TE Bvwg Erkenntnis 2017/11/3 W265 2150187-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.11.2017
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Entscheidungsdatum

03.11.2017

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W265 2150187-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.10.2017 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der bei der Einreise minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit seiner Schwester und seinem Neffen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 07.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am gleichen Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Befragt dazu, warum er sein Heimatland verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, dass der Grund für seine Ausreise aus Afghanistan seine Schwester gewesen sei. Ihr Ehemann habe sie misshandelt, deswegen seien sie vom Vater weggeschickt worden.

3. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX wurde die Schwester des Beschwerdeführers mit der Obsorge des Beschwerdeführers betreut.

4. Der Beschwerdeführer wurde am 17.10.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein seiner Schwester niederschriftlich einvernommen. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass sie in XXXX sehr viel Angst vor dem Mann seiner Schwester gehabt hätten. Sein Schwager sei ein Taliban und habe seine Schwester wiederholt misshandelt. Sein Bruder habe seiner Schwester einmal zur Flucht verhelfen wollen. Sein Schwager habe sie erwischt und geschlagen. Daraufhin habe der Schwager die Familie mit dem Tode bedroht. Aus diesem Grund seien sie nach Kabul geflüchtet. Wenige Monate sei seiner Schwester die Flucht gelungen. Sein Vater habe sie vom Haus ihres Ehemannes weggebracht. Noch am selben Tag habe er gemeinsam mit seiner Schwester und seinem Neffen Afghanistan verlassen.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom XXXX, Zl. XXXX, den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) ab., erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen damit, dass die behaupteten Fluchtgründe, nämlich die aktuell drohende Verfolgung durch den Ehemann ihrer Schwester, bei Annahme ihres Zutreffens keine asylrelevante Verfolgung darstelle, da die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründen, nicht vorliege. Soweit er eine Verfolgung durch Private behaupte, fehle es überdies an einem ausreichenden Zusammenhang mit einem Konventionsgrund.

6. Der Schwester und dem Neffen des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.02.2017 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 06.02.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

8. Der Beschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides fristgerecht Beschwerde, welche am 09.03.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte. In dieser tritt der Beschwerdeführer unter Verweis auf entsprechende Judikatur und Länderberichte mit näherer Begründung der Beweiswürdigung und den getroffenen Länderfeststellungen entgegen.

9. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 15.03.2017 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.10.2017 in den gemäß § 39 Abs. 2 AVG zur gemeinsamen Verhandlung verbundenen Beschwerdeverfahren betreffend den Beschwerdeführer und seinen Bruder zur Zl. W265 2153028-1 durch die erkennende Richterin im Beisein der Vertreterin des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer und sein Bruder ausführlich zu ihren Fluchtgründen befragt wurden. Die Schwester der beschwerdeführenden Parteien war als Zeugin geladen. Ein Vertreter für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

13. Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 (zusammenfassende Darstellung), ein Auszug aus UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 (interne Schutzalternative), Gutachten zur Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan, Mag. Zerka Malyar, vom 27.07.2009, ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Information zu Blutrache [a-8797-1] vom 25.08.2014, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 07. Juni 2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde sowie Auszug aus einem Gutachten zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul von Dr. Rasuly vom 23.10.2015 zur Zl. W119 2006001-1 wurden in der mündlichen Verhandlung in das gegenständliche Verfahren eingebracht. Dem Beschwerdeführer wurde die Bedeutung dieser Berichte erklärt, insbesondere, dass aufgrund dieser Berichte die Feststellungen zu seinem Herkunftsstaat getroffen werden, sowie deren Zustandekommen.

14. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers erstattete im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine Stellungnahme und führte unter anderem aus, dass beim Beschwerdeführer und seinem Bruder mehrere Anknüpfungspunkte im Sinne der GFK zu trägen kämen: Einerseits die soziale Gruppe Familie aufgrund der Verwandtschaft zum Vater sowie zur Schwester und die durch diese gesetzten Handlungen, andererseits die ihnen persönlich (unterstellte) politisch-religiöse Gesinnung, da sie den Ehrenkodex und Verhaltensrichtlinien der Paschtunen verletzt haben, ihrer Schwester und deren Sohn zur Flucht verholfen haben und mir ihr schlussendlich in Österreich leben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

I. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Der Beschwerdeführer wurde im XXXX in der XXXX in Afghanistan geboren und wuchs dort auf. Er besuchte acht Jahre lang die Schule in XXXX. Die neunte Schulstufe begann er in XXXX, schloss diese aber nicht ab. Der Beschwerdeführer lebte ca. acht Monate vor seiner Ausreise aus Afghanistan mit seiner Familie in XXXX. Von XXXX aus floh der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Schwester und deren Sohn aus Afghanistan. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Vater und der Bruder des Beschwerdeführers arbeiteten in Afghanistan als Taxifahrer.

Der Bruder des Beschwerdeführers, der nunmehr gemeinsam mit dem Beschwerdeführer in Österreich lebt, floh gemeinsam mit den Eltern, Geschwistern und dessen Ehefrau ein Monat später aus Afghanistan. In der Türkei verlor er seine Eltern, Geschwister und seine Ehefrau aus den Augen. Es kann nicht festgestellt werden, wo sich die Eltern und jüngeren Geschwister des Beschwerdeführers aktuell befinden. Zum Beschwerdeführer besteht kein Kontakt. Zur Tante väterlicherseits, die in Afghanistan lebt, hat der Beschwerdeführer ebenfalls keinen Kontakt,

Der Schwester und dem Neffen des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Dem Bruder des Beschwerdeführers wird ebenfalls mit Erkenntnis vom heutigen Tag der Status des Asylberechtigen zuerkannt.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Die Schwester des Beschwerdeführers wurde als Minderjährige mit einem älteren Mann zwangsverheiratet. Der Vater sprach sich zunächst gegen die Eheschließung aus, aber der an der Schwester des Beschwerdeführers interessierte Mann drohte mit einer Entführung, woraufhin der Vater einwilligte. Erst nach der Eheschließung erfuhr die Familie, dass der Mann bereits verheiratet war, bereits mehrere Kinder hatte und mit den Taliban zusammenarbeitete. Die Schwester des Beschwerdeführers wurde in dieser Ehe sowohl vom Ehemann als auch von seiner zweiten Ehefrau misshandelt. Während eines Besuches fand der Bruder des Beschwerdeführers die Schwester am Boden liegend und mit einem verletzten Arm. Auf Grund der Verletzungen wollte er die Schwester ins Krankenhaus bringen und dann ins elterliche Haus zurückbringen. Die zweite Ehefrau kontaktierte jedoch den Ehemann bzw. Schwager. Dieser eilte mit Verbündeten (Cousins und Familienangehörigen) herbei und zerrte den Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers aus dem Auto und brachte beide gewaltsam ins Haus zurück. Der Bruder des Beschwerdeführers wurde im Haus vom Schwager sowie fünf oder sechs weiteren Personen brutal zusammengeschlagen. Er erlitt unter anderem eine Augen, Zahn- und eine Fußverletzung. Dann brachte der Schwager den Bruder des Beschwerdeführers ins elterliche Haus zurück und setzte dem (Schwieger-)Vater ein Ultimatum, nämlich XXXX innerhalb von 20 oder 30 Tagen zu verlassen. Dabei bedrohte der Schwager die Familie auch mit dem Tod. Der Vater brachte den Bruder des Beschwerdeführers in Krankenhaus. Dort wurden seine Verletzungen behandelt. Am selben Tag kehrten sie nach Hause zurück. Auf Grund der Bedrohungen durch den Ehemann der Schwester suchte der Vater des Beschwerdeführers nach einer Unterkunft in XXXX. Dorthin floh die Familie nach etwa 20 oder 25 Tagen. Die Eltern des Beschwerdeführers fassten den Entschluss, die Tochter aus der gewaltsamen Ehe zu befreien, da sich die Misshandlungen sowohl gegen sie als auch ihren Sohn richteten. Während eines Besuches vereinbarten sie mit ihr die Flucht und noch in der Nacht desselben Tages brachten sie die Schwester und den Neffen des Beschwerdeführers nach XXXX. Dort angekommen floh der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Schwester und dem Neffen aus Afghanistan. Der Beschwerdeführer wusste über die Pläne der Eltern nicht Bescheid.

Nach der Flucht des Beschwerdeführers gemeinsam mit seiner Schwester und dem Neffen erhielt der Vater des Beschwerdeführers ca. 20 oder 30 Tage später den ersten Drohanruf durch den Schwiegersohn bzw. Schwager des Beschwerdeführers. Über die Tante väterlicherseits erfuhr er über den Aufenthalt in XXXX und deren Telefonnummer. Am Telefon richtete er Drohungen gegen die Familie und forderte eine Entschädigung, nämlich eine andere Tochter bzw. Schwester, andernfalls würde er jedes einzelne Familienmitglied töten. Der Vater des Beschwerdeführers sprach sich gegen diese Forderung aus. Kurze Zeit später erhielt der Vater des Beschwerdeführers einen Drohbrief. Dieser wurde in der Moschee abgegeben und vom Geistlichen nach dem Abendgebet verlesen. Der Drohbrief war persönlich an den Vater des Beschwerdeführers gerichtet und vom Schwiegersohn bzw. Schwager gezeichnet. Die Familie des Beschwerdeführers sowie der Bruder und dessen Ehefrau flüchteten sodann aus Afghanistan.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätte der Beschwerdeführer Gewalthandlungen durch den Schwager, der den Taliban angehört, und seinen Verbündeten zu befürchten.

2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017:

"Sicherheitslage in den einzelnen Provinzen:

Provinz Kunduz:

Kunduz liegt 337 km nördlich von Kabul City und grenzt an die Provinzen Takhar im Osten, Baghlan im Süden und Samangan im Westen (Pajhwok o.D.k; vgl. auch: Khabarnama 22.8.2016). Die Provinz hat folgende Distrikte: Imam Sahib, Dasht-e-Archi, Qala-e-Zal, Chahar Dara, Ali Abad und Khan Abad; die Hauptstadt ist Kunduz City (Pajhwok o.D.k). Als strategischer Korridor wird Kunduz als einflussreiche Provinz in Nordafghanistan erachtet – der Sher (Shir) Khan Hafen, besser bekannt als Sherkhan Bandar liegt inmitten der Provinz und erhöht dadurch die militärische und wirtschaftliche Bedeutung (Khabarnama 22.8.2016). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.029.473 geschätzt (CSO 2016).

Kunduz City ist eine der größten Städte Afghanistans und war lange Zeit ein strategisch wichtiges Transportzentrum für den Norden des Landes. Kunduz ist durch eine Autobahn mit Kabul im Süden, Mazar-e Sharif im Westen, sowie Tadschikistan im Norden verbunden (BBC News 3.10.2016).

Strategisch wichtig ist die Stadt Kunduz nicht nur für Afghanistan (Deutsch Welle 30.9.2015), denn Kunduz war bis zum Einmarsch der US-Amerikaner im Jahr 2001 die letzte Hochburg der Taliban (RFE/RL 9.2015). Wer die Stadt kontrolliert, dem steht der Weg nach Nordafghanistan offen. Kunduz liegt auf einer wichtigen Straße, die Kabul mit den angrenzenden nördlichen Provinzen verbindet (Deutsch Welle 30.9.2015).

Im Zeitraum 1.9.2015 – 31.5.2016 wurden in der Provinz Kunduz 416 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Die einst relativ friedliche Region - die Provinzen Baghlan, Kunduz und Takhar - war in den letzten Monaten von heftigen Zusammenstößen zwischen Taliban und Regierungskräften betroffen (Global Times China 15.1.2017; vgl. auch: News Ghana 30.1.2017). Im Jahr 2016 versuchten die Taliban einige Provinzhauptstädte einzunehmen, unter anderem auch Kunduz (Hindustan Times 8.1.2017). Im Oktober 2016 drangen die Taliban in Kunduz City ein und wurden nach einer Woche von den Sicherheitskräften wieder vertrieben (UN GASC 13.12.2016; vgl. auch:

IRIN News 13.10.2016). Die Stadt selber konnte gesichert werden – die Taliban kontrollieren die umliegenden Gegenden der Provinz (Al-Jazeera 4.11.2016; vgl. auch: RFE/RL 8.10.2016).

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Terroristen zu befreien (Sputnik News 31.1.2017; Khaama Press 22.1.2017; Z News 12.1.2017; Khaama Press 9.1.2017; Tolonews 29.12.2016; Tolonews 25.1.22016; UN GASC 13.12.2016; Tolonews 30.9.2016; Eurasia Review 28.4.2016); dabei werden Aufständische getötet (Tolonews 29.12.2016; Tolonews 25.1.22016; Eurasia Review 28.4.2016; South Front 11.4.2016), unter anderem auch hochrangige Talibanführer (Al-Jazeera 4.11.2016). Luftangriffe werden durchgeführt (News Ghana 30.1.2017). Ebenso wurde ein hochrangiger Talibanführer verhaftet (Sputnik News 31.1.2017).

Eine Gruppe von zehn Aufständischen hat sich dem Friedensprozess in Kunduz angeschlossen; die Aufständischen waren in unterschiedlichen Teilen der Stadt Kunduz aktiv. Einem Sicherheitsberater zufolge wird sich die Sicherheitslage nun verbessern, nachdem sich die Aufständischen dem Friedensprozess angeschlossen haben (Khaama Press 9.1.2017).

Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden und (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten (Pajhwok o.D.z). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.523.718 geschätzt (CSO 2016)

Im Zeitraum 1.9.2015 – 31.5.2016 wurden im Distrikt Kabul 151 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Im Zeitraum 1.9.2015. – 31.5.2016 wurden in der gesamten Provinz Kabul 161 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren (USDOD 12.2015). Aufständischengruppen planen oft Angriffe auf Gebäude und Individuen mit afghanischem und amerikanischem Hintergrund: afghanische und US-amerikanische Regierungseinrichtungen, ausländische Vertretungen, militärische Einrichtungen, gewerbliche Einrichtungen, Büros von Nichtregierungsorganisation, Restaurants, Hotels und Gästehäuser, Flughäfen und Bildungszentren (Khaama Press 13.1.2017). Nach einem Zeitraum länger andauernder relativer Ruhe in der Hauptstadt, explodierte im Jänner 2017 in der Nähe des afghanischen Parlaments eine Bombe; bei diesem Angriff starben mehr als 30 Menschen (DW 10.1.2017). Die Taliban bekannten sich zu diesem Vorfall und gaben an, hochrangige Beamte des Geheimdienstes wären ihr Ziel gewesen (BBC News 10.1.2017).

In der Provinz Kabul finden regelmäßig militärische Operationen statt (Afghanistan Times 8.2.2017; Khaama Press 10.1.2017; Tolonews 4.1.2017a; Bakhtar News 29.6.2016). Taliban Kommandanten der Provinz Kabul wurden getötet (Afghan Spirit 18.7.2016). Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften finden statt (Tolonews 4.1.2017a).

Regierungsfeindliche Aufständische greifen regelmäßig religiöse Orte, wie z.B. Moscheen, an. In den letzten Monaten haben eine Anzahl von Angriffen, gezielt gegen schiitische Muslime, in Hauptstädten, wie Kabul und Herat stattgefunden (Khaama Press 2.1.2017; vgl. auch: UNAMA 6.2.2017).

Religionsfreiheit:

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7-89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10–19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:

CSR 8.11.2016).

Ethnische Minderheiten:

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2016 mehr als 33.3 Millionen Menschen (CIA 12.11.2016). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2017).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet."

(Staatendokumentation des BFA 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 13.4.2016).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung verankert. Fälle von Sippenhaft oder sozialer Diskriminierung sind jedoch nicht auszuschließen und kommen vor allem in Dorfgemeinschaften auf dem Land häufig vor (AA 9.2016). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 13.4.2016).

Tadschiken:

Die dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan (CRS 12.1.2015). Die Tadschiken machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus (GIZ 1.2017). Der Name t?jik (Tadschike) bezeichnete sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Der Hauptführer der "Nordallianz", eine politisch-militärische Koalition, ist Dr. Abdullah Abdullah - dessen Mutter Tadschikin und dessen Vater Pashtune ist. Er selbst identifiziert sich politisch gesehen als Tadschike, da er ein hochrangiger Berater von Ahmad Shah Masoud, war. Mittlerweile ist er "Chief Executive Officer" in Afghanistan (CRS 12.1.2015).

Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (Brookings 31.10.2016).

Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge:

Einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge, verkomplizieren rückkehrende Flüchtlinge die Situation der bereits mehr als eine Million Binnenvertriebenen, deren Anzahl sich aufgrund des Aufstandes im Jahr 2016 erhöht hat. Nach Meinung des IWF wird dies die Kapazitäten des Landes überfordern (DAWN 28.1.2017).

Die Zahl der Internvertriebenen im Jahr 2017 betrug 9.759 (Stand 4. Februar 2017) (UN OCHA 5.2.2017). 636.503 Menschen wurden insgesamt im Jahr 2016 aufgrund des Konfliktes vertrieben (UN OCHA 29.1.2017). Mehr als die Hälfte dieser Menschen (56%) waren Kinder unter 18 Jahren. Von Binnenvertreibung betroffen waren 31 Provinzen in unterschiedlichem Ausmaß; alle 34 Provinzen beherbergten Binnenvertriebene. Im Jahr 2016 stammten die meisten Binnenvertriebenen aus den Provinzen Kunduz, Uruzgan, Farah und Helmand. Gleichzeitig nahmen die Provinzen Helmand, Takhar, Farah, Kunduz und Kandahar die meisten Binnenvertriebenen auf. Viele Menschen suchen also in der Nähe ihrer Heimat Schutz. Binnenvertriebene tendieren dazu aus ländlichen Gebieten in die Provinzhauptstädte zu ziehen, oder in die angrenzenden Provinzen zu gehen. Sobald der Konflikt zu Ende ist, versuchen sie bald wieder nach Hause zu kehren (AAN 28.12.2016).

Der verhängnisvollste Monat war Oktober, in welchem die Taliban mehrere Provinzhauptstädte gleichzeitig angriffen: Kunduz City, Farah City, Maimana, und Lashkar Gah. Der Anstieg der IDP-Zahlen ist auch auf den Rückzug internationaler Truppen zurückzuführen, die durch Luftangriffe unterstützten; mittlerweile haben die Taliban ihre Angriffstaktik geändert und sind zu Bodenoffensiven übergegangen. Bodenoffensiven sind nicht nur die Ursache für Tote und Verletzte innerhalb der Zivilbevölkerung, sondern zwingen die Menschen aus ihren Heimen zu fliehen (AAN 28.12.2016).

Im Rahmen von humanitärer Hilfe wurden Binnenvertriebene, je nach Region und Wetterbedingungen, unterschiedlich unterstützt: Bargeld, Paket für Familien, winterliche Ausrüstung, Nahrungspakete, Hygienepakete, Decken, Zelte, und andere Pakete, die keine Nahrungsmittel enthielten usw. Auch wurde Aufklärung in Bereichen wie Hygiene betrieben (UN OCHA 5.2.2017; vgl. auch: UN OCHA 29.1.2017; UN OCHA 1.11.2016; UN OCHA 1.10.2016; vgl. ACBAR 7.11.2016).

Unterschiedliche Organisationen, wie z.B. das Internationale Rote Kreuz (IRC) oder das Welternährungsprogramm (WFP) usw. sind je nach Verantwortungsbereichen für die Verteilung von Gütern zuständig.

Dazu zählten: Nahrung, Zelte, sowie andere Güter, die keine Nahrungsmittel waren (IOM 17.4.2016; vgl. auch ACBAR 15.5.2016).

UNHCR unterstützt Rückkehrer/innen mit finanziellen Beihilfen in vier Geldausgabezentren, außerdem mit Transiteinrichtungen und elementaren Gesundheitsleistungen. Zusätzlich wurden sie in anderen Bereichen aufgeklärt, wie z.B. Schuleinschreibungen, Gefahren von Minen etc. (UNHCR 6.2016).

2.2. Auszüge aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016:

2.2.1. Zu Rechtsschutz, Justizsystem und Sicherheitsbehörden in Afghanistan:

"Die starke Zunahme von regierungsfeindlichen Gruppen mit unterschiedlichen Zielen und Vorgehensweisen, einschließlich insbesondere der neuen Bedrohung durch mit ISIS verbundene Gruppen, hat zusammen mit der Gewalt der aufständischen Gruppen untereinander zu einer zunehmend unübersichtlichen Sicherheitslage beigetragen. Berichten zufolge unterminieren außerdem regierungsnahe bewaffnete Gruppen in den Gebieten unter ihrem Einfluss die Autorität der Regierung und werden zunehmend mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht. [ ]

Experten zufolge haben sich die afghanischen Sicherheitskräfte als generell in der Lage erwiesen, Provinzhauptstädte und größere städtische Zentren zu verteidigen. Eine wichtige Ausnahme stellte die kurzfristige Eroberung von Kunduz durch die Taliban im September 2015 dar. Jedoch stieg 2015 die Anzahl getöteter Mitglieder der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) deutlich, als die wiedererstarkten Taliban breit angelegte Offensiven starteten und die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) regelmäßig in eine reaktive Rolle drängten und während der Kämpfe 2015 ihre Kontrolle über ländliche Gebiete im ganzen Land stärkten. [ ]

Die Regierung der nationalen Einheit (NUG) bleibt eine instabile Regierungskoalition, die von ethnischen Trennlinien, Klientelpolitik und interner Uneinigkeit in Hinblick auf zentrale strategische Fragen geprägt ist. Die sich verschlechternde Sicherheitslage hat Berichten zufolge dazu geführt, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der Regierung, für Sicherheit zu sorgen, schwindet und dass die Regierung infolgedessen die Unterstützung der Bevölkerung verliert. [ ]

Diese Entwicklungen müssen vor dem Hintergrund einer berichteten endemischen Korruption, Schwierigkeiten bei der Einrichtung und Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität, andauernder Bedenken hinsichtlich der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und eines nicht ausreichend funktionierenden Justizsystems, eines hohen Maßes an Kriminalität , weit verbreiteter Menschenrechtsverletzungen und einem allgemeinen Klima der Straflosigkeit betrachtet werden. [ ]

Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der Verpflichtungen Afghanistans, nach nationalem und internationalem Recht diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsgewalt Afghanistans und die Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen, die Zufriedenheit der Öffentlichkeit mit der Regierungsarbeit und das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen sanken Berichten zufolge im Jahr 2015 auf drastische Weise.

Die Fähigkeit der Regierung, die Menschenrechte zu schützen, wird in vielen Distrikten durch Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) untergraben. Ländliche und instabile Gebiete leiden Berichten zufolge unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden. Von der Regierung ernannte Richter und Staatsanwälte sind Berichten zufolge oftmals aufgrund der Unsicherheit nicht in der Lage, in diesen Gemeinden zu bleiben.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung."

2.2.2. Zu in Blutfehden verwickelten Personen:

"Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt. Wenn die Familie des Opfers nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat."

3. Beweiswürdigung:

3.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen widerspruchsfreien Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers (Name und Geburtsdatum) getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellung zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine im Laufe des Verfahrens vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie dem Bundesverwaltungsgericht stets gleichlautenden und daher glaubhaften Angaben.

Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Herkunftsort in Afghanistan, zu seinen persönlichen Lebensumständen, insbesondere seinem schulischen und beruflichen Werdegang, zu seinen Familienangehörigen, sowie zu seiner Ausreise und den Aufenthaltsorten sind chronologisch stringent und aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes plausibel. Die vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang getätigten Angaben waren gleichbleibend und widerspruchsfrei und sind daher als glaubhaft zu beurteilen.

Die Feststellung, dass seiner Schwester und seinem Neffen mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, ergibt sich aus dem eingeholten GVS-Auszug sowie den übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders. Die Feststellung, dass dem Bruder des Beschwerdeführers der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, ergibt sich aus dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

3.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Das Hauptverfolgungsvorbringen des Beschwerdeführers lautet auf das Wesentliche zusammengefasst, seine Schwester sei als Minderjährige mit einem älteren Mann, der mit den Taliban zusammenarbeite, zwangsverheiratet worden. Auf Grund der Misshandlungen und der Gewalt, welchen die Schwester in der Ehe ausgesetzt war, habe sie der Bruder des Beschwerdeführers ins elterliche Haus zurückbringen wollen. Der Schwager habe dies verhindern können. Gemeinsam mit Cousins und anderen Verbündeten habe er brutal auf den Bruder des Beschwerdeführers eingeschlagen und die Schwester ins Haus zurückgebracht. Schließlich habe er den Bruder des Beschwerdeführers schwer verletzt ins elterliche Haus zurückgebracht. Er habe dem (Schwieger-)Vater ein Ultimatum zur Ausreise aus XXXX gesetzt, andernfalls die Familie getötet würde. Daraufhin sei die Familie nach XXXX gezogen. Einige Monate später hätten die Eltern des Beschwerdeführers die Schwester und deren Sohn aus der Gewaltehe befreit und nach XXXX gebracht. Noch in derselben Nacht sei der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Schwester und seinem Neffen geflohen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan sei der Beschwerdeführer Gewalthandlungen durch den Schwager, einem Verbündeten der Taliban ausgesetzt, da er seiner Schwester (und seinem Neffen) zur Flucht verholfen habe.

Das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers im Verlauf des Verfahrens ist schlüssig, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan plausibel, weitgehend widerspruchsfrei, hinreichend substantiiert, angereichert mit lebensnahen Details sowie im Einklang mit den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten (vgl. insbesondere UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016; ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan, a-8797-1, vom 25.08.2014, Informationen zur Blutrache; gutachterliche Stellungnahme von Mag. MALYAR vom 27.07.2009 vor dem AsylGH, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zl. W174 1436214-1 zu Blutrache/Ehrenmorden; Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 07. Juni 2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde).

Das erkennende Gericht lässt nicht unberücksichtigt, dass der Beschwerdeführer bei der Einreise in Österreich noch minderjährig war und zum Zeitpunkt der relevanten Vorfälle teilweise noch sehr jung war. Dem Beschwerdeführer wird auch insofern geglaubt, dass ihm viele relevanten Umstände nur aus Erzählungen seiner Familienmitglieder bekannt sind, demzufolge auf konkrete Fragen seitens des Beschwerdeführers keine Antworten gegeben werden konnten. Der ältere Bruder des Beschwerdeführers, dessen Beschwerdeverfahren zur gemeinsamen Verhandlung verbunden wurde, zeichnete insbesondere in der mündlichen Verhandlung in seinen Aussagen und seinem Antwortverhalten, das auch authentisch wirkende Emotionen zeigte, ein glaubwürdiges Bild der geschilderten Vorfälle und vermittelte den Eindruck, die dargestellten Ereignisse tatsächlich erlebt zu haben. Die Ungereimtheit bezüglich des Aufhaltens beim Versuch die Schwester ins Krankenhaus und in weiterer Folge ins elterliche Haus zu bringen, die er in der mündlichen Verhandlung durch "viele Menschen sind dann auf uns zugekommen" beschrieb, hingegen in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angab, dass er vom Schwager und seinen Cousins aufgehalten worden sei, vermochte der Bruder des Beschwerdeführers auf weitere Fragen durch das erkennende Gericht klarzustellen (vgl. Seite 18 der Niederschrift). Auch dem Vorbringen zum Drohbrief, welches sich in der Niederschrift des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nicht finden, wird geglaubt, insbesondere deswegen, weil der Bruder des Beschwerdeführers bereits zu Beginn der mündlichen Verhandlung von sich aus auf weitere kleine Unstimmigkeiten hinwies und seine diesbezüglichen Ausführungen substantiiert und vor dem Hintergrund der Ereignisse, die sich bereits zugetragen hatten, durchaus plausibel erscheinen. Das Fluchtvorbringen wird daher insgesamt als glaubhaft erachtet.

3.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

3.3.1. Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

Die oben angeführten Länderberichte wurden in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebracht. Dem Beschwerdeführer wurde Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Mit der im Wege der Vertreterin erstatteten mündlichen Stellungnahme trat der Beschwerdeführer diesen nicht entgegen, sondern sich vielmehr darauf stützte.

4. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 6 BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 idF BGBl. I Nr. 50/2016, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da weder im BFA-VG noch im AsylG 2005 eine Senatsentscheidung vorgesehen ist, liegt in der vorliegenden Rechtssache Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 82/2015 (in der Folge: VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 1 leg.cit. trat dieses Bundesgesetz mit 01.01.2014 in Kraft. Nach § 58 Abs. 2 leg.cit. bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, des AgrVG und des DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu A.) I.: Stattgabe der – zulässigen – Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

4.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines erörtert - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191, mwN).

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zur Genfer Flüchtlingskonvention judiziert - nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.11.2007, 2006/19/0341, mwN)

4.1.1. Aufgrund der oben im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellten Erwägungen (vgl. Pkt. 3.2.) ist des dem Beschwerdeführer gelungen, glaubhaft zu machen, dass der behauptete Sachverhalt verwirklicht worden ist.

Der Beschwerdeführer hat damit eine maßgebliche Verfolgungswahrscheinlichkeit auf einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe aufgezeigt:

Der Beschwerdeführer ist seitens des Schwagers, einem Verbündeten der Taliban, Verfolgungs- und Bedrohungshandlungen ("Blutrache") auf Grund des Umstandes, dass er seiner Schwester und deren Sohn zur Flucht aus der gewaltsamen Ehe durch Zwangsheirat verholfen hat und mit ihr und ihrem Sohn gemeinsam geflohen ist, wobei insbesondere nach dem bereits erfolgten Angriff den Bruder des Beschwerdeführers betreffend, die neuerlichen Bedrohungen des Vaters und die Androhungen, sich durch Ermordung von Familienmitgliedern zu rächen, davon auszugehen ist, dass es sich dabei um Verfolgungshandlungen erheblicher Intensität im Sinne der unter 4.1. genannten Judikatur handelt.

Dieser Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Beschwerdeführers knüpft an einen in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund, nämlich jenen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie, an: Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie reicht es, wenn sich die Rache gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen mit dem Täter gemeinsamer oder von ihm herrührender Abstammung richtet (VwGH 26.02.2002, 2000/20/0517, mwN; vgl. weiters konkret zur "Sippenhaftung" als Form der stellvertretenden Inanspruchname eines Familienmitgliedes VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508, mwN).

Zwar handelt es sich bei dem Schwager, einem Verbündeten der Taliban, um nicht staatliche Akteure, doch kann angesichts der angeführten Berichtslage nicht davon ausgegangen werden, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden ausreichend schutzfähig wären, um die den Beschwerdeführer von seinen Verfolgern ausgehende Verfolgungsgefahr genügend zu unterbinden. Aus dem unter 2.2.1. angeführten Auszug aus den UNHCR-Richtlinien lässt sich ableiten, dass in Afghanistan derzeit - insbesondere außerhalb der Städte - kein funktionierender Sicherheits- oder Justizapparat besteht; dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Vater des Beschwerdeführers bereits ein- oder zweimal erfolglos versucht hat, sich bzw. seine Tochter (die Schwester des Beschwerdeführers) dem Schutz des Staates zu unterstellen, jedoch weder die Schwester des Beschwerdeführers noch der ältere Bruder vor Bedrohungs- und Gewalthandlungen geschützt werden konnten. Fallbezogen ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die staatlichen Einrichtungen Afghanistans nicht in der Lage wären, den Beschwerdeführer angesichts des ihn treffenden Verfolgungsrisikos in ausreichendem Maß zu schützen.

Vor diesem Hintergrund ist bei dem Beschwerdeführer die Angehörigeneigenschaft und somit die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie auf Grund der Verwandtschaft zum Vater sowie zur Schwester gegeben.

Der Beschwerdeführer kann daher nicht in seine Heimatprovinz zurückkehren, ohne der Gefahr der "Blutrache" durch den Schwager und dessen Familie (Verbündete der Taliban) ausgesetzt zu sein.

Bei der vorliegenden Konstellation kann im gegenständlichen Fall nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der Beschwerdeführer über die Möglichkeit verfügen würde, sich in Afghanistan in einer anderen Region niederzulassen. Eine abschließende Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann jedoch insbesondere auch vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gegeben sind (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/0011 bis 0016).

4.1.2. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren.

Es sind auch im Zuge des Verfahrens keine Hinweise hervorgekommen, wonach einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlusstatbestände eingetreten sein könnte.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder aufgrund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Der Beschwerde ist daher gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattzugeben und festzustellen, dass dem Beschwerdeführer kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz am 07.08.2015, somit vor dem 15.11.2015 gestellt wurde, wodurch insbesondere die §§ 2 Abs. 1 Z 15 und 3 Abs. 4 AsylG 2005 idF des Bundesgesetzes BGBl. I 24/2016 ("Asyl auf Zeit") gemäß § 75 Abs. 24 leg. cit. im konkreten Fall keine Anwendung finden.

4.2. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A) wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung, Blutrache, private Verfolgung,
Schutzunfähigkeit, Sippenhaftung, soziale Gruppe, wohlbegründete
Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2017:W265.2150187.1.00

Zuletzt aktualisiert am

27.11.2017
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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