RS Vfgh 2017/10/12 G52/2016

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 12.10.2017
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Index

20/06 Konsumentenschutz

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litc
Fern- und Auswärtsgeschäfte-G §4, §10, §15, §16, §18
Verbraucherrechte-Richtlinie 2011/83/EU Art4, Art6, Art14, Art16
AEUV Art267
B-VG Art18
VfGG §62 Abs1

Leitsatz

Abweisung eines Individualantrags auf Aufhebung von Bestimmungen des Fern- und Auswärtsgeschäfte-Gesetzes betreffend die Informationspflichten des Unternehmers und das Rücktrittsrecht des Verbrauchers vom Vertrag; Umsetzung von vollharmonisiertem Unionsrecht der Verbraucherrechte-Richtlinie durch die zulässigerweise angefochtenen Bestimmungen des FAGG; im Hinblick auf den Harmonisierungsgrad kein Spielraum des innerstaatlichen Gesetzgebers bei der Umsetzung; kein Vorabentscheidungsersuchen des VfGH mangels Bedenken hinsichtlich der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen; Nichtzustandekommen von Verträgen im Fernabsatz oder von Verträgen außerhalb von Geschäftsräumen bis zur Erteilung der geforderten Informationen gerechtfertigt; kein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch den Ausschluss der Haftung des Verbrauchers bei mangelnder Belehrung über sein Widerrufsrecht im Hinblick auf das angestrebte Ziel eines umfassenden Verbraucherschutzes; keine Prüfung der geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte; teilweise Zurückweisung des Antrags mangels Darlegung von Bedenken im Einzelnen bzw mangels unmittelbarer Betroffenheit der antragstellenden Gesellschaft

Rechtssatz

Abweisung des Antrags auf Aufhebung von §4 Abs1, §10, §15 Abs4 letzter Satz, der Wortfolge "nachdem er ein Verlangen gemäß §10 erklärt und der Unternehmer hierauf mit der Vertragserfüllung begonnen hat" in §16 Abs1, §16 Abs2 und §18 Abs2 Fern- und AuswärtsgeschäfteG - FAGG, BGBl I 33/2014.

Im Übrigen Zurückweisung des Antrags.

Zulässigkeit des Individualantrags nur hinsichtlich jener Bestimmungen, gegen die eindeutig zuordenbare verfassungsrechtliche Bedenken iSd §62 Abs1 VfGG geltend gemacht werden.

Keine unmittelbare Betroffenheit der antragstellenden Gesellschaft durch §7 Abs2 FAGG (Informationserteilung bei bestimmten Fernabsatzverträgen).

Voraussetzung für das Vorliegen eines Fernabsatzvertrages (s Legaldefinition des §3 Z2 FAGG) ist das Bestehen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems, das organisatorisch auf einen regelmäßigen Absatz per Distanzgeschäft ausgerichtet ist. Dabei genügt das bloße Bestehen von Internetauftritten mit Informationen zum Unternehmer, dessen Waren bzw Dienstleistungen und Kontaktinformationen sowie Werbeeinschaltungen oder Ähnliches im Allgemeinen noch nicht, um von einem Fernabsatzsystem iSd §3 Z2 FAGG ausgehen zu können.

Darüber hinaus erfasst der Anwendungsbereich des angefochtenen §7 Abs2 FAGG nicht jegliche Art von Fernabsatzverträgen, sondern nur solche, "die unter Verwendung eines Fernkommunikationsmittels geschlossen [werden], bei dem für die Darstellung der Information nur begrenzter Raum oder begrenzte Zeit zur Verfügung steht".

Die antragstellende Gesellschaft versäumt es darzulegen, dass sie Verträge unter Verwendung eines Fernkommunikationsmittels schließe, bei dem für die Darstellung der Information nur begrenzter Raum oder begrenzte Zeit zur Verfügung steht (zB bei Vertragsabschluss über mobile Endgeräte). Weder der telefonische Kontakt noch der Kontakt per E-Mail werden durch §7 Abs2 FAGG erfasst.

Unmittelbarer und aktueller Eingriff in die Rechtssphäre der antragstellenden Gesellschaft durch §4 Abs1 (Informationspflichten des Unternehmers), §15 Abs4 letzter Satz (Ausschluss der Haftung des Verbrauchers für Wertverlust bei fehlender Belehrung über das Rücktrittsrecht), die angefochtene Wortfolge in §16 Abs1, §16 Abs2 (Pflichten des Verbrauchers bei Rücktritt von Dienstleistungsverträgen und bestimmten Bezugsverträgen) und §18 Abs2 (Ausnahme vom Rücktrittsrecht bei Verträgen über dringende Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten) FAGG.

Gesetzliche Rechtsfolgenanordnung des Verlustes von zivilrechtlichen Ansprüchen sowie der Verwaltungsstrafsanktion hinreichend bestimmt.

Infolge des Inkrafttretens des FAGG mit 13.06.2014 unterliegen die von der antragstellenden Gesellschaft als Unternehmerin mit Verbrauchern geschlossenen Verträge über den entgeltlichen Erwerb von Waren bzw die Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen ihrer Gewerbeausübung regelmäßig dem Anwendungsbereich des FAGG.

Kein zumutbarer anderer Weg zur Herantragung der geltend gemachten Bedenken an den VfGH.

Untrennbarer Zusammenhang des §15 Abs4 und §16 Abs1 und Abs2 mit §10 FAGG (vgl B v 09.10.2015, G164/2014).

Das FAGG setzt die Richtlinie 2011/83/EU um. Kapitel III der Verbraucherrechte-RL, welches Fern- und Auswärtsgeschäfte betrifft, schafft vollharmonisiertes Unionsrecht und lässt keinen inhaltlichen Spielraum für die Mitgliedstaaten (vgl Art4 der Verbraucherrechte-RL). In diesem Sinn setzen die mit zulässigerweise angefochtenen Bestimmungen des FAGG die Regelungen der Verbraucherrechte-RL inhaltlich deckungsgleich (zum Teil sogar wörtlich) um.

Im Hinblick auf den in Art4 der Verbraucherrechte-RL festgelegten Harmonierungsgrad geht der VfGH davon aus, dass das Unionsrecht dem innerstaatlichen Gesetzgeber hier keinen Spielraum für die inhaltliche Gestaltung einräumt, sodass der Gesetzgeber - im Fall eines Widerspruchs der angefochtenen Bestimmungen zum österreichischen Verfassungsrecht - keine Möglichkeit hätte, eine Ersatzregelung zu schaffen, die sowohl dem Unionsrecht als auch dem innerstaatlichen Verfassungsrecht entspricht.

Eine Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen des FAGG wegen Widerspruchs gegen die geltend gemachten Verfassungsbestimmungen käme nur dann in Betracht, wenn der in einem Verfahren gemäß Art267 AEUV angerufene Gerichtshof der Europäischen Union die dem FAGG zugrunde liegenden Bestimmungen der Verbraucherrechte-RL für ungültig erklärte.

Der VfGH sieht sich nicht veranlasst, ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art267 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union hinsichtlich der Gültigkeit jener Bestimmungen der Verbraucherrechte-RL zu stellen, welche durch die mit dem (Individual-)Antrag zulässigerweise angefochtenen Bestimmungen des FAGG umgesetzt werden.

Kein Verstoß des Art6 Abs1 der Verbraucherrechte-RL (Umsetzung durch §4 Abs1 FAGG) gegen primäres Unionsrecht.

Angesichts der klaren Zielsetzung der Verbraucherrechte-RL, dass der Verbraucher über alle seine Rechte umfassend informiert sein und damit eine informierte Entscheidung über den Abschluss eines Fernabsatzvertrages oder eines Vertrages außerhalb von Geschäftsräumlichkeiten treffen können soll, ist es gerechtfertigt, dass der Vertrag solange nicht rechtswirksam zustande kommt bzw der Verbraucher nicht an sein Angebot gebunden ist, bis der Unternehmer dem Verbraucher die von der Verbraucherrechte-RL geforderten Informationen erteilt hat. Damit ist der Abschluss eines entsprechenden Vertrages nicht unmöglich.

Der VfGH hat auch keine Zweifel an der Gültigkeit der in Art6 Abs1 lita bis t der Verbraucherrechte-RL vorgesehenen Informationen, welche der Unternehmer dem Verbraucher vor Vertragsabschluss geben muss.

Es besteht auch kein Zweifel, dass Art6 Abs1 (und die übrigen Bestimmungen) der Verbraucherrechte-RL bei sogenannten gemischten Verträgen, also bei Verträgen, die sowohl Elemente eines Dienstleistungsvertrages als auch eines Kaufvertrages enthalten, anzuwenden sind. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang bei Anwendung der Verbraucherrechte-RL stellen, sind im Auslegungsweg zu klären, führen aber nicht dazu, dass - der hier relevante - Art6 Abs1 der Verbraucherrechte-RL gegen primäres Unionsrecht verstieße.

Der VfGH kann nicht erkennen, dass die Regelung des Art14 Abs2 letzter Satz der Verbraucherrechte-RL (Umsetzung durch §15 Abs4 FAGG) den von der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union aufgestellten Kriterien im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Unionsrechtsakts widerspricht (vgl zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zB: EuGH 22.01.2013, Rs C-283/11, Sky Österreich) Die Bestimmungen der Verbraucherrechte-RL verfolgen das Ziel eines umfassenden Verbraucherschutzes bei Fernabsatzverträgen und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen. Eine zentrale Stellung zur Verfolgung dieses Ziels nimmt dabei die Belehrung ein, welche der Unternehmer gegenüber dem Verbraucher gemäß Art6 Abs1 lith der Verbraucherrechte-RL vor Vertragsabschluss vornehmen muss.

Der VfGH hat keine Zweifel, dass die in Art14 Abs2 letzter Satz der Verbraucherrechte-RL normierte Rechtsfolge für den Unternehmer bei mangelnder Belehrung über das Widerrufsrecht geeignet ist, das Ziel des umfassenden Verbraucherschutzes bei Fernabsatzverträgen und bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen zu erreichen. Der VfGH kann auch nicht erkennen, dass die Regelung des Art14 Abs2 letzter Satz der Verbraucherrechte-RL über das hinausgeht, was zur Verfolgung des mit der Regelung verfolgten Ziels des umfassenden Verbraucherschutzes erforderlich ist. Das von der Verbraucherrechte-RL verfolgte Ziel eines umfassenden Verbraucherschutzes ist derart gewichtig, dass es die in Art14 Abs2 letzter Satz der Verbraucherrechte-RL statuierte Rechtsfolge bei fehlender Belehrung durch den Unternehmer über das Widerrufsrecht des Verbrauchers rechtfertigt.

§18 Abs2 FAGG beruht auf Art16 lith der Verbraucherrechte-RL.

Der VfGH kann nicht erkennen, dass der Unionsgesetzgeber unsachlich vorgegangen wäre, indem er in Art16 lith der Verbraucherrechte-RL nur für dringend vorzunehmende Reparaturarbeiten einen Ausnahmetatbestand betreffend das Rücktrittsrecht (und nicht etwa für alle in Frage kommenden dringenden Dienstleistungen) festgelegt hat.

Da die angefochtenen Bestimmungen den Vorschriften der Verbraucherrechte-RL entsprechen, welche den Mitgliedstaaten keinen Spielraum bei der Umsetzung einräumen, und der VfGH keine Bedenken hinsichtlich der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen hat, kommt eine verfassungsrechtliche Prüfung wegen Widerspruchs zu den geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Art5 StGG bzw Art1 1. ZPEMRK, Art6 StGG sowie Art7 B-VG bzw Art2 StGG) nicht in Frage.

Kein Verstoß des §4 FAGG gegen Art18 B-VG; Regelung einer Auslegung zugänglich und daher hinreichend bestimmt.

Soweit die antragstellende Gesellschaft meint, §4 FAGG lasse nicht erkennen, welche Rechtsfolgen auf "gemischte Verträge" anwendbar seien, ist ihr entgegenzuhalten, dass die Rechtsfolgen einer unterlassenen Information durch den Unternehmer nicht in §4 FAGG geregelt sind. Diese finden sich vielmehr in den §§11 ff FAGG, welche allerdings nicht zulässigerweise angefochten wurden.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Konsumentenschutz, EU-Recht Richtlinie, Vorabentscheidung, Determinierungsgebot, VfGH / Prüfungsmaßstab, VfGH / Individualantrag, VfGH / Formerfordernisse, VfGH / Bedenken

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:G52.2016

Zuletzt aktualisiert am

20.03.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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