Entscheidungsdatum
13.11.2017Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W211 2148631-1/6E
W211 2118817-1/9E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a SIMMA über die Beschwerden von 1) XXXX, geb. am XXXX und 2) XXXX, geboren am XXXX, StA. Somalia, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1) XXXX, Zl.XXXX und 2) XXXX, Zl. XXXX, beschlossen:
A) In Erledigung der Beschwerde werden die bekämpften Bescheide
behoben und die Angelegenheiten gemäß 1) § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG und 2) § 34 Abs. 4 AsylG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin 1) wurde am XXXXXXXX geboren und stellte durch ihre gesetzliche Vertreterin am XXXX2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der Beschwerdeführerin 1) bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.).
Die Behörde stellte die Identität der Beschwerdeführerin 1) nicht fest, ihre somalische Staatsangehörigkeit jedoch schon. Während der Vater der Beschwerdeführerin in Österreich asylberechtigt sei, wäre sein Status für die gegenständliche Entscheidung nicht heranzuziehen, weil eine Ehe zwischen den Eltern in Somalia nicht bestanden habe. Eigene Fluchtgründe seien nicht vorgebracht worden. Der Mutter der Beschwerdeführerin 1), der Beschwerdeführerin 2), sei subsidiärer Schutz zuerkannt worden, weshalb dies auch der Beschwerdeführerin 1) zuzuerkennen sei.
3. Gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides wurde rechtzeitig eine Beschwerde eingebracht, in der ausgeführt wurde, dass auch amtswegig eine eigene Verfolgungsgefahr der Beschwerdeführerin 1), wie zB eine drohende FGM in Somalia, einzubeziehen gewesen wäre.
II. Entscheidungswesentlicher Sachverhalt, Feststellungen, Beweiswürdigung:
Die Beschwerdeführerin 1) wurde am XXXXXXXX in Österreich geboren (Geburtsurkunde vom XXXXXXXX). Am XXXXXXXXstellte die Mutter der Beschwerdeführerin 1), die Beschwerdeführerin 2), einen "Antrag nachgeborenes Kind" und beantragte "gem. § 34 AsylG 2005 die Gewährung desselben Schutzes wie in meinem Fall" (AS 1).
Der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin 2) wurde mit Bescheid des BFA vom XXXX2015 betreffend die Zuerkennung von Asyl abgewiesen, ihr der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Bescheid vom XXXX2015, AS 41ff). Eine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids ist unter der Aktenzahl W211 2118817-1 beim BVwG anhängig.
Dem Vater der Beschwerdeführerin 1) wurde mit Bescheid vom XXXX2013 der Status eines Asylberechtigten in Österreich zuerkannt (AS 40, Bescheid BF1).
Zum gegenständlichen Antrag der Beschwerdeführerin 1) auf internationalen Schutz fand keine Einvernahme im Verfahren vor dem BFA statt. Im angefochtenen Bescheid die Beschwerdeführerin 1) betreffend wurden keinerlei Feststellungen zur Situation in Somalia getroffen.
III. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zu A)
1. Der rechtlichen Beurteilung werden die folgenden allgemeinen Erwägungen zugrunde gelegt:
1.1. Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Wie eben ausgeführt, ist gemäß § 17 VwGVG der IV. Teil des AVG und somit auch
§ 66 Abs. 2 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG), in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998, nicht anzuwenden.
Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (§ 28 Abs. 2 VwGVG).
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist (§ 28 Abs. 3 VwGVG).
1.2. Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, Stand der Rechtslage 01.01.2014, § 28 VwGVG, Anmerkung 11).
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.
Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu der vergleichbaren Bestimmung des
§ 66 Abs. 2 AVG ergibt sich, dass nur Mängel der Sachverhaltsfeststellung d.h. im Tatsachenbereich zur Behebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit berechtigen (vgl. VwGH 19.01.2009, 2008/07/0168; VwGH 23.05.1985, 84/08/0085).
Der Verwaltungsgerichtshof hat mit den Erkenntnissen vom 21.11.2002, 2002/20/0315 und 2000/20/0084, grundsätzliche Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 66 Abs. 2 AVG im Asylverfahren im Allgemeinen und durch den Unabhängigen Bundesasylsenat im Besonderen getätigt.
Dabei hat er im letztgenannten insbesondere ausgeführt:
"Bei der Abwägung der für und gegen eine Entscheidung gemäß § 66 Abs. 2 AVG sprechenden Gesichtspunkte muss nämlich auch berücksichtigt werden, dass das Asylverfahren nicht nur möglichst kurz sein soll. Zur Sicherung seiner Qualität hat der Gesetzgeber einen Instanzenzug vorgesehen, der zur belangten Behörde und somit zu einer gerichtsähnlichen, unparteilichen und unabhängigen Instanz als besonderem Garanten eines fairen Asylverfahrens führt (vgl. bereits das Erkenntnis vom 16. April 2002, Zahl 99/20/0430). Die der belangten Behörde in dieser Funktion schon nach der Verfassung zukommende Rolle einer obersten Berufungsbehörde (Art. 129c 1 B-VG) wird aber ausgehöhlt und die Einräumung eines Instanzenzuges zur bloßen Formsache degradiert, wenn sich das Asylverfahren einem erstinstanzlichen Verfahren vor der Berufungsbehörde nähert, weil es das Bundesasylamt ablehnt, auf das Vorbringen sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen. Diese über die Unvollständigkeit der Einvernahme hinaus gehenden Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens sprechen auch bei Bedachtnahme auf die mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens unter dem Gesichtspunkt, dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst bei der "obersten Berufungsbehörde" beginnen und zugleich - abgesehen von der im Sachverhalt beschränkten Kontrolle der letztinstanzlichen Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof - bei derselben Behörde enden soll, für die mit der Amtsbeschwerde bekämpfte Entscheidung."
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063-4, unter anderem ausgeführt, dass gemäß den Bestimmungen des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG bereits nach dem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht kommt, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 BVG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt. Weiters wird zusammengefasst ausgeführt, dass auch eine an der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art. 130 Abs. 4 B-VG orientierte Auslegung ergibt, dass eine Aufhebung des Bescheides der Verwaltungsbehörde jedenfalls erst dann in Betracht kommt, wenn die in § 28 Abs. 2 VwGVG normierten Voraussetzungen, die eine Pflicht des Verwaltungsgerichtes zur "Entscheidung in der Sache selbst" nach sich ziehen, nicht vorliegen. Aus den im Erkenntnis wiedergegeben Gesetzesmaterialien zur Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 ist ersichtlich, dass dem Verwaltungsgericht in den in Art. 130 Abs. 4 B-VG vorgesehenen und in § 28 Abs. 2 VwGVG angeordneten Fällen eine kassatorische Entscheidung nicht offensteht. Damit normiere § 28 VwGVG für die überwiegende Anzahl der Fälle die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte, in der Sache selbst zu entscheiden. Derart wird (wie erwähnt) der sich schon aus Art. 130 Abs. 4 B-VG ergebenden Zielsetzung, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst entscheiden sollen, Rechnung getragen. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73f).
1.3. Gemäß § 2 Abs. 1 Z. 22 AsylG 2005 ist ein_e "Familienangehörige_r" im Sinne dieses Gesetzes u.a., wer leiblicher Elternteil eines minderjährigen Kindes oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind einer/eines Asylwerberin/Asylwerbers ist.
§ 34 Abs. 4 Satz 1 AsylG 2005 normiert, dass die Behörde Anträge von Familienangehörigen einer/eines Asylwerberin/Asylwerbers gesondert zu prüfen, aber unter einem zu führen, hat.
Dazu hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 18.09.2015, E 1174/2014-18, unter Verweis auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Folgendes festgehalten:
"Vor allem aber hat das Bundesverwaltungsgericht nicht erkannt, dass das Verfahren des Beschwerdeführers ab dem Zeitpunkt des Asylantrages des Vaters des Beschwerdeführers, dessen Verfahren im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht abgeschlossen gewesen ist, gemäß § 34 AsylG 2005 zwingend gemeinsam mit dem des Vaters (und dessen weiteren Kindern und seiner nunmehrigen Ehefrau) als Familienverfahren durchzuführen war (vgl. etwa auch VwGH 9.4.2008, 2008/19/0205). Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher den bei ihm angefochtenen Bescheid des BAA im Spruchpunkt der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten aufzuheben und die Durchführung eines Familienverfahrens mit der Familie des Vaters anzuordnen gehabt".
2. Auf den gegenständlichen Sachverhalt finden diese allgemeinen Erwägungen Anwendung wie folgt:
2.1. Zum Ersten liegen tatsächlich krasse Ermittlungs- und Feststellungsmängel vor.
Gemäß § 18 Abs. 1 1. Fall AsylG hat das Bundesamt in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG ist ein Asylwerber vom Bundesamt, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wird - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Eine Einvernahme kann unterbleiben, wenn dem Asylwerber ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt (§ 12a Abs. 1 oder 3).
Bereits aus § 34 Abs. 1 AsylG ergibt sich, dass jeder Antrag eines/einer Familienangehörigen – anders als nach dem Asylerstreckungsverfahren nach dem AsylG 1997 in der Fassung BGBl. I 101/2003 – ex lege als "Antrag auf Gewährung desselben Schutzes" gilt. Die Behörde hat somit bei einem Antrag eines/einer Familienangehörigen in jedem Fall die Bestimmungen des Familienverfahrens anzuwenden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass jeder Antrag eines/einer Familienangehörigen gesondert zu prüfen und über jeden mit gesondertem Bescheid abzusprechen ist (§ 34 Abs. 4 AsylG). Unabhängig von der konkreten Formulierung ist jeder Antrag eines/einer Familienangehörigen überdies in erster Linie auf die Zuerkennung des Status des/der Asylberechtigten gerichtet. Es sind daher für jede_n Antragsteller_in allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche – nach einem ordnungsgemäßen, also den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden, Ermittlungsverfahren – nicht hervorkommen, ist dem/der Antragsteller_in jener Schutz zu gewähren, der bereits einem/einer anderen Familienangehörigen gewährt wurde (vgl. Putzer/Rohrböck, Asylrecht, Rz 522 ff;
Frank/Anerinhofer/Filzwieser, AsylG 2005, K 13 f zu § 34;
Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005, 496 f;
Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht, Anm. 8 zu § 34 AsylG 2005; vgl. zur gesonderten Prüfung der Anträge von Familienangehörigen nach § 34 Abs. 4 AsylG etwa VwGH 21.10.2010, 2007/01/0164, wieder aufgenommen in VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063).
Die Einvernahme nach Zulassung des Verfahrens dient der Erforschung der Fluchtgründe, und ist auch an dieser Stelle festzuhalten, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Angaben eines/einer Asylwerbers/Asylwerberin im Rahmen einer Erstbefragung nicht alleinige Erkenntnisquelle für das Vorliegen von Asylgründen sein können. Gemäß § 18 Abs. 1 AsylG ist das Bundesamt zur amtswegigen Ermittlung der Fluchtgründe gehalten und präzisiert § 19 AsylG hinsichtlich der Befragung (als eine der Haupterkenntnisquellen im Asylverfahren), dass der/die Asylwerber_in persönlich von einem Organwalter des Bundesamtes einzuvernehmen ist, was im vorliegenden Beschwerdefall allerdings nicht geschehen ist. Das Bundesamt hätte eine Einvernahme auch dann durchführen müssen, wenn der/die jeweilige Antragsteller_in vermeint, keine Fluchtgründe zu haben; es ist einem/einer rechtsunkundigen, sprachunkundigen Fremden nicht zumutbar, zu erkennen, welche Gründe zur Asylgewährung führen können und welche nicht.
Das Bundesamt stützte seine abweisende Entscheidung in Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ausschließlich darauf, dass die Beschwerdeführerin 1) keine eigenen Asylgründe habe und solche auch von ihrer gesetzlichen Vertreterin nicht vorgebracht worden seien. Hierbei übersieht das Bundesamt offensichtlich, dass die Beschwerdeführerin 1) zum Zeitpunkt der Einvernahme ihrer gesetzlichen Vertreterin noch gar nicht geboren, und es dieser daher nicht möglich war, die ihre Tochter betreffenden Fluchtgründe in ihrer eigenen Einvernahme vorzubringen.
Insoweit die belangte Behörde mit ihrem Verweis darauf, die gesetzliche Vertreterin habe keine Fluchtgründe vorgebracht, auf das Antragsformular verweist, ist darauf aufmerksam zu machen, dass es sich dabei offensichtlich um einen Vordruck des BFA selbst handelt, bei dem die beiden Sätzen "Ich beantrage daher gem. § 34 AsylG 2005 die Gewährung desselben Schutzes wie in meinem Falle. Eigene Fluchtgründe habe ich für mein Kind nicht vorzubringen." bereits vorgedruckt sind, weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Angaben die Behörde von der amtswegigen Ermittlung eventueller Schutzgründe von vornherein zu befreien in der Lage ist.
Schließlich muss mittlerweile davon ausgegangen werden, dass die Möglichkeit des Vorliegens eigener Schutzgründe für ein in Österreich nachgeborenes somalisches Mädchen notorisch ist (siehe unter vielen anderen: BVwG W189 2110396 vom 13.06.2017; W196 2137615 vom 31.01.2017 und W211 2138681 und 2138683 vom 16.12.2016). Im vorliegenden Fall ist daher zu berücksichtigen, dass der Antrag auf Asyl der Beschwerdeführerin 1) vor dem Hintergrund der in Somalia praktisch kaum vermeidbaren Genitalverstümmelung kleiner Mädchen im Hinblick auf die einschlägige Judikatur durchaus aussichtsreich erscheint. Dem Bundesamt müsste es aufgrund seines Amtswissens bekannt sein bzw. hätte sich aus zu prüfenden relevanten Länderfeststellungen entnehmen lassen, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Somalia weit verbreitet ist und nicht beschnittenen Mädchen und Frauen eine solche bei einer Rückkehr drohen könnte, was unter Umständen als asylrelevante Verfolgung zu qualifizieren wäre.
Das Bundesamt hat im vorliegenden Verfahren keine relevanten Ermittlungen zu dieser Fragestellung getätigt und hat auch eine Einvernahme nicht vorgenommen, in der das Risiko der Beschwerdeführerin 1), einer Genitalbeschneidung unterzogen zu werden, geprüft hätte werden können, bzw. ihren gesetzlichen Vertretern die Gelegenheit gegeben worden wäre, allfällige weitere Antragsgründe in einer förmlichen Befragung vorzubringen.
Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesamt die Eltern der Beschwerdeführerin 1) als gesetzliche Vertreter niederschriftlich ausführlich insbesondere zum Themenkomplex der Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung zu befragen und den entscheidungswesentlichen Sachverhalt durch allfällige weitere Ermittlungen zu erheben haben, wobei auch das Beschwerdevorbringen zur Gänze zu berücksichtigen sein wird. Aufgrund des zu behandelnden Themenbereichs der weiblichen Genitalverstümmelung wird die Einvernahme von einer weiblichen Organwalterin unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin durchzuführen sein. Unter Wahrung des Grundsatzes der amtswegigen Ermittlungspflicht und des Parteiengehörs wird die belangte Behörde auch aktuelle Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat treffen, das Vorbringen der gesetzlichen Vertreter vor dem Hintergrund der aktuellen Lage im Herkunftsstaat würdigen und schließlich die rechtlichen Konsequenzen daraus ziehen müssen.
Die belangte Behörde hat hinsichtlich der Frage des Vorliegens einer asylrelevanten Verfolgung sowie der Situation im Falle einer Rückkehr keinerlei Ermittlungen vorgenommen. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts handelt es sich hierbei um besonders krasse Ermittlungsfehler.
Unter Berücksichtigung der relevanten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014 (siehe Punkt 1.1.) hat das Bundesamt kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt. Die Mängel in den Feststellungen können - im Gegensatz zum Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, welches durch die bei ihm eingerichtete Staatendokumentation rasch und effizient erforderliche Feststellungen nachholen kann - durch das erkennende Gericht nicht schneller und kostensparender behoben werden. Es war daher der angefochtene Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.
2.2. Auch der Bescheid der Beschwerdeführerin 2) – der Mutter der Beschwerdefüherin 1) - ist gemäß § 34 AsylG 2005 zu beheben und an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen, da mit dem gegenständlichen Beschluss das Verfahren betreffend die Beschwerdeführerin 1) wieder vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl anhängig wird. Damit wird sichergestellt, dass die Verfahren der Familienangehörigen iSd. § 2 Abs. 1 Z. 22 AsylG 2005 "unter einem" geführt werden können.
Im vorliegenden Fall ist besonders zu berücksichtigen, dass der Antrag auf Asyl für die Beschwerdeführerin 1) vor dem Hintergrund der in Somalia praktisch kaum vermeidbaren Genitalverstümmelung kleiner Mädchen im Hinblick auf die einschlägige Judikatur durchaus aussichtsreich erscheint. Diesfalls wäre eine Asylgewährung der Beschwerdeführerin 2) auf der Grundlage von § 34 Abs. 2 AsylG 2005 zu erwägen.
2.3. Für den Fall, dass die belangte Behörde im fortgesetzten Verfahren zum Ergebnis kommen sollte, dass der Beschwerdeführerin 1) der (originäre) Status der Asylberechtigten nicht zuzuerkennen ist, wird noch angemerkt, dass die weitere Rechtsmeinung der belangten Behörde im mittlerweile behobenen Bescheid, dass der Asylstatus des leiblichen Vaters, der auch in der Geburtsurkunde angeführt ist, für die Beschwerdeführerin 1) keine Rolle spiele, nicht geteilt wird. Die Voraussetzung des § 2 Z. 22 AsylG (alt) betreffend das Erfordernis des Bestehens einer Ehe im Herkunftsstaat (nunmehr: vor der Einreise) bezieht sich nicht auf die Beziehung des minderjährigen ledigen Kindes zu einem Elternteil. Der Beschwerdeführerin 1) wäre daher – falls ihr nicht originär Asyl zuzuerkennen ist - jedenfalls ein abgeleiteter Asylstatus nach ihrem Vater zuzuerkennen.
3. Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 10/1985 (VwGG), in der Fassung BGBl. I Nr. 33/2013, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Im konkreten Fall ist die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Dieser Beschluss beschäftigt sich damit, dass es bei der Feststellung von Tatsachen beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl besonders gravierende Ermittlungslücken gegeben hat und es ergaben sich im Lauf des Verfahrens keine Hinweise auf das Vorliegen von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren beim Bundesamt für Fremdenwesen uns Asyl notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, weil § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG inhaltlich § 66 Abs. 2 AVG (mit Ausnahme des Wegfalls des Erfordernisses der Durchführung einer mündlichen Verhandlung) entspricht und zusätzlich zur bisherigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Zurückverweisung wegen mangelhafter Sachverhaltsermittlungen auch das Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063-4, heranzuziehen ist. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Im Übrigen trifft § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG eine klare im Sinne einer eindeutigen Regelung (vgl. OGH 22.03.1992, 5 Ob 105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.
Schlagworte
Ehe, Einvernahme, Ermittlungspflicht, Familienangehöriger,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2017:W211.2118817.1.00Zuletzt aktualisiert am
04.12.2017