängigen Staaten (Armenien, Aserbaidschan, Georgien) haben externe Akteure und internationale Organisationen kaum Zugang zum Nordkaukasus, dessen Entwicklung als innere Angelegenheit Russlands gilt (SWP 4.2015).

2015 wurden aus dem Nordkaukasus weniger Angriffe bewaffneter Gruppen gemeldet als in den Vorjahren. Die Strafverfolgungsbehörden setzten bei der Bekämpfung bewaffneter Gruppen weiterhin vor allem auf Operationen der Sicherheitskräfte. Es bestand nach wie vor der Verdacht, dass diese mit rechtswidrigen Inhaftierungen, Folter und anderen Misshandlungen von Häftlingen sowie Verschwindenlassen einhergingen (AI 24.2.2016).

Während sich die Situation im westlichen Nordkaukasus in den letzten Jahren stabilisiert hat, gibt es immer wieder Meldungen über gewaltsame Vorfälle mit Toten und Verletzten in der Region. Besonders betroffen ist weiterhin die Republik Dagestan. Aber auch in Tschetschenien, Kabardino-Balkarien und Inguschetien kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Zwischenfällen, so dass von einer Normalisierung nicht gesprochen werden kann. Anschlagsziele der Aufständischen sind vor allem Vertreter der Sicherheitskräfte und anderer staatlicher Einrichtungen sowie den Extremisten nicht genehme muslimische Geistliche. Auf Gewalt durch islamistische Aufständische oder im Zuge von Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans reagieren die regionalen und föderalen Behörden weiterhin mit Repression. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich dadurch weiter, wobei manche Repressalien - etwa gegen Angehörige angeblicher Islamisten, wie z.B. die Zerstörung ihrer Wohnhäuser - zu einer Radikalisierung der Bevölkerung beitragen und damit die Sicherheitslage weiter eskalieren lassen könnten.

Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass im Nordkaukasus Recht und Gesetz auf beiden Seiten missachtet werden und für Täter aus den Reihen der Sicherheitskräfte ein Klima der Straflosigkeit herrsche (AA 5.1.2016).

Trotz der Versuche Moskaus, die sozioökonomische Situation im Nordkaukasus zu verbessern, ist die Region nach wie vor weitgehend von Transferzahlungen des föderalen Zentrums abhängig. Im Mai 2014 wurde ein neues Ministerium für die Angelegenheiten des Nordkaukasus geschaffen und der bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten im Nordkaukasischen Föderalbezirk Alexander Chloponin, durch den früheren Oberbefehlshaber der Vereinigten Truppen des Innenministeriums im Nordkaukasus, Generalleutnant Sergej Melikov, ersetzt. Insbesondere in Dagestan, wo es immer wieder zu blutigen Zusammenstößen zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften kommt, ist die Lage weiterhin kritisch. In Tschetschenien hat Ramzan Kadyrov die Rebellen mit Gewalt und Amnestieangeboten dezimiert bzw. zum Ausweichen auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan gezwungen. Anschläge auf den Expresszug nach St. Petersburg im November 2009, die Moskauer Metro im April 2010, den Moskauer Flughafen Domodedovo im Jänner 2011 (mit zwei österr. Staatsbürgern unter den Opfern) sowie im Oktober und Dezember 2013 in Wolgograd zeigten, dass die Gefahr des Terrorismus auch Zentralrussland betrifft (ÖB Moskau 10.2015).

Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar, sowie die Extremisten im Nordkaukasus, die ihre Loyalität gegenüber dem IS bekundet haben. Der Generalsekretär des russischen Nationalen Sicherheitsrats Nikolai Patrushev sprach von rund 1.000 russischen Staatsangehörigen, die an der Seite des IS kämpfen würden, der Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Alexander Bortnikov hingegen sprach von mehreren Tausend Kämpfern). Laut einem rezenten Bericht der regierungskritischen Zeitschrift "Novaya Gazeta" nehmen die russischen Sicherheitsdienste diese Abwanderung nicht nur stillschweigend zur Kenntnis, sondern unterstützen sie teilweise auch aktiv, in der Hoffnung, die Chance auf eine Rückkehr der Extremisten aus den Kampfgebieten in Syrien und dem Irak zu reduzieren. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresbeginn 2015 liefen rund 60 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf Art. 58 StGB (Teilnahme an einer terroristischen Handlung), Art. 205.3 StGB (Absolvierung einer Terror-Ausbildung) und Art. 208 StGB (Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme in ihr). Im nordkaukasischen Kreismilitärgericht wurde Ende August 2015 ein 26-jähriger Mann aus Dagestan wegen Absolvierung einer Terror-Ausbildung, Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Gruppierung und illegalen Waffenbesitzes zu 14 Jahren Straflager verurteilt. Der Nordkaukasus ist und bleibt trotz anhaltender politischer wie wirtschaftlicher Stabilisierungsversuche ein potentieller Unruheherd innerhalb der Russischen Föderation. Das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Extremisten, teils ohne Rücksicht auf Verluste innerhalb der Zivilbevölkerung, trägt zur Bildung neuer Konflikte und Radikalisierung der Bevölkerung bei. Das Risiko einer Destabilisierung steigt darüber hinaus aufgrund der allfälligen Rückkehr von Kämpfern aus Syrien und dem Irak bzw. aufgrund des steigenden Einflusses des IS im Nordkaukasus selbst (ÖB Moskau 10.2015).

Im Jahr 2015 gab es nach Angaben von Caucasian Knot im gesamten Föderalen Distrikt Nordkaukasus 258 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2014: 525 Opfer). 209 davon wurden getötet (2014: 341), 49 verwundet (2014: 184) (Caucasian Knot 8.2.2016). Im ersten Quartal 2016 gab es im gesamten Föderalen Distrikt Nordkaukasus 48 Opfer des bewaffneten Konfliktes, 20 davon getötet, 28 davon verwundet (Caucasian Knot 10.5.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.1.2016): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (24.2.2016): Amnesty International Report 2015/16 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, http://www.ecoi.net/local_link/319681/458907_de.html, Zugriff 1.6.2016

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Caucasian Knot (8.2.2016): Statistics of victims in Northern Caucasus for 2015, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/34527/, Zugriff 25.5.2016

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Caucasian Knot (10.5.2016): Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2016,

http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/35530/, Zugriff 1.6.2016

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ÖB Moskau (10.2015): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 25.5.2016

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, vor allem jedoch an der derzeit prominentesten und brutalsten Jihad-Front in Syrien und im Irak (SWP 4.2015).

2015 gab es in Tschetschenien 30 Opfer des bewaffneten Konfliktes (2014: 117), davon 14 Tote und 16 Verwundete (Caucasian Knot 8.2.2016).

Im Dezember 2014 ist Tschetschenien von den schwersten Gefechten zwischen islamistischen Kämpfern und Sicherheitskräften seit Jahren erschüttert. Dabei wurden am Donnerstag, den 4.12.2014, in der Hauptstadt Grosny mindestens 10 Angreifer und 10 Beamte getötet sowie 20 weitere Personen verletzt (NZZ 4.12.2014).

Quellen:

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Caucasian Knot (8.2.2016): Statistics of victims in Northern Caucasus for 2015, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/34527/, Zugriff 1.6.2016

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (4.12.2014): Tote bei Gefechten in Grosny,

http://www.nzz.ch/international/asien-und-pazifik/tote-bei-gefechten-in-grosny-1.18438064, Zugriff 1.6.2016

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 1.6.2016

11.3. Rebellentätigkeit / Unterstützung von Rebellen

Im August 2014 meldete der Inlandsgeheimdienst FSB Erfolge bei der Bekämpfung von Terrorismus im Nordkaukasus, was in Expertenkreisen jedoch auf Zweifel stieß. Die Rede war von 328 potentiellen Terroristen, die im ersten Halbjahr 2014 verhaftet wurden. Da die Sicherheitskräfte im Nordkaukasus aber nach dem Prinzip kollektiver Bestrafung vorgehen, handelte es sich hierbei möglicherweise weniger um aktive Untergrundkämpfer als um Personen aus deren sozialem und verwandtschaftlichem Umfeld. Im Januar 2015 berichtete das russische Innenministerium, 2014 sind 259 Rebellen, darunter 36 Kommandeure, von Sicherheitskräften getötet und 421 Untergrundkämpfer verhaftet worden (SWP 4.2015).

Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren, Schätzungen gehen von einem Dutzend bis ca. 120 Personen aus. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer, als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand seinen Hotspot hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens. Sie bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Kidnappings werden von tschetschenischen Sicherheitskräften begangen. In Tschetschenien selbst ist also der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan und auch in Inguschetien. Die Kämpfer würden auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung im Allgemeinen bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).

Im November 2013 wurden in Russland neue Gesetze verabschiedet, welche die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen vorsehen. Sie legalisieren Kollektivbestrafungen, welche bereits in mehreren Republiken des Nordkaukasus als Form des Kampfs gegen den Aufstand praktiziert werden. Die Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, welche durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind. Das Gesetz sieht vor, dass Familienangehörige und Verwandte von Terrorverdächtigen belegen müssen, dass ihre Vermögenswerte, Immobilien und weitere Besitztümer nicht durch "terroristische Aktivitäten" erworben wurden. Wenn nicht bewiesen werden kann, dass die Vermögenswerte legal erworben wurden, kann der Staat sie beschlagnahmen. Auch Personen, welche Terrorverdächtigen nahestehen, können mit dem Gesetz belangt werden. Nach Einschätzung von Experten wird das Gesetz weitgehend zur Diskriminierung der Angehörigen Terrorismusverdächtiger führen. Weiter kritisieren Experten, dass das Gesetz durch die unklare Verwendung der Begriffe "Verwandte" und "nahestehende Personen" sich gegen ganze Familienclans in den muslimischen Republiken des Nordkaukasus richten könne. Nach Angaben von Swetlana Gannuschkina werden Familienangehörige von Terrorverdächtigen oft beschuldigt, sie unterstützten auch illegale bewaffnete Gruppierungen auf verschiedenste Art und Weise. Insbesondere kritisiert die Menschenrechtsaktivistin, dass bereits der bloße Verdacht für eine Anschuldigung reiche und kein Beweis notwendig sei. Die Verfolgung von Verwandten und Freunden von Aufständischen ist seit 2008 im Nordkaukasus weit verbreitet und geht oft mit der Zerstörung des Besitzes und Hauses einher. Nach übereinstimmenden Angaben verschiedener Quellen kommt es zu Übergriffen und Kollektivstrafen durch Sicherheitskräfte, die gegen Familien von vermuteten Terroristen gerichtet sind (SFH 25.7.2014).

Kollektivstrafen wie das Niederbrennen von Häusern von Personen, die man verdächtigt, Kontakte zum terroristischen Widerstand zu haben, werden weitergeführt (Caucasian Knot 9.12.2014). Nach der Terrorattacke auf Grosny am 4.12.2014, hat Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft genommen. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des "Komitees gegen Folter" Igor Kaljapin, dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden seien (Standard 14.12.2014).

Quellen:

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Caucasian Knot (9.12.2014): "Memorial" confirmed information of "Caucasian Knot" about burnt-down houses of relatives of militants killed in attack on Grozny,

http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/30180/, Zugriff 30.5.2016

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DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 30.5.2016

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SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.7.2014): Russland:

Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger außerhalb Dagestans,

http://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/russland/russland-verfolgung-von-verwandten-dagestanischer-terrorverdaechtiger-ausserhalb-dagestans.pdf, Zugriff 30.5.2016

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Der Standard (14.12.2014): Tschetschenien: NGO-Büro in Grosny angezündet,

http://derstandard.at/2000009372041/Tschetschenien-NGO-Buero-in-Grosny-abgefackelt, Zugriff 30.5.2016

-

SWP (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 25.5.2016

Frauen

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau. Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form v

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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