TE Vwgh Erkenntnis 2017/10/19 Ra 2017/20/0144

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Veröffentlicht am 19.10.2017
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §17 Abs8;
BFA-VG 2014 §21 Abs3;
BFA-VG 2014 §21 Abs6a;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §28 Abs3;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Hainz-Sator und Dr. Leonhartsberger sowie den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. April 2017, Zlen. W242 2149059-1/5E, W242 2149061-1/5E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. A A, 2. A K, beide unbekannten Aufenthalts) zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheiden vom 17. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Mitbeteiligten vom 14. Oktober 2016 auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, sprach aus, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-Verordnung) Italien zur Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) die Außerlandesbringung an und erklärte die Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG für zulässig.

2 Gegen diese am 20. Februar 2017 zugestellten Bescheide erhoben die Mitbeteiligten am 1. März 2017 Beschwerde.

3 Am 21. März 2017 stellten die zu diesem Zeitpunkt in Schubhaft befindlichen Mitbeteiligten mündlich vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes neuerlich Anträge auf internationalen Schutz. Nach Rücksprache mit dem BFA wurde darüber keine Niederschrift aufgenommen, sondern lediglich ein Bericht über die Tatsache der Antragstellung an das BFA übermittelt, das diesen im Hinblick auf das noch anhängige Beschwerdeverfahren an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) weiterleitete.

4 Den gegen die Bescheide vom 17. Februar 2017 erhobenen Beschwerden gab das BVwG mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom 3. April 2017 gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) statt und behob die bekämpften Bescheide. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5 Begründend führte das BVwG aus, dass § 17 Abs. 8 AsylG 2005 in Bezug auf ein anhängiges Beschwerdeverfahren zwischen schriftlich eingebrachten und allen anderen während eines Beschwerdeverfahrens neu gestellten Anträgen auf internationalen Schutz unterscheide. Nur während des Beschwerdeverfahrens schriftlich gestellte Anträge seien Beschwerdeergänzungen, während alle nicht schriftlich gestellten Anträge ex lege keine Beschwerdeergänzungen seien. Das BFA sei zwar während des anhängigen Beschwerdeverfahrens von der inhaltlichen Entscheidung über die Anträge befreit, es habe jedoch für eine Bearbeitung bzw. für die Protokollierung der Anträge zu sorgen und den relevanten Sachverhalt so weit zu erheben, dass dem BVwG eine Mitbehandlung im Beschwerdeverfahren möglich sei. Die Bestimmungen über die Erstbefragung bzw. die Einvernahme seien grundsätzlich anwendbar. Ohne entsprechende Ergebnisse (Niederschriften) sei das BVwG nicht in der Lage, die Relevanz eines neuen Vorbringens für das Beschwerdeverfahren und/oder die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung zu beurteilen.

6 Da das BFA jede Ermittlungstätigkeit zu den neuerlichen Anträgen unterlassen habe, beabsichtige es, seine Ermittlungen auf das BVwG zu überwälzen. Dies stelle einen derartigen Ermittlungsmangel dar, dass der Bescheid nach § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG aufzuheben sei. Die Unzulässigkeit der ordentlichen Revision ergebe sich durch die klare Rechtslage.

7 Am 3. April 2017 wurden die Mitbeteiligten nach Italien abgeschoben.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

9 In der Revision wird zur Zulässigkeit u.A. vorgebracht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG abgewichen (Hinweis auf VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072, und 5.10.2016, Ra 2016/19/0208). Indem das BVwG ohne Vorliegen von Ermittlungsmängeln des BFA - dieses sei, weil zum Zeitpunkt der neuerlichen Antragstellung das Verfahren vor dem BFA bereits abgeschlossen gewesen sei und die Bestimmungen über die Erstbefragung im Fall eines weiteren Antrages bei laufendem Beschwerdeverfahren nicht anzuwenden seien, zu keinen Ermittlungen verpflichtet - und ohne ernsthafte Begründung für die Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung die Bescheide aufgehoben habe, von dieser Rechtsprechung abgewichen.

10 Die Revision ist zulässig und begründet.

11 Die für den vorliegenden Revisionsfall maßgeblichen Bestimmungen lauten:

A) Aus dem AsylG 2005:

"4. Hauptstück

Asylverfahrensrecht

1. Abschnitt

Allgemeines Asylverfahren Verfahrensablauf

§ 17.

...

(7) Ein in der Rechtsmittelfrist gestellter weiterer Antrag auf internationalen Schutz gilt als Beschwerde oder Beschwerdeergänzung gegen den zurückweisenden oder abweisenden Bescheid des Bundesamtes.

(8) Wird während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz gestellt oder eingebracht, wird dieser Antrag im Rahmen des anhängigen Beschwerdeverfahrens mitbehandelt. Ein diesfalls gestellter schriftlicher Antrag auf internationalen Schutz gilt als Beschwerdeergänzung; das Bundesamt hat diesen Antrag unverzüglich dem Bundesverwaltungsgericht zu übermitteln."

B) Aus dem BFA-VG:

"Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

§ 21. ...

(3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

...

(6a) Unbeschadet des Abs. 7 kann das Bundesverwaltungsgericht über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde, der diese von Gesetz wegen nicht zukommt (§ 17) oder der diese vom Bundesamt aberkannt wurde (§ 18), und über Beschwerden gegen zurückweisende Entscheidungen im Zulassungsverfahren ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung entscheiden.

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."

12 Die im Revisionsfall anzuwendende Fassung des § 17 Abs. 8 AsylG 2005 geht - bezogen auf den Inhalt - auf eine Änderung des Asylgesetzes 1997 mit BGBl. I Nr. 101/2003 zurück.

13 Zum Asylgesetz 1997 hat der Verwaltungsgerichtshof bereits judiziert, dass die Behörde erster Instanz zur inhaltlichen Entscheidung darüber, ob dem Antragsteller Asyl zu gewähren sei, bei einer Antragstellung während des anhängigen Berufungsverfahrens über dieselbe Frage nicht zuständig sei (vgl. VwGH 16.9.1999, 99/20/0310). Weiters wurde im Erkenntnis 7.10.2010, 2006/20/0035, zur Rechtslage nach dem AsylG 2005 klargestellt, dass der Wortlaut des damaligen § 17 Abs. 8 AsylG 2005, wonach ein als Berufungsergänzung geltender weiterer Antrag auf internationalen Schutz im Rahmen des Berufungsverfahrens mitzubehandeln sei, nichts anderes bedeute, als dass die Berufungsbehörde über einen solchen (als Berufungsergänzung geltenden) Antrag gemeinsam mit der Berufung abzusprechen habe.

14 Aus der dargestellten, auf die aktuelle Rechtslage anwendbaren Judikatur ergibt sich, dass über einen während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens gestellten weiteren Antrag auf internationalen Schutz nicht vom BFA zu entscheiden ist, sondern ein solcher vom BVwG im Rahmen des von ihm über dieselbe Frage geführten Beschwerdeverfahrens mitzubehandeln und mit der Beschwerde zu erledigen ist. Auch wenn in den genannten Judikaten nicht ausdrücklich (auch) auf mündlich gestellte Anträge Bezug genommen wird, lassen sich die Aussagen insoweit aufgrund des Wortlauts des ersten Satzes des § 17 Abs. 8 AsylG 2005 verallgemeinern. Dieser besagt nämlich, dass dann, wenn während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz gestellt oder eingebracht wird, dieser Antrag im Rahmen des anhängigen Beschwerdeverfahrens mitbehandelt wird. Dabei wird nicht zwischen schriftlichen und mündlichen Anbringen unterschieden, sodass jeder - schriftlich oder nicht schriftlich - während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens gestellte oder eingebrachte weitere Antrag im Rahmen des anhängigen Beschwerdeverfahrens "mitzubehandeln" ist (vgl. auch die ebenfalls nicht differenzierenden ErläutRV 952 BlgNR 22. GP, S. 44).

15 Davon ging auch das BVwG in der angefochtenen Entscheidung zutreffend aus. Ob - wie das BVwG vermeint - schriftliche und mündliche Anträge insofern verschieden zu behandeln wären, als hinsichtlich mündlicher Anbringen eine Erstbefragung oder Einvernahme durchzuführen wäre, kann aufgrund der nachstehenden Überlegungen dahingestellt bleiben.

16 Gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG ist einer Beschwerde gegen die Entscheidung des BFA im Zulassungsverfahren stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

17 § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG stellt darauf ab, dass der Sachverhalt, der als Grundlage für die vorzunehmende rechtliche Beurteilung zu dienen hat, noch nicht vollständig feststeht. Es handelt sich dabei um eine von § 28 Abs. 3 erster und zweiter Satz VwGVG abweichende Regelung, die auf die Besonderheiten des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens Bedacht nimmt, indem die Möglichkeit, aber auch die Verpflichtung zur Fällung einer zurückverweisenden Entscheidung im Fall einer Beschwerde gegen einen im asylrechtlichen Zulassungsverfahren erlassenen Bescheid allein an die in § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG genannten Voraussetzungen geknüpft ist. Zudem ergibt sich aus der erkennbaren Bezugnahme auf den ersten Satz des § 21 Abs. 3 BFA-VG, dass (auch) mit einer solchen Entscheidung die Rechtsfolge der Zulassung des Asylverfahrens einhergeht (vgl. VwGH 30.5.2017, Ra 2017/19/0017).

18 Der VwGH geht davon aus, dass immer dann, wenn der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes durch die Verwaltungsbehörde Ermittlungsmängel anhaften, die nicht vom BVwG in der für die Erledigung des - im Rahmen des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens abzuwickelnden - Beschwerdeverfahrens gebotenen Eile beseitigt werden können, der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben ist. Eine Verhandlung hat diesfalls zu unterbleiben. Ist hingegen davon auszugehen, dass das BVwG die Ermittlungsmängel rasch und ohne größeren Aufwand selbst beseitigen kann, hat es von einer Beschwerdestattgebung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG Abstand zu nehmen und die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens (samt der Feststellung allfällig fehlenden Sachverhaltes) selbst vorzunehmen. Dabei hat es sich bei der Beurteilung gemäß § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung, ob eine Verhandlung durchzuführen ist, auch davon leiten zu lassen, ob die vorhandenen Ermittlungsmängel zweckmäßigerweise durch im Rahmen der Verhandlung vorzunehmende Beweisaufnahmen beseitigt werden können (etwa wenn es gilt, allein die Glaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers einer näheren Beurteilung zu unterwerfen; vgl. wiederum VwGH 30.5.2017, Ra 2017/19/0017, und 30.6.2016, Ra 2016/19/0072).

19 Das BVwG geht im angefochtenen Beschluss unter Berufung auf die zuletzt zitierte Entscheidung davon aus, im vorliegenden Fall sei aufgrund der gänzlichen Unterlassung der Erhebungstätigkeit in Bezug auf den während des beim BVwG anhängigen Beschwerdeverfahrens gestellten weiteren Antrag auf internationalen Schutz ein derartiger Ermittlungsmangel zu erkennen, der schon aufgrund des zu erwartenden Erhebungsaufwandes nicht in der für das Zulassungsverfahren gebotenen Eile beseitigt werden könne.

20 Damit hat das BVwG - offenbar in Verkennung der Voraussetzungen des § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG - nicht dargelegt, weshalb es - selbst bei Annahme eines behördlichen Ermittlungsmangels betreffend den Inhalt des Antrags - diesen Mangel nicht im Sinn des oben Gesagten in der für das Zulassungsverfahren gebotenen Eile hätte beseitigen können. Insbesondere ist das BVwG nicht auf den Umstand eingegangen, dass ein Beschwerdeverfahren bereits anhängig war und es sich bei dem neuen Antrag lediglich um einen dieses ergänzenden Teil des Beschwerdeverfahrens handelt.

21 Der angefochtene Beschluss war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 19. Oktober 2017

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017200144.L00.1

Im RIS seit

21.11.2017

Zuletzt aktualisiert am

27.11.2017
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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