TE Vwgh Erkenntnis 2017/11/17 Ro 2016/02/0006

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Veröffentlicht am 17.11.2017
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
90/01 Straßenverkehrsordnung;

Norm

FahrradV 2001 §1 Abs1 Z1;
FahrradV 2001;
StVO 1960 §66 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Dr. N. Bachler und Mag. Straßegger, als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Harrer, über die Revision der Landespolizeidirektion Wien, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 10. Mai 2016, Zl. VGW-031/059/12870/2015/A-9, betreffend Übertretung der StVO (mitbeteiligte Partei: K in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem Straferkenntnis der revisionswerbenden Partei vom 24. September 2015 wurde die mitbeteiligte Partei schuldig erkannt, am 14. Juli 2015 um 16:52 Uhr in 1010 Wien, Opernring 4, Radweg, Richtung Babenbergerstraße ein Fixi-Fahrrad gelenkt zu haben, welches nicht vorschriftmäßig ausgerüstet gewesen sei, weil nicht zwei voneinander unabhängig wirkende Bremsvorrichtungen, mit denen auf trockener Fahrbahn eine mittlere Bremsverzögerung von 4 m/s2 bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 20 km/h erreicht werde, vorhanden gewesen seien. Es sei lediglich eine Vorderbremse vorhanden gewesen, hinten habe sich keine Bremsvorrichtung befunden ("starrer Antrieb FIXI").

2 Die mitbeteiligte Partei habe dadurch § 66 Abs. 1 StVO iVm § 1 Abs. 1 Ziffer 1 Fahrradverordnung verletzt. Über die mitbeteiligte Partei wurde deswegen eine Geldstrafe in Höhe von EUR 70,00 (Ersatzfreiheitsstrafe von 35 Stunden) verhängt.

3 Gegen dieses Straferkenntnis erhob die mitbeteiligte Partei Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien.

4 In der Beschwerde beantragte die mitbeteiligte Partei die Aufhebung des Strafbescheids und die Einstellung des Strafverfahrens. Sie verwies auf eine Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts Steiermark, welches ein Straferkenntnis mit vergleichbarem Sachverhalt behoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt habe.

5 Weiters brachte die mitbeteiligte Partei in der Beschwerde im Wesentlichen vor, dass sich keine Strafbarkeit der Tathandlung ergebe, weil in der Fahrradverordnung Prüfkriterien für die Erfüllung des Straftatbestandes "keine zwei Bremsvorrichtungen" fehlen würden. Zudem würde eine Bestrafung wegen mangelnder Bremskraft einer oder mehrerer Bremsvorrichtungen an den fehlenden Feststellungen zur erreichbaren Bremskraft beider vorliegenden "Bremsvorrichtungen" scheitern, weil beide "Bremsvorrichtungen" des gegenständlichen Fahrrades die in der Fahrradverordnung genannten Verzögerungswerte erreichen würden. Es werde nicht ausgeführt, was als Bremsvorrichtung im Sinne der Fahrradverordnung zu verstehen sei. Die Bremskraft werde in der Fahrradverordnung klar definiert, Feststellungen zur tatsächlichen erzielbaren Bremskraft fehlten jedoch. Ebenfalls sei dem in der Begründung der Erstbehörde zu entnehmenden Argument der "ungünstigen Pedalstellung", in der möglicherweise keine gute Bremswirkung erzielt werden könne, zu widersprechen.

6 Im Zuge der Beschwerde beantragte die mitbeteiligte Partei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, eine Bremsprobe mit dem Fahrrad sowie die Beiziehung eines technischen Sachverständigen zur Beurteilung der Frage, ob aus mechanischphysikalischer Sicht mit Rücktritt eine mit anderen Bremsvorrichtungen vergleichbare Bremskraft erzielt werden könne.

7 Das Verwaltungsgericht gab nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung der Beschwerde insoweit Folge, als das Straferkenntnis behoben und das Verfahren eingestellt wurde.

8 Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass die Fahrradverordnung keine Bedingungen festlege, unter welchen die dort geforderte Bremsverzögerung von 4 m/s2 bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 20 km/h erreicht werden solle, außer dass dies auf trockener Fahrbahn und mit zwei voneinander unabhängig wirkenden Bremsvorrichtungen geschehen solle. Eine Konkretisierung, wie die zwei voneinander unabhängig wirkenden Bremsvorrichtungen ausgeführt sein müssen, sei der Fahrradverordnung nicht zu entnehmen. Das Verwaltungsgericht folge nicht der Auffassung, dass die Möglichkeit durch Körperkraft eine Verzögerung oder Blockade der Radumdrehungen herbeizuführen keine Einrichtung schaffe, die als Bremsvorrichtung bezeichnet werden könne. In der Fahrradverordnung sei weder von einer "Bremse" noch einer "Bremsanlage" die Rede, worunter sich ein funktional klar abgegrenztes Aggregat zur Verringerung der Fahrgeschwindigkeit des Rades verstehen ließe. Die Fahrradverordnung sehe lediglich eine finale Determinierung im Hinblick auf die geforderte Bremsleistung vor. Jede Vorrichtung eines Fahrrades, mit der sich der in der Verordnung genannte Schwellenwert unter den dort näher ausgeführten Bedingungen sicher erreichen lasse, habe daher als "Bremsvorrichtung" im Sinne des Normentextes zu gelten. Nach den schlüssigen und plausibel erscheinenden Ausführungen des Amtssachverständigen in der mündlichen Verhandlung müsse auch gefolgert werden, dass die mit der gegenständlich angewandten Bremsmethode erzielbaren Bremsleistungen jenen unter Zuhilfenahme einer - zweifelsohne als Bremsvorrichtung geltenden - Nabenrücktrittsbremse durchaus entsprechen würden. Sei davon auszugehen, dass Aspekte der Verkehrssicherheit bei Verwendung einer Nabenrücktrittsbremse hinreichend gewahrt seien, müsse dies auch für die gegenständlich angewandte Bremsmethode gelten.

9 Das Verwaltungsgericht Wien führte ferner aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof für die mitbeteiligte Partei unzulässig, für die Landespolizeidirektion Wien jedoch eine ordentliche Revision zulässig sei.

10 Ob der starre Gang (die starre Nabe) eine Bremsvorrichtung im Sinne der Fahrradverordnung sei, werde von den Landesverwaltungsgerichten uneinheitlich beurteilt. Im Schrifttum werde die Meinung vertreten, dass dies keine Bremsvorrichtung darstelle. Nach vom erkennenden Gericht durchgeführter Internetrecherche erfreuten sich sogenannte "Fixi-Räder" steigender Beliebtheit. Da somit Aspekte der Verkehrssicherheit tangiert seien und aufgrund der aufgezeigten Rechtsunsicherheit sei davon auszugehen, dass hier eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zur Beurteilung stehe, der grundsätzliche Bedeutung zukomme. Die ordentliche Revision seitens der Landespolizeidirektion Wien sei daher zuzulassen.

11 Gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien erhob die Landespolizeidirektion Wien wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes vorliegende Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

12 Zur Zulässigkeit der Revision bringt die revisionswerbende Partei unter anderem vor, dass keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Rechtsfrage vorliege, ob ein "starrer Gang" ("starre Nabe") eines Fahrrades als Bremsvorrichtung im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 Fahrradverordnung anzusehen sei. Zudem existiere keine einheitliche Rechtsprechung der Landesverwaltungsgerichte. Das Verwaltungsgericht Wien sehe im Erkenntnis vom 13. März 2015 einen "starren Gang" ("starre Nabe") eines Fahrrades nicht als Bremsvorrichtung im Sinne der Fahrradverordnung an. Dem entgegenstehend habe das Verwaltungsgericht Steiermark in einem Erkenntnis vom 8. April 2015 es als "nicht beweisbar" angesehen, dass ein solches "Bremssystem" der Ausrüstungsvorschrift der Fahrradverordnung nicht entspreche, weil die Fahrradverordnung keine Bedingungen festlege, unter welchen die dort geforderte Bremsverzögerung erreicht werden sollte. Eine nähere Konkretisierung, wie die zwei voneinander unabhängig wirkenden Bremsvorrichtungen ausgeführt sein müssen, sei der Fahrradverordnung nicht zu entnehmen.

13 In der Revisionsbeantwortung wird von der mitbeteiligten Partei auf die Ausführungen in der Beschwerde verwiesen und vorgebracht, dass Bremsungen entgegen der Ausführungen in der Revision mit dem Pedal aus nahezu unendlich vielen Pedalstellungen heraus vorgenommen werden könnten. Ein Aufstehen sei nicht immer erforderlich und die Bremsungen können in unterschiedlicher Stärke angewandt werden. Wie beim Kfz werde durch das Blockieren eines Rades die maximale Bremswirkung erreicht. Ein gewolltes Unterschreiten dieser in Gefahrenmomenten stelle eine vorwerfbare, falsche Reaktion des Fahrzeuglenkers dar. Muskelkraft, Übung, Vertrautheit mit dem Fahrrad sowie Geschick seien zweifelsfrei notwendige Fähigkeiten beim Fahrradfahren; also auch bei jeder Art des Bremsens.

14 Der Verwaltungsgerichthof hat erwogen:

15 Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

16 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist.

17 Nach Art 34 Abs. 1a erster Satz VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 nicht gebunden.

18 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

19 § 66 Abs. 1 und 2 StVO idgF lautet wie folgt:

"§ 66. (1) Fahrräder müssen der Größe des Benützers entsprechen. Fahrräder, Fahrradanhänger und Kindersitze müssen in einem Zustand erhalten werden, der den Anforderungen der Produktsicherheitsbestimmungen für Fahrräder (§ 104 Abs. 8) entspricht.

(2) Der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie hat unter Bedachtnahme auf die Verkehrssicherheit und den Stand der Technik durch Verordnung festzulegen:

1.        unter welchen Voraussetzungen bestimmte Teile der

Ausrüstung von Fahrrädern oder Fahrradanhängern entfallen können;

2.        unter welchen Voraussetzungen die Beförderung von

Kindern in Kindersitzen oder Personen mit Fahrradanhängern und

mehrspurigen Fahrrädern zulässig ist;

3.        das Ladegewicht, das bei der Beförderung von Lasten oder

Personen mit Fahrrädern oder mit Fahrradanhängern nicht überschritten werden darf."

20 Gemäß § 1 Abs. 1 Ziffer 1 der Fahrradverordnung idgF muss jedes Fahrrad, das in Verkehr gebracht wird, mit zwei voneinander unabhängig wirkenden Bremsvorrichtungen ausgerüstet sein, mit denen auf trockener Fahrbahn eine mittlere Bremsverzögerung von 4 m/s2 bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 20 km/h erreicht wird.

21 Die Fahrradverordnung richtet sich einerseits an jene Personen, die Fahrräder in Verkehr bringen, anderseits normiert die Fahrradverordnung im Zusammenhalt mit § 66 Abs. 1 zweiter Satz StVO 1960 auch Lenkerpflichten, die dann eintreten, wenn ein Fahrrad auf Straßen mit öffentlichem Verkehr verwendet wird (VfGH 2.3.2012, G 158/10).

22 Das revisionsgegenständliche Fahrrad ist unstrittig mit einer Vorderradbremse ausgestattet. Um den Anforderungen der Fahrradverordnung nach "zwei voneinander unabhängig wirkenden Bremsvorrichtungen" zu genügen, stellt sich die vom Verwaltungsgerichtshof bisher in seiner Rechtsprechung nicht beantwortete Rechtsfrage, ob der "starre Gang" bzw. die "starre Nabe" eines sogenannten "Fixed-Gear-Bike" als Bremsvorrichtung im Sinne der Fahrradverordnung anzusehen ist.

23 Die starre Nabe ist aus nachstehenden Gründen nicht als Bremsvorrichtung im Sinne der Fahrradverordnung einzustufen.

24 Entgegen den Ausführungen der mitbeteiligten Partei sieht die Fahrradverordnung keine lediglich finale Determinierung im Hinblick auf die geforderte Bremsleistung vor. Es ist nicht entscheidend, dass die mitbeteiligte Partei durch individuelles Geschick und Körperkraft die in § 1 Abs. 1 Z 1 Fahrradverordnung angeführten Werte erreicht.

25 Die bloße Möglichkeit, durch Körperkraft (Verlangsamung des Trittes, Blockieren der Räder durch Beinstarre) eine Verzögerung oder Blockade der Radumdrehung herbeizuführen, schafft noch keine Einrichtung, die als Bremsvorrichtung bezeichnet werden kann (vgl. Pürstl, ZVR 2016/13, 33).

26 Die Wirkung der Bremsverzögerung bei der starren Nabe hängt allein vom Einsatz der jeweiligen Körperkraft und dem individuellen Geschick des Lenkers ab. Die starre Nabe ist somit primär als Antriebsmechanismus und nicht als (eigenständige) Bremsvorrichtung im Sinne der Fahrradverordnung anzusehen.

27 Bei einer Bremsvorrichtung im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 Fahrradverordnung muss es sich vielmehr um einen eigenen Ausrüstungsgegenstand am Fahrrad handeln, der - wie schon aus dem Begriff "Bremsvorrichtung" ableitbar ist - ausschließlich dem Bremsen eines Fahrrades dient.

28 Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargelegten Gründen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 17. November 2017

Schlagworte

Besondere RechtsgebieteAuslegung unbestimmter Begriffe VwRallg3/4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RO2016020006.J00

Im RIS seit

06.12.2017

Zuletzt aktualisiert am

07.12.2017
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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