TE Vfgh Erkenntnis 2017/10/11 E2007/2017

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Veröffentlicht am 11.10.2017
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
FremdenpolizeiG 2005 §52, §53
BFA-VG §9 Abs1, Abs4
EMRK Art8

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Erlassung einer Rückkehrentscheidung und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Serbien sowie Verhängung eines befristeten Einreiseverbotes über einen in Österreich aufgewachsenen serbischen Staatsangehörigen wegen Unterlassung jeglicher Ermittlungstätigkeit hinsichtlich des Vorliegens einer absoluten Aufenthaltsverfestigung und der familiären Verhältnisse

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.        Sachverhalt und Beschwerde

1.        Der Beschwerdeführer ist serbischer Staatsangehöriger und kam im frühen Kindesalter nach Österreich. Er ist Inhaber einer Daueraufenthaltskarte "EU", gültig bis 1. August 2019.

1.1.    Der Beschwerdeführer wurde vom Landesgericht für Strafsachen Wien mit Urteil vom 1. August 2008 wegen Verstoßes gegen §127 und §§15, 146 und 148 (1. Fall) StGB zu 3 Monaten bedingter Freiheitsstrafe, unter Setzung einer Probezeit von 2 Jahren, mit Urteil vom 16. April 2013 wegen Verstoßes gegen §§127, 129 Z1 StGB zu 16 Monaten Freiheitsstrafe, davon 12 Monate bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, und mit Urteil vom 20. Mai 2016 wegen Verstoßes gegen §§146, 147 Abs2 StGB zu 15 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Als mildernd wurden bei der letzten Verurteilung das reumütige Geständnis und die teilweise subjektive Schadensgutmachung, als erschwerend der rasche Rückfall, zwei einschlägige Vorstrafen, die Begehung innerhalb offener Probezeit sowie die Tatwiederholung gewertet.

1.2.    Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22. September 2016 wurde gemäß §52 Abs5 FPG iVm §9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß §46 FPG nach Serbien zulässig sei (Spruchpunkt II.), gemäß §53 Abs1 iVm Abs3 Z1 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.), eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß §55 Abs4 FPG nicht gewährt (Spruchpunkt IV.) sowie einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß §18 Abs2 Z1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

2.       Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht im nunmehr angefochtenen Erkenntnis im Hinblick auf Spruchpunkt III. stattgegeben und die Dauer des Einreiseverbots auf 7 Jahre herabgesetzt. Im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Dem Vorbringen, dass der Beschwerdeführer bereits im Alter von 2 Jahren, also im Jahr 1986, mit seinen Eltern nach Österreich gezogen sei, hielt das Bundesverwaltungsgericht entgegen, dass dies im Widerspruch zum ZMR-Auszug der Marktgemeinde Sieghartskirchen vom 19. Mai 2016 stehe, wonach der Beschwerdeführer im Bundesgebiet erstmals mit 29. November 1989 als gemeldet aufscheine. Ein Aufenthalt zu einem früheren Zeitpunkt könne daher nicht festgestellt werden. Auch dass sich der Beschwerdeführer seit nunmehr 30 Jahren im Bundesgebiet aufhalte, könne nicht festgestellt werden, weil in den Zeiträumen zwischen 6. Dezember 1990 und 11. Februar 1991, 31. Juli 1993 und 9. November 1999, 29. April 2005 und 26. Oktober 2005 sowie 28. November 2006 und 1. Mai 2007 keine Meldung im Bundesgebiet vorliege. Festgestellt wurde hingegen, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet die Pflichtschule besucht und im Anschluss daran eine Lehre als Maler und Anstreicher absolviert habe.

Zur Person des Beschwerdeführers führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass nicht festgestellt werden könne, ob dieser Kinder habe.

Aus rechtlicher Sicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des §9 BFA-VG in Verbindung mit Art8 EMRK zulässig ist, "eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses des Fremden an einem Verbleib in Österreich" vorzunehmen sei. Der Beschwerdeführer verfüge zwar – durch seine Eltern und seine Lebensgefährtin – über familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, dem stehe aber entgegen, dass er dreimal verurteilt wurde, dass seine Beschäftigungszeiten in Relation zu seiner gesamten Aufenthaltsdauer sehr kurz gehalten seien und dass sich der Beschwerdeführer nicht durchgehend im Bundesgebiet aufgehalten habe. Sowohl die Rückkehrentscheidung als auch die Anordnung eines Einreiseverbots seien daher rechtmäßig.

3.       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung von Art8 EMRK geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu zusammengefasst ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht falsche Feststellungen getroffen habe, weil der Beschwerdeführer in den Jahren von 1993 bis 1999 sehr wohl in Österreich gemeldet gewesen sei, wie sich aus der Meldebestätigung der MA 62 vom 1. Juni 2017 ergebe. Er habe in dieser Zeit – wie vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt – die Schule besucht. Auch sei der Beschwerdeführer schon im Alter von zwei Jahren in das Bundesgebiet eingereist und sei nur auf Grund der damaligen Unkenntnis seiner Eltern eine Meldung des Beschwerdeführers und seines Bruders nicht sogleich erfolgt.

Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot seien massive Eingriffe in das gemäß Art8 EMRK garantierte Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens. In §9 Abs4 BFA-VG werde geregelt, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn dieser von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist. Indem das Bundesverwaltungsgericht von fehlenden Meldebestätigungen ausgeht und daraus schließt, dass kein Aufenthalt im Sinn des §9 Abs4 BFA-VG vorliege, habe es diese Bestimmung in denkunmöglicher Weise angewendet. Es liege daher ein Verstoß gegen Art8 EMRK vor.

Da das Bundesverwaltungsgericht auf etliche weitere vom Beschwerdeführer vorgebrachte, entscheidungsrelevante Überlegungen nicht eingegangen sei, sei der relevante Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt worden. Zu einem anderen Ergebnis wäre das Bundesverwaltungsgericht gekommen, wenn es eine mündliche Verhandlung durchgeführt hätte.

4.       Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und das Bundesverwaltungsgericht legten die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, erstatteten jedoch keine Gegenschrift.

II.      Rechtslage

Die §§52 und 53 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I 100/2005, lauten in der hier relevanten Fassung BGBl I 24/2016 auszugsweise:

Rückkehrentscheidung

§52. […]

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß §53 Abs3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

Einreiseverbot

§53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

[…]

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Abs1 ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art8 Abs2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1.  ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;

2.  ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;

3.  ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;

4.  ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;

5.  ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;

6.  auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§278f StGB);

7.  auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder

8.  ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt.

(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.

(5) Eine gemäß Abs3 maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. §73 StGB gilt.

§9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I 87/2012, lautet in der hier relevanten Fassung BGBl I 25/2016:

Schutz des Privat- und Familienlebens

§9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß §61 FPG, eine Ausweisung gemäß §66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß §67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.  die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.  das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.  die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.  der Grad der Integration,

5.  die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.  die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.  Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.  die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.  die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§45 oder §§51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl I Nr 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn

1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß §10 Abs1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl Nr 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß §53 Abs3 Z6, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder

2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§52 Abs4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß §53 Abs3 FPG vorliegen. §73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl Nr 60/1974 gilt.

III.    Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1.       Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

1.1.     Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

1.2.    Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1.    Für Drittstaatsangehörige ist gemäß §9 Abs4 BFA-VG bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen eine "absolute" Aufenthaltsverfestigung vorgesehen, sofern diese sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und – nach der für den vorliegenden Fall relevanten Z2 – von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sind (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0050). Die Anordnung einer Rückkehrentscheidung ist bei Vorliegen dieser Voraussetzungen unzulässig. Die Gesetzesmaterialien führen dazu aus, dass ein Aufenthaltsverbot in diesen Fällen "überaus nachteilig in die Lebensbasis des Fremden eingreifen [würde], wobei solche Fremde – auch in ihrem 'Heimatstaat' – kaum wieder eine Heimat finden werden können" (RV 685 BlgNR 20. GP 76 zu §38 FrG idF BGBl I 75/1997; RV 952 BlgNR 22. GP 100 zu §61 FPG idF BGBl I 100/2005).

2.2.    Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Anwendbarkeit von §9 Abs4 BFA-VG im vorliegenden Fall nicht auseinandergesetzt. Vielmehr trifft es eine Abwägungsentscheidung nach §9 Abs1 BFA-VG und stützt diese in entscheidungsrelevanten Punkten auf Negativfeststellungen: Ob der Beschwerdeführer bereits im Alter von zwei Jahren in das Bundesgebiet eingereist sei, ob er sich über einen Zeitraum von 30 Jahren durchgehend in Österreich aufgehalten und ob er Kinder habe, könne nicht festgestellt werden. Die Klärung dieser Sachverhaltsfragen ist allerdings für die vorliegende Entscheidung von besonderer Relevanz, weil Rückkehrentscheidungen in Fällen wie dem vorliegenden im besonderen Maße geeignet sind, in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens einzugreifen. Daher hätte das Bundesverwaltungsgericht die Ermittlungstätigkeit in diesen entscheidungsrelevanten Punkten nicht unterlassen dürfen. Dies wiegt aus folgenden Gründen umso schwerer:

2.3.    Das Bundesverwaltungsgericht führte keine mündliche Verhandlung durch. Eine ausreichende Klärung des relevanten Sachverhaltes, etwa der Frage, in welchem Alter der Beschwerdeführer nach Österreich gereist ist, wäre durch die Befragung von Zeugen möglich und aus dem Blickwinkel des §9 Abs4 BFA-VG iVm Art8 EMRK unbedingt erforderlich gewesen. Gleiches gilt für die Frage, ob der Beschwerdeführer Kinder hat. Das Bundesverwaltungsgericht trifft hier eine Negativfeststellung mit der Begründung, dass sich weder aus dem Inhalt des ZMR-Auszugs, noch dem sonstigen Vorbringen, noch der Vorlage einer allenfalls vorhandenen Geburtsurkunde diesbezügliche Hinweise ergeben würden. Dass möglicherweise Kinder des Beschwerdeführers im Bundesgebiet leben, findet in der angefochtenen Entscheidung dementsprechend keine Berücksichtigung. Allerdings enthält der als Beweismittel vom Bundesverwaltungsgericht herangezogene Gerichtsakt 53 Hv 30/16t ein klinisch-psychologisches Sachverständigengutachten, welches den Abschlussbericht der Landespolizeidirektion Wien vom 22. Februar 2016 enthält. Darin heißt es im Personalblatt, dass der Beschwerdeführer eine Tochter (10 Jahre) und einen Sohn (14 Jahre) habe. Die Negativfeststellung des Bundesverwaltungsgerichts zu etwaigen Kindern des Beschwerdeführers stellt somit eine Nichtbeachtung eines Beweisergebnisses dar. Die Klärung der familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers wäre durch Befragung in einer mündlichen Verhandlung oder die Aufforderung, die Geburtsurkunden vorzulegen, also durch leicht anstellbare Ermittlungen, möglich gewesen. Dies wäre auch aus Sicht des Art8 EMRK geboten gewesen, weil eine Rückkehrentscheidung, die ohne irgendwelche Ermittlungsschritte in einer entscheidungsrelevanten Frage getroffen wurde, den sich aus dieser Vorschrift ergebenden Rechtmäßigkeitsmaßstäben nicht genügt (vgl. VfGH 3.10.2013, U477/2013).

2.4.    Das Bundesverwaltungsgericht macht widersprüchliche Feststellungen. Mit der Begründung, dass für der Beschwerdeführer in den Zeiträumen zwischen 6. Dezember 1990 und 11. Februar 1991, 31. Juli 1993 und 9. November 1999, 29. April 2005 und 26. Oktober 2005 sowie 28. November 2006 und 1. Mai 2007 keine Meldung im Bundesgebiet vorliege, kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, dass nicht festgestellt werden könne, ob sich der Beschwerdeführer seit nunmehr 30 Jahren durchgehend im Bundesgebiet aufhalte. Zugleich wird aber festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet (ab 3. September 1990) die Pflichtschule besucht und im Anschluss daran eine Lehre als Maler und Anstreicher absolviert habe. Eine Negativfeststellung darüber, ob sich der Beschwerdeführer im Zeitraum vom 6. Dezember 1990 bis 11. Februar 1991 bzw. vom 31. Juli 1993 bis 9. November 1999 im Bundesgebiet aufgehalten hat, lässt sich mit der gleichzeitigen Feststellung, dass dieser ab September 1990 in Österreich die Schule besucht habe, nicht vereinbaren. Auch in dieser im Hinblick auf §9 Abs4 BFA-VG iVm Art8 EMRK relevanten Frage hätte durch leicht anstellbare Ermittlungen Klarheit geschaffen werden können.

2.5.    Bei all dem ist nicht nachvollziehbar, warum sich das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Verhängung eines Einreiseverbotes auf die Ergebnisse einer mündlichen Verhandlung beruft, wurde eine solche doch überhaupt nicht durchgeführt.

3.       Indem das Bundesverwaltungsgericht jegliche Ermittlungstätigkeit in entscheidungsrelevanten Punkten unterlässt, sich stattdessen mit Spekulationen begnügt und in nicht vertretbarer Weise davon ausgeht, dass die Voraussetzung eines hinreichend geklärten Sachverhalts für die Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung vorliegt, hat es das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl. VfGH 11.3.2015, E1884/2014, 30.6.2016, E812/2016).

IV.      Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerde-vorbringen einzugehen ist.

2.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Fremdenrecht, Fremdenpolizei, Rückkehrentscheidung, Einreiseverbot, Ermittlungsverfahren, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:E2007.2017

Zuletzt aktualisiert am

20.11.2017
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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