TE Vwgh Erkenntnis 2017/10/18 Ra 2017/19/0141

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Veröffentlicht am 18.10.2017
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Mag. Stickler und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des A A J A (alias A J) in Z, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2017, L524 2133860-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 5. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 11. August 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Unter einem sprach die Behörde aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde und erließ gegen ihn gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung. Weiters stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Irak zulässig sei, und setzte gestützt auf § 55 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens verwies er - unter Wiedergabe von Auszügen aus vom Bundesverwaltungsgericht beigeschafften Berichten zur Situation im Irak - (auch) darauf, dass in seinem Wohnort "eine Art ‚Säuberung' von der sunnitischen Bevölkerung durch die shiitischen Anhänger" erfolge. "Die sunnitische Bevölkerung" solle "dort nicht mehr sein". Sein Haus sei zerstört und seine Familie sei vertrieben worden. Seine Fluchtgründe seien "der sunnitische Hintergrund".

4 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis als unbegründet ab. Die Revision wurde nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

5 Das Verwaltungsgericht stellte in seiner Begründung - soweit für das Revisionsverfahren wesentlich - fest, der Revisionswerber sei Araber und Sunnit. Bis zu seiner Ausreise habe er mit seinen Eltern und zwei Brüdern in einem Haus in Samarra (in der Provinz Saleh ad-Din) gelebt. Die beiden Schwestern des Revisionswerbers lebten bei ihren Ehemännern in Samarra. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber "von einer Miliz" bedroht und ihm seine Werkstätte "weggenommen" worden sei. Es sei auch keine asylrelevante Verfolgung aus anderen Gründen - und zwar weder anhand des Vorbringens des Revisionswerbers noch "aus amtswegiger Wahrnehmung" - "hervorgekommen".

6 Zudem traf das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zur Lage im Irak. Unter anderem wird dazu ausgeführt (Fehler im Original):

"5.2. Regierung, ISF, schiitische Milizen

Die laut Human Rights Watch außer Kontrolle geratenen schiitischen Milizen (HRW 20.9.2015) begehen breit angelegte und systematische Menschenrechtsverletzungen (AI 24.2.2016, HRW 27.1.2016). Es werden Zivilisten werden aus ihren Häusern vertrieben, gekidnappt, willkürlich verhaftet, gefoltert und in einigen Fällen in Massenexekutionen getötet. Insbesondere in jenen Gebieten, die die Milizen vom IS zurückerobern, wird die sunnitische Bevölkerung pauschal schikaniert. V.a. die Miliz Asa'ib Ahl Al Haqq ist hier besonders hervorzuheben (HRW 15.2.2015, vgl. BTI 2016). Von den schiitischen Milizen wurden ganze Dörfer systematisch zerstört, sie wurden geplündert, niedergebrannt, oder gesprengt (HRW 27.1.2016). Von April bis Dezember 2015 sind alleine in der Provinz Salah al-Din zumindest 718 Sunniten von Kämpfern schiitischer Milizen entführt worden (Reuters 14.12.2015). Es werden sogar Stimmen laut, die meinen, dass sich einige der schiitischen Milizen teilweise hinsichtlich ihres reaktionären Gesellschaftsbildes und ihrer Brutalität gegenüber Andersgläubigen, kritischen JournalistInnen und Menschen mit anderer sexueller Orientierung kaum vom IS unterscheiden (Rohde 9.11.2015).

Auch die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) selbst verübten Attacken auf zivile sunnitische Gebiete (ISW o.D.)."

Im Anschluss erfolgt die Nennung jener Berichte, auf die sich diese Feststellungen stützen, wobei diese vorwiegend aus dem ersten Quartal 2016 stammten.

7 In der Folge legte das Bundesverwaltungsgericht dar, aufgrund welcher beweiswürdigenden Überlegungen es zum Schluss gekommen sei, dass eine konkret gegen den Revisionswerber gerichtete Bedrohungshandlung durch Angehörige schiitischer Milizen bisher nicht stattgefunden habe. Der dem diesbezüglichen Vorbringen konkret zugrundeliegende Sachverhalt sei - insbesondere wegen der im angefochtenen Erkenntnis näher dargestellten Widersprüche in den Angaben des Revisionswerbers - nicht glaubhaft gemacht worden.

8 In seinen rechtlichen Erwägungen führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der Revisionswerber habe "die behaupteten Fluchtgründe, nämlich eine Bedrohung durch die Milizen, speziell durch die Miliz Asaib Ahl al Haq, nicht (...) glaubhaft machen können". Daher liege die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe nicht vor. Es lägen aber auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Revisionswerber Gruppenverfolgung drohe. Es könne "aus den länderkundlichen Feststellungen" zur Lage im Irak nicht abgeleitet werden, dass eine "generelle und systematische Verfolgung von Muslimen sunnitischer Glaubensrichtung" stattfinde. Im Übrigen lebten auch die Eltern und die Geschwister des Revisionswerbers nach wie vor im Irak und es hielten sich auch Verwandte von ihm in Samarra auf.

Betreffend die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz verwies das Bundesverwaltungsgericht zunächst darauf, dass es dem Revisionswerber nicht gelungen sei, eine Verfolgung glaubhaft zu machen. Daraus ergebe sich - so das Bundesverwaltungsgericht in seiner Begründung weiter - auch, dass kein Sachverhalt vorliege, der im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Unzulässigkeit der Rückführung in den Herkunftsstaat bewirke. Im Weiteren legte das Verwaltungsgericht noch dar, weshalb dem Revisionswerber im Fall der Rückkehr in sein Heimatland auch die notdürftigste Lebensgrundlage nicht entzogen sei.

Die Revision sei nicht zulässig, weil sich das Verwaltungsgericht an die im angefochtenen Erkenntnis zitierte Rechtsprechung "angelehnt" habe.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

10 Die Revision erweist sich - wie im Weiteren gezeigt wird - im Hinblick auf das in ihr enthaltene und näher ausgeführte Vorbringen, dass das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, als zulässig und berechtigt.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 23. Februar 2017, Ra 2016/20/0089, und vom 13. Oktober 2015, Ra 2015/19/0106, jeweils mwN).

12 Des Weiteren ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von den mit Asylverfahren befassten Behörden und Gerichten zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Folglich hatte auch das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 13. Dezember 2016, Ra 2016/20/0098).

13 Vor dem Hintergrund der oben wiedergegebenen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts - diese beziehen sich im Besonderen auch auf die Herkunftsprovinz des Revisionswerbers - zum Verhalten der Angehörigen von schiitischen Milizen und irakischer Sicherheitskräfte gegen Muslime sunnitischer Glaubensrichtung vermag der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass sich daraus keine Anhaltspunkte dafür ergeben würden, dass dem Revisionswerber aus in der GFK genannten Gründen, hier: der Religion, Gruppenverfolgung drohen könnte, nicht zu teilen.

14 Ausgehend davon hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht weiter mit der gebotenen Sorgfalt mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwieweit seitens des irakischen Staates die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit gegeben wäre, zumal in den oben wiedergegebenen Feststellungen auch die Rede von Übergriffen irakischer Sicherheitskräfte ist. Zudem ist den Feststellungen zu entnehmen, dass die schiitische Miliz Asaib Ahl al-Haq zum Teil anstelle von Polizisten eingesetzt worden und stark mit der irakischen Regierung und der Polizei vernetzt sei (S. 14 des angefochtenen Erkenntnisses). An anderer Stelle der Feststellungen wird davon gesprochen, dass sich insbesondere Sunniten über eine "sogenannte ‚schiitische Siegerjustiz' und" die "einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten" beschweren würden (S. 16 des angefochtenen Erkenntnisses). Auch enthält das angefochtene Erkenntnis die Feststellungen, dass staatliche Stellen nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und trotz erkennbarem Willen der Regierung Abadi nicht in der Lage oder bereit seien, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Es sei staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen, handelten eigenmächtig. Nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen sowie den Vereinten Nationen gehe dies einher mit Repressionen, mitunter auch extralegalen Tötungen sowie Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Sowohl Sicherheitskräfte der Regierung als auch regierungstreue Milizen und die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) seien für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße verantwortlich. Regierungstruppen zeichneten für wahllose Angriffe auf Gebiete unter IS-Kontrolle verantwortlich und hätten außergerichtliche Hinrichtungen verübt (S. 17 des angefochtenen Erkenntnisses).

Das Bundesverwaltungsgericht hielt zu diesem Thema in seiner rechtlichen Beurteilung lediglich fest, dass, auch wenn im Irak eine "sunnitenfeindliche Politik" herrsche und es "in unterschiedlicher Intensität zu Vertreibungen mit dem Ziel einer religiösen Homogenisierung" oder zu Entführungen komme, "noch nicht von einer zielgerichteten und systematischen Verfolgung von Muslimen sunnitischer Glaubensrichtung in einer asylrelevanten Intensität" ausgegangen werden könne. Auf welche Feststellungen sich dabei das Verwaltungsgericht bezieht, lässt es allerdings im Dunkeln. Dass es sich dabei nicht um die oben angeführten handeln kann, ist für den Verwaltungsgerichtshof evident.

Im Hinblick auf seine - wie gezeigt: mit maßgeblichen Mängeln behafteten - Ausführungen hat es das Bundesverwaltungsgericht auch unterlassen, sich im Hinblick auf § 11 AsylG 2005 in der nach dem Gesetz gebotenen Weise mit dem - nach den Feststellungen nicht von vornherein ausgeschlossenen - Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative und der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer solchen durch den Revisionswerber zu befassen.

15 Das Bundesverwaltungsgericht wird im fortzusetzenden Verfahren aber auch seine Feststellungen zur Lage im Irak - dann gegründet auf zeitlich aktuelle Berichte - zu ergänzen haben, um die nach dem Gesetz geforderte Beurteilung in mängelfreier Weise vornehmen zu können.

16 Da die bisherigen Feststellungen den vom Bundesverwaltungsgericht gezogenen rechtlichen Schluss nicht zu tragen vermögen, war das angefochtene Erkenntnis - zur Gänze, weil die tatbestandsmäßig von der Abweisung des Asylbegehrens abhängenden Aussprüche ihre rechtliche Grundlage verlieren - wegen (vorrangig wahrzunehmender) inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. Oktober 2017

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017190141.L00.1

Im RIS seit

23.11.2017

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2017
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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