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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot – Karte plus (Familiengemeinschaft)" wegen verfassungswidriger InteressenabwägungSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Dem aus der Türkei stammenden Beschwerdeführer wurde im September 2010 erstmals eine Aufenthaltsbewilligung "Studierender" erteilt, zuletzt war diese bis zum 15. Juni 2016 gültig. Am 13. Juni 2016 stellte der Beschwerdeführer – in Folge seiner am 12. Mai 2016 erfolgten Eheschließung mit einer im Besitz eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" stehenden türkischen Staatsangehörigen – einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot – Karte plus (Familiengemeinschaft)" gemäß §46 Abs1 Z2 NAG. Dieser wurde gemäß §11 Abs2 Z4 iVm Abs5 NAG abgewiesen, weil das nachgewiesene Einkommen der Ehefrau des Beschwerdeführers deutlich unter dem vorgegebenen Richtsatz liege, weshalb nicht auszuschließen sei, dass der Aufenthalt des Fremden zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Eine Ausnahme von dieser Voraussetzung gemäß §11 Abs3 NAG wurde im Hinblick auf Art8 EMRK nicht gewährt.
2. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 2. Mai 2017 mit dem Erkenntnis vom 20. Juni 2017 ab. Mit näherer Begründung gelangte das Verwaltungsgericht Wien ebenfalls zu dem Ergebnis, dass nicht auszuschließen sei, dass der Aufenthalt des Fremden zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Auch die Abwägung nach §11 Abs3 NAG falle nicht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Das Verwaltungsgericht Wien führt dazu Folgendes aus:
"Der BF hat im Heimatstaat noch seine Eltern und Geschwister, es besteht Kontakt. Der BF bezieht von seinem Vater Geldgeschenke in nicht feststellbarer Höhe. Es bestehen demnach Bindungen zum Heimatstaat. Der BF verfügt über geringe Deutschkenntnisse, obwohl er bereits seit fünf Jahren als Studierender im Bundesgebiet aufhältig ist; er konnte sich ohne Dolmetsch in der mündlichen Verhandlung nicht verständlich machen und ergriff hilfsweise die bei der mündlichen Verhandlung anwesende Ehefrau das Wort. Der Grad der Integration ist daher trotz des jahrelangen Aufenthaltes als Student als gering anzusehen. Der BF und seine Ehefrau sind seit 12.5.2016 verheiratet. Die Ehe wurde demnach geschlossen, als der Aufenthaltsstatus des BF im Bundesgebiet unsicher war, wessen sich der Bf. bewusst sein musste, da er immer wieder seine Aufenthaltsbewilligung zu verlängern hatte."
Das Verwaltungsgericht Wien weist darüber hinaus darauf hin, dass diese Entscheidung keine Auswirkung auf die Aufenthaltsbewilligung "Studierender" habe, über welche die belangte Behörde noch zu entscheiden habe.
3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der der Beschwerdeführer die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses sowie für den Fall der Ablehnung oder Abweisung die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof beantragt.
Begründend verweist der Beschwerdeführer insbesondere darauf, dass seine an Multipler Sklerose erkrankte Ehefrau schwanger sei und seiner Unterstützung bedürfe; der errechnete Geburtstermin der erwarteten Zwillinge sei der 4. Dezember 2017. Eine Auseinandersetzung mit diesem Umstand – ebenso wie mit den Folgen einer Ausreise des Beschwerdeführers – sei jedoch im Erkenntnis unterblieben. Eine Ausreise sei insbesondere für die Ehefrau des Beschwerdeführers nicht zumutbar, weil sämtliche Untersuchungen während der Schwangerschaft sowie die ärztliche Behandlung ihrer Krankheit in Österreich, bei einem Arzt des Vertrauens, erfolgen würden. Die Wartezeit einer allfälligen Antragstellung aus dem Ausland sei ungewiss und würde nicht nur die Neugeborenen belasten und allenfalls zu einer familiären Entfremdung führen, sondern auch für die Ehefrau in dieser Situation eine erhöhte psychische und physische Belastung zur Folge haben. Der Beschwerdeführer verfüge darüber hinaus in Österreich über eine besondere Integration und Aufenthaltsverfestigung: So befinde er sich seit sieben Jahren in Österreich und studiere Politikwissenschaften. Neben dem Studium sei er einer Beschäftigung in einem Handygeschäft und in einer Bäckerei sowie als Kellner nachgegangen. Auch habe er selbständig eine Sportkantine betrieben. Der Beschwerdeführer sei unbescholten und es seien ihm keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechtes, anzulasten. Das Privat- und Familienleben sei zudem – entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien – in einem Zeitpunkt entstanden, in dem der Beschwerdeführer im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels gewesen sei. Der Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers sei daher keinesfalls unsicher gewesen, weil noch kein Verlängerungs- bzw. Zweckänderungsantrag gestellt worden wäre. Der Beschwerdeführer verfüge über Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau B2. Sofern das Verwaltungsgericht Wien von einer mangelnden sprachlichen Integration ausgehe, sei diese Annahme verfehlt, weil der Beschwerdeführer bereits für sein Studium einen Deutschnachweis auf dem Sprachniveau B2 erbracht habe. Dass für den Beschwerdeführer ein Dolmetsch während der mündlichen Verhandlung erforderlich gewesen sei und gegebenenfalls seine Ehefrau das Wort ergreifen habe müssen, ergebe sich daraus, dass für gerichtliche Verhandlungen ein höheres Sprachniveau als für den alltäglichen Sprachgebrauch erforderlich sei.
4. Das Verwaltungsgericht Wien hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen. Der Landeshauptmann von Wien hat als belangte Behörde keine Gegenschrift erstattet.
II. Rechtslage
Die relevanten Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes – NAG), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 68/2017, lauten wie folgt:
"1. TEIL
ALLGEMEINER TEIL
[…]
4. Hauptstück
Allgemeine Voraussetzungen
Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn
1. gegen ihn ein aufrechtes Einreiseverbot gemäß §53 FPG oder ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß §67 FPG besteht;
2. gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht;
3. gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind, sofern er nicht einen Antrag gemäß §21 Abs1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist;
4. eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§30 Abs1 oder 2) vorliegt;
5. eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit §21 Abs6 vorliegt oder
6. er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde.
(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn
1. der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet;
2. der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;
3. der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;
4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;
5. durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden, und
6. der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§24) das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §14a rechtzeitig erfüllt hat.
(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs1 Z3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs2 Z1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), BGBl Nr 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war;
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
4. der Grad der Integration;
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(4) Der Aufenthalt eines Fremden widerstreitet dem öffentlichen Interesse (Abs2 Z1), wenn
1. sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde oder
2. der Fremde ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können.
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs2 Z4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des §293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl Nr 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in §292 Abs3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§2 Abs4 Z3) oder durch eine Haftungserklärung (§2 Abs1 Z15), ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß §291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
(6) Die Zulässigkeit, den Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des Abs2 Z2 bis 4 mit einer Haftungserklärung (§2 Abs1 Z15) erbringen zu können, muss ausdrücklich beim jeweiligen Aufenthaltszweck angeführt sein.
(7) Der Fremde hat bei der Erstantragstellung ein Gesundheitszeugnis vorzulegen, wenn er auch für die Erlangung eines Visums (§21 FPG) ein Gesundheitszeugnis gemäß §23 FPG benötigen würde.
[…]
2. TEIL
BESONDERER TEIL
1. Hauptstück
Niederlassung von Drittstaatsangehörigen
[…]
Bestimmungen über die Familienzusammenführung
§46. (1) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und
1. der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte' gemäß §41 oder einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' gemäß §41a Abs1 oder 4 innehat, oder
2. ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende
a) einen Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt – EU' innehat,
b) einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus', ausgenommen einen solchen gemäß §41a Abs1 oder 4 innehat, oder
c) Asylberechtigter ist und §34 Abs2 AsylG 2005 nicht gilt.
(2) Soll im Fall einer Familienzusammenführung gemäß Abs1 Z2 oder Abs4 ein Aufenthaltstitel quotenfrei erteilt werden, hat die Behörde auch über einen gesonderten Antrag als Vorfrage zur Prüfung der Gründe nach §11 Abs3 zu entscheiden und gesondert über diesen abzusprechen, wenn dem Antrag nicht Rechnung getragen wird. Ein solcher Antrag ist nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht wird oder ein solcher bereits anhängig ist.
(3) Familienangehörigen von Inhabern eines Aufenthaltstitels 'Blaue Karte EU' kann ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' ausgestellt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen. Gleiches gilt, wenn der nunmehrige Inhaber eines Aufenthaltstitels ursprünglich einen Aufenthaltstitel 'Blaue Karte EU' innehatte. Bei Familienangehörigen von Inhabern eines Aufenthaltstitels 'Blaue Karte EU' richtet sich die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' nach der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden.
(4) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist eine 'Niederlassungsbewilligung' zu erteilen, wenn
1. sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen,
2. ein Quotenplatz vorhanden ist und
3. der Zusammenführende eine 'Niederlassungsbewilligung' oder eine 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger' innehat.
(5) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen gemäß §§43 Abs2 oder 44 kann eine 'Niederlassungsbewilligung – ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilt werden, wenn
1. sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
2. im Fall von Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen im Sinne des §44 Abs1 ein Quotenplatz vorhanden ist."
III. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2. Dem Verwaltungsgericht Wien ist bei der gemäß Art8 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:
Gemäß §11 Abs3 NAG kann ein Aufenthaltstitel u.a. trotz Ermangelung der Voraussetzung des §11 Abs2 Z4 NAG erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist.
Zwar hat das Verwaltungsgericht Wien im konkreten Fall eine Interessenabwägung durchgeführt, dabei jedoch keine nachvollziehbar begründete Gewichtung der maßgeblichen Kriterien vorgenommen:
So hat das Verwaltungsgericht Wien bei seiner Interessenabwägung dem festgestellten Umstand, dass der Beschwerdeführer sich seit 2010 rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und seit dem 12. Mai 2016 mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen verheiratet ist, keine bzw. nur geringe Bedeutung beigemessen (vgl. VfSlg 18.748/2009). Auch lässt es die getroffene Feststellung gänzlich unberücksichtigt, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers von diesem schwanger ist (vgl. VfSlg 18.393/2008, 19.776/2013). Zudem wurden keine Feststellungen zu dem – in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten – Umstand getroffen, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers an Multipler Sklerose erkrankt sei und – insbesondere auf Grund ihrer Schwangerschaft – der Unterstützung ihres Ehemannes bedürfe. Dieser Umstand wurde in der Folge auch bei der Interessenabwägung nach Art8 EMRK außer Acht gelassen. Im Zusammenhang mit dem Familienleben des Beschwerdeführers weist das Verwaltungsgericht Wien lediglich auf den Umstand hin, dass dieses zu einem Zeitpunkt begründet worden sei, in dem der Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers im Bundesgebiet unsicher gewesen sei. Dabei lässt es jedoch unberücksichtigt, dass dieser Umstand nicht zur Konsequenz hat, dass der während des unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration kein Gewicht beizumessen ist (vgl. zB VfGH 21.2.2013, B880/12) und dass der Beschwerdeführer (durchgehend) über befristete Aufenthaltstitel verfügte (vgl. VfGH 12.9.2013, U1963/2012).
Weiters setzte sich das Verwaltungsgericht Wien zwar im Rahmen der Beurteilung der finanziellen Situation des Beschwerdeführers mit dessen beruflicher Tätigkeit auseinander, unterließ es aber, diesen Umstand ebenso wie das Studium des Beschwerdeführers, welches ebenso im Kontext der Integrationsleistung zu sehen ist (vgl. idS VfGH 7.10.2014, U2459/2012 ua.), im Rahmen der Interessenabwägung nach Art8 EMRK zu würdigen.
Da das Verwaltungsgericht Wien vor diesem Hintergrund auf die Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat, indem erhebliche Punkte unberücksichtigt blieben bzw. aktenkundige Umstände übergangen wurden (vgl. VfGH 10.12.2014, E10/2014), wurde dieser in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nicht öffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Fremdenrecht, Aufenthaltsrecht, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2017:E2670.2017Zuletzt aktualisiert am
21.11.2017