TE OGH 2017/11/8 21Bs309/17w

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Veröffentlicht am 08.11.2017
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Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Dr. Krenn als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Mag. Edwards und Mag. Sanda als weitere Senatsmitglieder in der Strafsache gegen H***** wegen § 75 StGB über dessen Beschwerden gegen die gerichtliche Bewilligung einer Anordnung des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom *****, und eine Sachverständigenbestellung vom *****, *****, nichtöffentlich den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen die Bestellung eines Sachverständigen richtet, zurückgewiesen, im Übrigen wird ihr nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die Staatsanwaltschaft Wien führt gegen H***** ein Ermittlungsverfahren wegen § 75 StGB. Danach ist der Genannte dringend verdächtig, am 18.9.2017 seine Schwester B***** durch zahlreiche Stichverletzungen mit einem Kampfmesser getötet zu haben.

H***** ist afghanischer Staatsbürger, er kam vor rund vier Jahren mit seiner Familie - sein Vater habe sich bereits hier befunden - nach Österreich. Er ist im Besitz eines am ***** Konventionsreisepasses.

Aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes des H***** (vgl. auch die im Akt einliegenden Lichtbildkopien *****) ordnete die Staatsanwaltschaft Wien die körperliche Untersuchung durch den Sachverständigen Ass.Prof.Mag.Dr. Fabian Kanz unter anderem unter Zuhilfenahme eines MRT zur Feststellung des tatsächlichen Alters des angeblich am 1.1.1999 geborenen H***** gemäß § 123 Abs 1 Z 3 StPO an. Diese Anordnung wurde mit gerichtlichem Beschluss ***** bewilligt (*****).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Verdacht bestehe, dass das vom Beschuldigten im Zuge seines Asylverfahrens angegebene Geburtsdatum nicht der Wahrheit entspreche (*****).

Am ***** wurde Ass.Prof.Mag.Dr. Fabian Kanz zum Sachverständigen bestellt, er möge folgende Fragestellungen bearbeiten: Wie alt seien der Beschuldigte H***** und das Opfer B***** tatsächlich; habe der Beschuldigte H***** am Vorfallstag 18.9.2017 das 19. Lebensjahr (den 18. Geburtstag) bzw. das 22. Lebensjahr (den 21. Geburtstag) definitiv erreicht? Wenn keine definitive Aussage möglich sei, sei dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Fall?; mit welcher Bandbreite (Toleranz) unter wissenschaftlich begründeten Methoden könne gesichert gesagt werden, wie alt der Beschuldigte H***** und das Opfer B***** seien und welche Referenzwerte, Grundlagen und wissenschaftlichen Aspekte würden für diese Altersbeurteilung herangezogen?

In der Begründung wird neuerlich auf das äußere Erscheinungsbild des Beschuldigten sowie des Opfers hingewiesen und eine von den pakistanischen Behörden durchgeführte Untersuchung im Mai bzw. Juni 2013, wonach der Verdacht bestehe, dass der Beschuldigte (sowie das Opfer) älter seien, als bisher von den österreichischen Behörden angenommen (*****). Während die Anordnung der körperlichen Untersuchung (*****) dem Beschuldigten erst durch das Beschwerdegericht zugestellt wurde, wurde die Verständigung von der beabsichtigten Sachverständigenbestellung (*****) am 2.10.2017 zugestellt.

Die fristgerecht dagegen erhobene Beschwerde (*****) ist unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen der Bezeichnung in der Beschwerde handelt es sich bei der Bestellung eines Sachverständigen nicht um einen Beschluss, zumal diese Sachverständigenbestellung durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren erfolgte. Dagegen besteht das Recht, binnen einer angemessenen festzusetzenden Frist (vorliegend fünf Tage) begründete Einwände gegen den ausgewählten Sachverständigen zu erheben, die entweder die Befangenheit des Sachverständigen oder dessen fehlende fachliche Qualifikation zum Inhalt haben (§ 126 Abs 3 StPO, Hinterhofer WK-StPO § 126 Rz 63). Wenn die Staatsanwaltschaft den gegen den Sachverständigen vorgebrachten Einwänden des Beschuldigten nicht nachkommt, hat dieser im Ermittlungsverfahren die Möglichkeit eines Einspruchs nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO. Die Möglichkeit einer Beschwerde besteht im Ermittlungsverfahren nur im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahmen durch beschlussmäßige Sachverständigen-Bestellungen (aaO Rz 69). Im übrigen sind Sachverständigenbestellungen im Ermittlungsverfahren nicht anfechtbar.

Die „Beschwerde“ gegen die Sachverständigenbestellung, die sich lediglich gegen die inhaltliche Fragestellung richtet, war daher zurückzuweisen.

Die gegen die gerichtlich bewilligte Anordnung der körperlichen Untersuchung im Rechtsmittelverfahren eingebrachte Beschwerde ***** ist demgegenüber nicht berechtigt.

Vorauszuschicken ist, dass entgegen den Beschwerdeargumenten Hinweise, warum eine Altersuntersuchung erforderlich ist, in der Anordnung nicht fehlen, zumal die Staatsanwaltschaft ausdrücklich auf die in der IVV (integrierte Vollzugsverwaltung) und im Akt einliegenden Lichtbilder des Beschuldigten hinweist, woraus sie den, auch nach Ansicht des Beschwerdegerichts begründeten, Verdacht ableitet, dass das vom Beschuldigten im Zuge seines Asylverfahrens angegebene Geburtsdatum, 1.1.1999, nicht der Wahrheit entspreche.

Gemäß § 123 Abs 1 StPO ist eine körperliche Untersuchung zulässig, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass eine Person Spuren hinterlassen hat, deren Sicherstellung und Untersuchung für die Aufklärung einer Straftat wesentlich sind (Z 1), aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass eine Person Gegenstände im Körper verbirgt, die der Sicherstellung unterliegen (Z 2), oder Tatsachen, die für die Aufklärung einer Straftat oder die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit von maßgebender Bedeutung sind, auf andere Weise nicht festgestellt werden können (Z 3).

Die Frage des Alters des Beschuldigten ist im Sinn der Z 3 der genannten Bestimmung von maßgebender Bedeutung, da jedenfalls im Hauptverfahren festzustellen ist, ob es sich um eine Jugendstraftat, eine Straftat eines jungen Erwachsenen oder eines Erwachsenen handelt.

Unzulässig sind operative Eingriffe und alle Eingriffe, die eine Gesundheitsschädigung von mehr als dreitägiger Dauer bewirken könnten. Andere Eingriffe dürfen vorgenommen werden, wenn die zu untersuchende Person nach vorheriger Aufklärung über die möglichen Folgen ausdrücklich zustimmt. Ohne Einwilligung des Betroffenen darf eine Blutabnahme oder ein vergleichbar geringfügiger Eingriff, bei dem der Eintritt von anderen als bloß unbedeutende Folgen ausgeschlossen ist, vorgenommen werden, wenn, wie hier, die körperliche Untersuchung des Beschuldigten zur Aufklärung einer mit mehr als fünf Jahre Freiheitsstrafe bedrohten Straftat erforderlich ist (§ 123 Abs 4 Z 2 StPO).

Die StPO begrenzt somit die gegen den Willen des Beschuldigten zwangsweise durchsetzbare körperliche Untersuchung auf Blutabnahmen und vergleichbar geringfügige Eingriffe, bei denen der Eintritt von anderen als bloß unbedeutenden Folgen ausgeschlossen ist. Andere Untersuchungen als die Genannten dürfen aufgrund von Abs 4 Satz 1 leg cit von vornherein nicht zwangsweise durchgesetzt werden. Die unbedeutenden Folgen müssen unter denen einer Gesundheitsschädigung von maximal dreitägiger Dauer liegen, weil ansonsten das in Abs 4 Satz 2 leg cit vorgesehene Einwilligungserfordernis, von dem in den Fällen des Abs 4 Satz 3 ausnahmsweise abgegangen werden kann, von vornherein bedeutungslos wäre. Auch die Materialien differenzieren in diese Richtung und nennen als Beispiel für einen einwilligungsunabhängigen geringfügigen Eingriff eine röntgenologische Untersuchung (vgl Birklbauer WK-StPO § 123 Rz 37f).

Röntgenuntersuchungen stellen eine körperliche Untersuchung im Sinn des §§ 117 Z 4 StPO dar. Nach dessen Legaldefinition wird als körperliche Untersuchung die Durchsuchung von Körperöffnungen, die Abnahme einer Blutprobe und jeder andere Eingriff in die körperliche Integrität von Personen erfasst. Röntgenuntersuchungen stellen einen „anderen“ Eingriff in die körperliche Integrität dar, weil der Betroffene einer Strahlung ausgesetzt wird (vgl. Birklbauer, körperliche Untersuchung und DNA-Analyse, ÖJZ 2008, 347).

Unter der Voraussetzung, dass die körperliche Untersuchung von einem Arzt durchgeführt wird (§ 123 Abs 5 StPO), ist seit Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes vom 1.1.2008 die röntgenologische Untersuchung eines Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, zumal diese nach dem Bericht des Justizausschusses Untersuchungen mit einem vergleichbaren geringfügigen Eingriff im Sinne des § 123 Abs 4 StPO darstellen (vgl JAB 406 BlgNR 22 GP S 17; siehe auch die Anfragebeantwortung des BMJ zu BMJ-L425.012/0002-II 3/2009 vom 9.6.2009; aM Bertel/Venier Komm StPO § 123 Rz 4, vgl auch Birklbauer WK-StPO § 123 Rz).

Gleiches muss auch für eine - von der Staatsanwaltschaft angeordnete MRT-Untersuchung gelten, zumal es bei dieser gerichtsnotorisch zu keiner belastenden Röntgenstrahlung oder anderen ionisierenden Strahlungen kommt (vgl auch Wikipedia - Magnetresonanztomographie).

Entgegen der Ansicht des Beschwerdewerbers sind die derzeitigen Methoden der medizinischen Altersdiagnostik - die Entwicklung zuverlässiger medizinwissenschaftlicher Standards begann im Jahr 2000 und wurde im Jahr 2010 in die Fremdenrechtsnovelle implementiert - keinesfalls wissenschaftlich umstritten und ungenau. Richtig ist jedoch, dass lediglich eine gewisse Bandbreite des Alters einer untersuchten Person angegeben werden kann, wobei ohnedies - den Grundsätzen des österreichischen Strafrechts entsprechend - vom geringsten, sich aus einer solchen Untersuchung ergebenden Alter auszugehen ist.

Die forensische Altersdiagnostik ist bereits seit ca. 20 Jahren ein eigener Forschungszweig mit umfangreicher Publikationstätigkeit, deren Ergebnisse in den international weitgehend akzeptierten Empfehlungen der Deutschen „Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik“ (AGFAD) zusammengefasst sind. Aufgrund dessen verlangte der österreichische Gesetzgeber seit 2010 die Beachtung dieser „guidelines“ als medizinwissenschaftlichen „state of the art“ im asylrechtlichen Kontext. Aber auch in Pflegschaftsverfahren wurde dies von der Rechtsprechung anerkannt (vgl beispielsweise 3 Ob 101/17z).

Nach den AGFAD-Empfehlungen setzt eine zuverlässige Altersdiagnostik voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand (körperferne Unterarm-/Handskelettverknöcherung) und der Schlüsselbeine (mediale Schlüsselbeinverknöcherung), sowie einer zahnärztlichen Untersuchung (Mineralisation der Weisheitszähne) zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden.

Soweit der Beschuldigte vermeint, dass das von ihm angegebene Alter feststehe, ist er darauf hinzuweisen, dass bereits im Asylverfahren Erkundigungen eingeholt wurden. Dazu lag entgegen dem Beschwerdeargument keine „bloß äußerliche Einschätzung der Behörden in Pakistan“, sondern eine Untersuchung des Aziz Medical Center in Islamabad vor, wonach aufgrund einer Zahnuntersuchung und verschiedener Röntgenuntersuchungen des Skeletts von H***** im Zeitpunkt der Untersuchung am 29.5.2013 17-18 Jahre gewesen sei. Röntgenuntersuchungen wurden durchgeführt insbesondere vom Handgelenk, dem Ellbogen, der Schulter und des medialen Endes des Schlüsselbeins (*****).

Ein weiterer Hinweis darauf, dass das von H***** angegebene Alter jedenfalls zweifelhaft ist, besteht darin, dass dem Akteninhalt folgend H***** der ältere Bruder des Opfers sei, dessen Geburtsdatum im Asylverfahren mit 10.2.2003 angegeben wurde, sodass es zur Tatzeit rund 14 1/2 Jahre gewesen wäre. Nach der mittlerweile im Zuge der Obduktion durchgeführten Untersuchung (die ebenfalls nach den Empfehlungen der AGFAD durchgeführt wurde) ergibt sich unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite von +/- zwei Jahren ein Mindestalter des Opfers im Untersuchungszeitpunkt von 16 Jahren und ein wahrscheinliches Lebensalter von 18 Jahren (AS 19 in ON 59). Dies entspricht auch den Angaben des Opfers gegenüber dessen Freund (AS 99 in ON 64).

Den Bedenken des Beschwerdewerbers gegenüber der Untersuchung, insbesondere im Zusammenhang mit Komplikationen wegen eines Kontrastmittels, ist zu entgegnen, dass nach Mitteilung des Sachverständigen weder für das Röntgen der linken Hand und des Gebisses noch für eine MRT-Untersuchung ein Kontrastmittel notwendig ist (ON 68).

Eine Unverhältnismäßigkeit der angeordneten Untersuchung ist mit Blick auf die Bedeutung der Tat, deren H***** dringend verdächtig ist und zu der er sich bisher auch immer bekannte, und die im Fall der Verurteilung zu erwartende Strafe keinesfalls zu besorgen.

Letztlich unterliegt das einzuholende Gutachten bzw. das Ergebnis der körperlichen Untersuchung - wie alle anderen Beweismittel auch - der Beweiswürdigung des in der Hauptverhandlung erkennenden Jugendgeschworenengerichtes, wobei eine Mindestaltersbestimmung nahezu immer einer Altersunterschätzung gleichkommt, zumal es auf seltene, frühe Referenzbeispiele rekurriert. Eine Altersbegutachtung berücksichtigt daher immer das Interesse der betroffenen Person, zumal ein falsch-positiv festgestelltes Überschreiten einer Altersgrenze kaum möglich ist. An dieser Stelle ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass mangels unzweifelhafter Urkunden sein Lebensalter zur Tatzeit jedenfalls der - im geschworenengerichtlichen Verfahren kaum anfechtbaren - Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts unterliegt, wobei sich diese bei Unterbleiben der angeordneten Untersuchung lediglich auf das äußere Erscheinungsbild stützen kann.

Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass durch die gerichtlich bewilligte Anordnung nicht „praktisch jeglicher Eingriff“ (Beschwerdevorbringen S. 5) angeordnet wurde. Zunächst wurde die Zuhilfenahme einer MRT angeordnet und im Übrigen sind gerichtlich beeidete Sachverständige verpflichtet ihre Gutachten aufgrund geringstmöglichen Eingriffes unter Beachtung der dargestellten Grundsätze des § 123 StPO und nach dem letzten Stand der Wissenschaft zu erstatten, sodass ohnedies nur die bereits oben angeführten und von der AGFAD empfohlenen Untersuchungen der/des körperfernen Hand/Unterarms linksseitig, der Weisheitszähne und der medialen Schlüsselbeine möglich sind.

Textnummer

EW0000848

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2017:0210BS00309.17W.1108.000

Im RIS seit

27.11.2017

Zuletzt aktualisiert am

07.12.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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