TE OGH 2017/10/24 2Ob241/16d

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Veröffentlicht am 24.10.2017
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie die Hofräte und Hofrätinnen Dr. Fichtenau, Dr. Musger, Dr. E. Solé und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. M***** R*****, vertreten durch Harisch & Partner Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagten Parteien 1. C***** L*****, und 2. A***** Versicherungs-AG, *****, beide vertreten durch Dr. Andreas Haberl und Dr. Gotthard Huber, Rechtsanwälte in Vöcklabruck, wegen 34.275,32 EUR sA (Revisionsinteresse 11.116,84 EUR sA), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 28. September 2016, GZ 1 R 39/16k-59, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 17. Dezember 2015, GZ 26 Cg 165/13p-50, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird bezüglich einer Stattgebung des Klagebegehrens von 11.116,84 EUR samt 4 % Zinsen seit 14. November 2013 und in seiner Kostenentscheidung aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung:

Am 8. 3. 2013 ereignete sich ein Verkehrsunfall zwischen dem Ehegatten der Klägerin als Lenker eines Pkw Mercedes und dem Erstbeklagten als Lenker eines bei der Zweitbeklagten versicherten Pkw Suzuki, an dem der Erstbeklagte das Alleinverschulden trägt. Im Mercedes befanden sich auch die Klägerin und deren damals 4-jähriger Sohn.

Die Klägerin macht sowohl eigene Schäden als auch ihr zedierte Schäden des Ehegatten und Sachschäden für Gegenstände des Sohnes in Höhe von insgesamt 34.388,33 EUR geltend.

Das Erstgericht sprach rechtskräftig insgesamt 6.728,64 EUR zu, darunter für Haushaltshilfe 3.040 EUR, für Kilometergeld 685,02 EUR und für Medikamente (Begehren: 330,50 EUR) und beschädigte Brille (Begehren: 547 EUR) jeweils gemäß § 273 ZPO 40 EUR bzw 100 EUR. Das Begehren für zwei Paar Therapieschuhe zu je 149,99 EUR wies es mangels nachgewiesener Kausalität ebenso ab wie jenes für Kosten der Kinderbetreuung, abhanden gekommenen bzw beschädigte Bekleidung, Ohrringe, Schuhe, Kindersitz, Kinderschi-Set und Damenschistöcke, Garagensender etc. Es traf jeweils Negativfeststellungen zur Notwendigkeit der Fremdbetreuung des Kindes und über die Beschädigung bzw den Verlust der genannten Gegenstände. Letztlich wurden auch die Kosten eines nicht nutzbaren Tennisabonnements abgewiesen, weil nicht festgestellt werden konnte, dass die Klägerin dafür den begehrten Betrag bezahlt habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge. Es erachtete die Abweisung der Kinderbetreuungskosten vom Unfallstag bis zum 15. 5. 2013 für nicht mit dem vorliegenden Sachverständigengutachten übereinstimmend. Danach sei die Klägerin nicht nur bei der Hausarbeit, sondern auch bei der Kinderbetreuung eingeschränkt gewesen. Die dem widersprechende Feststellung des Erstgerichts sei nicht entscheidungsrelevant, weil auch feststehe, dass die Klägerin bis zum 15. 5. 2013 durch die benötigten Krücken wesentlich beeinträchtigt gewesen sei, kein Fahrzeug habe lenken können und Fremdhilfe tatsächlich auch bei der Kinderbetreuung in Anspruch genommen habe. Es seien ihr daher insofern Kosten für 367 Stunden à 10 EUR, somit 3.670 EUR sowie Fahrkosten zum und vom Kindergarten für neun Wochen zu je fünf Tagen und 15,6 km täglich (702 km) à 0,42 EUR, somit 294,84 EUR zuzusprechen.

Zu Recht kritisiere die Klägerin auch die ihr vom Erstgericht vorgeworfene Verletzung der Schadenminderungs-
pflicht wegen teilweiser Inanspruchnahme einer externen Haushaltshilfe mit einem Stundensatz von 27 EUR. Dieser Stundensatz erscheine nicht überhöht. Auch stehe nicht fest, dass die Schwiegermutter sofort nach dem Unfall zur Verfügung gestanden sei. Es stehe daher die Differenz zum Stundensatz der Schwiegermutter in Höhe von 11 EUR für die 72 externen Stunden (792 EUR) ebenfalls zu.

Der Zuspruch für Medikamente sei auffallend niedrig und die Abweisung des Begehrens für Therapieschuhe bedenklich. Im Sinne wohlverstandener Verfahrensökonomie lasse es eine Kosten-Nutzen-Analyse sinnvoll erscheinen, von der Möglichkeit der Entscheidung nach Ermessen über Bestand und Höhe des insoweit begehrten Kostenersatzes Gebrauch zu machen und statt eines aufwendigen ergänzenden Beweisverfahrens nach freier richterlicher Überzeugung iSd § 273 Abs 1 ZPO zu schätzen. Deshalb seien weitere 460 EUR an Medikamenten- bzw Therapieschuhkosten zuzusprechen.

Die Angaben der Klägerin in Bezug auf die Sachschadenspositionen seien lebensnahe, die Negativfeststellungen des Erstgerichts dagegen ebenso wie die Bewertung des Schadens der Brille mit nur 100 EUR bedenklich. Auch die Negativfeststellung zur Tennisplatzberechtigung sei nicht lebensnahe begründet. Das Berufungsgericht schätze daher, dass insoweit ein Schaden von gesamt 6.000 EUR entstanden sei, sodass unter Berücksichtigung des Zuspruchs von 100 EUR für die Brille durch das Erstgericht insoweit weitere 5.900 EUR zustünden.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nachträglich zu, weil eine Ermessensüberschreitung bei Anwendung des § 273 ZPO vorliegen könnte.

Eben darauf berufen sich die Beklagten in ihrer Revision. Das Berufungsgericht habe Schadenspositionen zugesprochen, zu denen das Erstgericht näher dargestellte Negativfeststellungen getroffen habe, ohne von diesen Feststellungen nach Beweiswiederholung abzugehen. Damit sei der Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt worden bzw liege ein Verfahrensmangel vor. Die unter Anwendung des § 273 ZPO erfolgte Betragsfestsetzung werde auch unter dem Gesichtspunkt der unrichtigen rechtlichen Beurteilung bekämpft, weil das Berufungsgericht die Grenzen der Ermessensentscheidung eklatant überschritten habe. Der zusätzliche Zuspruch bei der Haushaltshilfe sei wegen Verletzung der Schadenminderungspflicht unrichtig.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig, weil die gerügten Mangelhaftigkeiten des Berufungsverfahrens vorliegen; sie ist auch berechtigt im Sinn des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags.

1. Eine Verletzung des Unmittelbarkeits-
grundsatzes durch das Berufungsgericht ist gegeben, wenn dieses von den Feststellungen des Erstgerichts ohne Beweiswiederholung abgeht, oder wenn es ohne Beweiswiederholung Feststellungen aufgrund der in erster Instanz aufgenommenen Beweise ergänzt (RIS-Justiz RS0043057 [T5]); ebenso, wenn das Berufungsgericht seine rechtliche Beurteilung unter Abweichung von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts und ohne Durchführung einer Beweiswiederholung trifft (RIS-Justiz RS0043057 [T3]).

Betreffen die ergänzten Feststellungen einen für die Entscheidung wesentlichen Umstand, stellt die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auch eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RIS-Justiz RS0043057 [T11]; RS0042151).

2. Die Regel des § 273 Abs 1 ZPO darf zwar unter „Übergehung“, also Unterlassung der Aufnahme eines Beweises, und auch noch unter Nichtberücksichtigung bereits erhobener Beweise, nicht aber erstmals vom Berufungsgericht unter Abgehen von der Beweiswürdigung des Erstgerichts ohne Beweiswiederholung angewendet werden, weil das Ergebnis der Anwendung vom Rechtsmittelgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung nur überprüfbar ist, wenn schon das Prozessgericht diese Gesetzesstelle anwendet (RIS-Justiz RS0040419).

3. Während § 273 Abs 1 ZPO nur die Festsetzung der Schadenshöhe bzw Höhe einer sonstigen Forderung betrifft und nicht angewendet werden kann, solange der Grund der Forderung strittig ist, geht Abs 2 einen wesentlichen Schritt weiter, indem er es dem Richter ermöglicht, aus prozessökonomischen Gründen (auch) über das Bestehen eines Anspruchs selbst nach freier Überzeugung zu entscheiden (Rechberger in Fasching/Konecny2 § 273 ZPO Rz 15), wenn es sich dabei um im Verhältnis zum geltend gemachten Gesamtbetrag unbedeutende oder 1.000 EUR nicht übersteigende Ansprüche handelt und die vollständige Aufklärung aller maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist.

4. Angewendet auf den vorliegenden Fall bedeutet dies:

4.1. In Bezug auf die Therapieschuhe und die zugesprochenen Sachschäden (mit Ausnahme der Brille) hat sich das Berufungsgericht auf § 273 Abs 1 ZPO berufen, obwohl das Erstgericht jeweils Negativfeststellungen zum Grund der Ansprüche getroffen hat. Die erstmalige Anwendung der Vorschrift durch das Berufungsgericht unter Abgehen von der Beweiswürdigung des Erstgerichts ohne Beweiswiederholung war daher im Sinn der dargelegten Grundsätze der Judikatur nicht zulässig und bedeutet auch eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (vgl RIS-Justiz RS0043057 [T5]).

4.2. Hinsichtlich der Medikamente war die Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO zwar zulässig, weil die Vorschrift insoweit bereits vom Erstgericht angewendet wurde. Gleiches gilt grundsätzlich für die Brille. Allerdings ist nicht eruierbar, wie viel vom pauschalen Sachschadenzuspruch des Berufungsgerichts in Höhe von 5.900 EUR auf die Brille entfallen sollte.

4.3. Auch in Bezug auf die zugesprochenen Kinderbetreuungskosten ist das Berufungsgericht von der ausdrücklichen Negativfeststellung des Erstgerichts ohne Beweiswiederholung abgewichen, indem es diese bezogen auf den Zeitraum bis 15. 5. 2013 für „nicht entscheidungswesentlich“ erachtete (Berufungsurteil S 9). Es liegt daher auch insoweit eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vor. Zusätzlich ist den diesbezüglichen Ausführungen des Berufungsgerichts nicht zu entnehmen, ob und inwiefern es die weitere Feststellung des Erstgerichts, dass die Großmutter auch vor dem Unfall den Enkel ein bis zweimal wöchentlich ohne Bezahlung betreute (Ersturteil S 9), berücksichtigt hat.

5. Sowohl der Verfahrensmangel der Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes als auch jener der unrechtmäßigen Anwendung des § 273 ZPO führen zur Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts, weil sie wesentlich für die Entscheidung waren, sich auf diese auswirken konnten (vgl RIS-Justiz RS0116273) und daher abstrakt geeignet waren, eine unrichtige Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz herbeizuführen (vgl RIS-Justiz RS0043027).

Hat das Berufungsgericht aufgrund der in der Berufung vorgetragenen Beweisrüge Zweifel an den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen, muss es selbst im Rahmen einer Beweiswiederholung und allenfalls Beweisergänzung die Sachgrundlagen der Entscheidung schaffen (RIS-Justiz RS0040132 [T2]), soweit das Erstgericht eine bekämpfte Feststellung beweiswürdigend begründet hat (2 Ob 198/16d mwN).

6. Bei der neuerlichen Entscheidung wird, was den Zuspruch weiterer Haushaltshilfekosten betrifft, auch zu berücksichtigen sein, ob für den Zeitraum der beigezogenen externen Haushaltshilfe die später zu günstigeren Konditionen aushelfende Schwiegermutter tatsächlich zur Verfügung gestanden wäre. Letztlich hat das Erstgericht in Bezug auf die Fahrtkosten zum Kindergarten zwar festgestellt, dass die Klägerin erst wieder ab 16. 5. 2013 Autofahren konnte (S 4 des Ersturteils). Es wird hier aber auch die weitere Feststellung des Erstgerichts zu berücksichtigen sein (S 10), wonach die Fahrt vom und zum Kindergarten vor dem Unfall auch vom Ehegatten der Klägerin übernommen wurde.

7. Das Urteil des Berufungsgerichts ist daher im Umfang eines weiteren Zuspruchs von 11.116,84 EUR sA und im Umfang der Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuheben. Das Berufungsgericht wird die Beweisrüge in der Berufung der Klägerin – unter Beachtung der dargelegten Grundsätze – zu erledigen haben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 zweiter Satz ZPO.

Schlagworte

1 Generalabonnement,14 (Zivil-)Verfahrensrechtliche Entscheidungen,21 Zivilgerichtliche Verkehrsentscheidungen

Textnummer

E119837

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00241.16D.1024.000

Im RIS seit

17.11.2017

Zuletzt aktualisiert am

22.11.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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